Dostojewski Fjodor Michailowitsch. "Der Idiot". Dritter Teil

I

Es wird bei uns fortwährend darüber geklagt, daß es keine Praktiker gebe; Politiker zum Beispiel gebe es eine Menge, desgleichen eine Menge von Generalen; auch könne man Direktoren aller Art auf der Stelle so viele finden, als man nur irgend wolle; aber an Praktikern mangle es. Wenigstens ist es die allgemeine Klage, daß es daran mangle. Selbst bei manchen Eisenbahnen ist, wie man sagt, kein ordentliches Personal vorhanden; bei einer Dampfschiffahrts-Gesellschaft einen halbwegs erträglichen Betrieb herzustellen, ist, wie es heißt, ein Ding der Unmöglichkeit. An einer Stelle sind, wie man hört, auf einer neu eröffneten Strecke ein paar Züge zusammengestoßen oder mit einer zusammenbrechenden Brücke hinabgestürzt; an einer andern Stelle hat, wie man in der Zeitung liest, ein Zug mitten in einem Schneefeld beinah überwintern müssen: die Passagiere waren ausgefahren in der Erwartung, daß die Fahrt einige Stunden dauern werde, und mußten fünf Tage im Schnee zubringen. Wieder an einer andern Stelle faulen, wie erzählt wird, viele tausend Pud Ware auf ein und demselben Fleck, zwei, drei Monate lang in Erwartung des Abtransports, und der betreffende Expedient hat dem Vernehmen nach (es ist übrigens kaum zu glauben) dem kaufmännischen Kommis, der auf die Absendung seiner Ware drang, statt sein Verlangen zu erfüllen, einen Schlag ins Gesicht versetzt und dann sein Benehmen damit entschuldigt, daß er sagte, er sei »in Eifer geraten«. Im Staatsdienst haben wir, wie es scheint, so viele Ämter, daß es einem angst und bange wird, wenn man nur daran denkt; alle Leute haben Ämter bekleidet, tun es jetzt oder beabsichtigen, es zu tun; warum ist es da nicht möglich, aus einem so großen Menschenmaterial ein anständiges Betriebspersonal bei einer Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft zu bilden?

Auf diese Frage wird manchmal eine sehr einfache Antwort gegeben, eine so einfache Antwort, daß eine solche Erklärung kaum für richtig gehalten werden kann. Man sagt nämlich: allerdings haben bei uns alle Leute Ämter bekleidet oder tun es noch, und dieser Zustand dauert nun nach dem schönsten deutschen Vorbild schon zweihundert Jahre, von den Urgroßvätern bis zu den Urenkeln; aber gerade die Beamten sind ja die unpraktischsten Menschen, und es ist so weit gekommen, daß das rein abstrakte Wissen und der Mangel an praktischen Kenntnissen sogar unter den Beamten selbst noch vor kurzem fast als die größte Tugend und Empfehlung galt. Übrigens sind wir zweckloserweise auf die Beamten zu reden gekommen; wir wollten eigentlich von Praktikern sprechen. Auf diesem Gebiet unterliegt es keinem Zweifel, daß Schüchternheit und völliger Mangel an eigener Initiative dauernd bei uns als das wichtigste und beste Merkmal eines Praktikers gegolten haben und sogar noch heutzutage dafür gelten. Aber wozu sollen wir nur uns selbst beschuldigen – wenn anders es eine Beschuldigung ist, von jemand zu sagen, daß er diese Anschauung hat? Der Mangel an Originalität hat überall in der ganzen Welt von den Urzeiten her immer für die vorzüglichste Eigenschaft und beste Empfehlung eines tüchtigen Geschäftsmannes und Praktikers gegolten, und mindestens neunundneunzig Prozent der Menschen (das ist sogar noch ein sehr niedriger Ansatz) sind immer dieser Ansicht gewesen, und immer nur vielleicht ein Prozent urteilte und urteilt darüber anders.

Erfinder und Genies sind sehr oft beim Beginn ihrer Laufbahn (und sehr oft auch am Ende derselben) für nichts anderes als für Dummköpfe gehalten worden; das ist eine ganz geläufige Beobachtung, eine allgemein bekannte Tatsache. Wenn zum Beispiel mehrere Jahrzehnte lang alle Leute ihr Geld nach der Leihbank trugen und Milliarden dorthin zusammenschleppten, die ihnen mit vier Prozent verzinst wurden, so mußte selbstverständlich, als die Leihbank abgeschafft wurde und alle sich auf ihre eigene Initiative angewiesen sahen, der größte Teil jener Milliarden unfehlbar im Aktienfieber und in den Händen von Gaunern untergehen – und das forderten sogar der Anstand und die gute Sitte. Namentlich die gute Sitte; wenn eine wohlgesittete Schüchternheit und ein wohlanständiger Mangel an Originalität bei uns bisher nach der allgemeinen Anschauung eine unerläßliche Eigenschaft eines tüchtigen, ordentlichen Menschen bildeten, so wäre es geradezu ungehörig und unschicklich, sich plötzlich zu ändern. Welche Mutter zum Beispiel, die ihr Kind zärtlich liebt, wird nicht einen Schreck bekommen und vor Angst krank werden, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter auch nur ein wenig das gewohnte Geleise verläßt? »Nein«, denkt jede Mutter, die ihr Kind in Schlaf wiegt, »mag es lieber ohne Originalität glücklich sein und zufrieden leben!« Und wenn unsere Kinderfrauen die Kinder in der Wiege schaukeln, so sprechen und singen sie dabei seit undenklichen Zeiten: »In goldenen Kleidern wirst du gehen, ›Exzellenz‹ wird man zu dir sagen!« Somit galt auch bei unseren Kinderfrauen der Generalsrang von jeher für den Gipfelpunkt russischen Glücks und war also das populärste nationale Ideal eines schönen, ruhigen, seligen Daseins. Und in der Tat: wer, der sein Examen auch nur mittelmäßig bestanden und dann fünfunddreißig Jahre gedient hatte, konnte bei uns nicht schließlich Exzellenz werden und sich eine erkleckliche Summe auf der Bank zusammensparen? Auf diese Weise erlangte der Russe fast ohne alle Anstrengung schließlich eine Stellung, wie sie eigentlich nur einem tüchtigen, praktischen Menschen zukommt. Wahrhaftig, eine Unmöglichkeit, Exzellenz zu werden, bestand bei uns nur für einen originellen Menschen, mit andern Worten: für einen unruhigen Kopf. Vielleicht liegt hier bis zu einem gewissen Grade ein Mißverständnis vor; aber im allgemeinen scheint es doch zuzutreffen, und unsere Gesellschaft war vollkommen berechtigt, sich ihr Ideal eines praktischen Menschen in dieser Weise zu gestalten. Indessen wir haben vieles gesagt, was nicht hierhergehört; wir wollten eigentlich nur ein paar erklärende Worte über die uns bekannte Familie Jepantschin sagen. Diese Leute oder wenigstens diejenigen Familienmitglieder, die am meisten zum Nachdenken veranlagt waren, litten beständig an einer ihnen fast allen gemeinsamen Familieneigenschaft, die denjenigen Tugenden, über die wir soeben gesprochen haben, gerade entgegengesetzt war. Ohne diese Tatsache völlig zu verstehen (weil das eben seine Schwierigkeiten hatte), hatten sie doch manchmal einen Argwohn, daß in ihrer Familie alles nicht so zugehe wie bei andern Leuten. Bei allen andern Leuten ging es glatt, bei ihnen haperte es; alle andern fuhren im hergebrachten Geleise, sie dagegen sprangen alle Augenblicke aus dem Geleise heraus. Alle andern zeigten stets eine wohlanständige Schüchternheit, sie nicht. Lisaweta Prokofjewna war allerdings sogar im Übermaß ängstlich; aber es war dies nicht jene wohlanständige, zum guten Ton gehörige Ängstlichkeit, die ihnen so erstrebenswert schien. Übrigens war Lisaweta Prokofjewna vielleicht die einzige, die sich darüber beunruhigte: die Mädchen waren noch jung, wiewohl ein sehr scharfsinniges Völkchen mit Neigung zur Ironie; der General aber besaß zwar Verständnis (allerdings ein langsames und schwerfälliges), sagte aber in schwierigen Fällen nur: »Hm!«, und setzte schließlich seine ganze Zuversicht auf Lisaweta Prokofjewna. Auf ihr ruhte also die Verantwortung. Nicht als ob diese Familie sich durch irgendeine besondere Initiative ausgezeichnet hätte oder infolge eines bewußten Hanges zur Originalität aus dem Geleise gesprungen wäre, was sich ja freilich mit der Schicklichkeit ganz und gar nicht vertragen hätte. O nein! Das war wirklich nicht der Fall; das heißt, es lag bei ihnen keine bewußte Absicht vor; aber dennoch kam es schließlich so heraus, daß die Familie Jepantschin trotz all ihrer Respektabilität von anderer Art war, als respektable Familien sein müssen. In letzter Zeit hatte Lisaweta Prokofjewna angefangen, die Schuld an alledem lediglich sich und ihrem »unglücklichen« Charakter beizumessen, wodurch ihre Leiden nur noch vermehrt wurden. Sie selbst nannte sich alle Augenblicke »eine dumme, taktlose Person, eine verdrehte Schraube«, quälte sich mit ihrem Mißtrauen, war beständig außer sich, fand bei ganz gewöhnlichen Dingen, die ihr zustießen, keinen Ausweg und übertrieb fortwährend das Unglück.

Schon zu Beginn unserer Erzählung haben wir erwähnt, daß Jepantschins sich allgemeiner, aufrichtiger Hochachtung erfreuten. Sogar der General Iwan Fjodorowitsch selbst, ein Mann von geringer Herkunft, wurde überall ohne Sträuben achtungsvoll empfangen. Diese Achtung verdiente er erstens wegen seines Reichtums und seiner hohen Stellung und zweitens als ein durchaus ordentlicher, wenn auch nicht geistreicher Mann. Aber eine gewisse Stumpfheit des Geistes bildet ja, wie es scheint, eine notwendige Eigenschaft, wenn nicht eines jeden tätigen Arbeiters, so doch wenigstens eines jeden, der ernstlich auf Gelderwerb bedacht ist. Endlich besaß der General gute Manieren, war bescheiden, verstand zu schweigen, gleichzeitig aber auch, sich nichts bieten zu lassen, und zwar nicht allein mit Rücksicht auf seinen Generalsrang, sondern auch als ehrenhafter, anständiger Mensch. Das Allerwichtigste war, daß er sich starker Protektion erfreute. Was Lisaweta Prokofjewna anlangt, so stammte sie, wie schon oben dargelegt ist, aus einem vornehmen Geschlecht, wiewohl man bei uns auf solche Herkunft keinen großen Wert legt, wenn nicht die notwendigen Konnexionen hinzukommen. Aber auch an denen fehlte es ihr nicht; sie wurde von so hohen Persönlichkeiten geachtet, ja geliebt, daß nach deren Vorgang natürlich auch alle andern sie achten und empfangen mußten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ihre Qualen mit Bezug auf ihre Familie keinen rechten Anlaß hatten, einer ernsten Ursache ermangelten und in komischer Weise übertrieben waren; aber wenn jemand auf der Nase oder auf der Stirn eine Warze hat, so meint er immer, alle Leute hätten auf der Welt nichts anderes zu tun, als seine Warze anzusehen, darüber zu spotten und ihn deswegen geringzuschätzen, selbst wenn er sich durch die Entdeckung von Amerika verdient gemacht habe. Es ist auch nicht daran zu zweifeln, daß man in der Gesellschaft Lisaweta Prokofjewna wirklich für »eine verdrehte Schraube« hielt; indes genoß sie trotzdem unstreitig alle Achtung; aber Lisaweta Prokofjewna mochte zuletzt an diese Achtung nicht mehr glauben – und das war der ganze Schade. Wenn sie ihre Töchter ansah, so quälte sie sich mit dem Verdacht, sie schädige fortwährend den Lebensweg derselben durch irgend etwas, sie habe einen lächerlichen, taktlosen, unerträglichen Charakter; aber natürlich beschuldigte sie unaufhörlich ihre Töchter und Iwan Fjodorowitsch und zankte sich ganze Tage lang mit ihnen herum, obwohl sie sie gleichzeitig leidenschaftlich und bis zur Selbstvergessenheit liebte.

Am meisten quälte sie die Befürchtung, ihre Töchter könnten ebenso »verdrehte Schrauben« werden wie sie; solche Mädchen wie die ihrigen, meinte sie, gebe es auf der ganzen Welt nicht mehr und könne es auch gar nicht mehr geben. »Sie werden die reinen Nihilistinnen, das ist's!« sagte sie alle Augenblicke bei sich im stillen. Im letzten Jahr und besonders in der allerletzten Zeit hatte sich dieser traurige Gedanke immer mehr und mehr bei ihr festgesetzt. »Erstens, warum verheiraten sie sich nicht?« fragte sie sich fortwährend. »Um ihre Mutter zu ärgern; darin sehen sie ihren Lebenszweck, und das kommt natürlich alles von den neuen Ideen und der verdammten Frauenfrage her! Kam nicht Aglaja vor einem halben Jahr auf den Einfall, sich ihr prächtiges Haar abzuschneiden? (O Gott, solches Haar habe ich in meiner Jugend nicht gehabt!) Sie hatte ja sogar schon die Schere in der Hand, und ich habe sie auf den Knien bitten müssen, es doch zu unterlassen ...! Na, die hat das allerdings aus Bosheit getan, um ihre Mutter zu quälen; denn sie ist ein boshaftes, eigenwilliges, verzogenes Mädchen, vor allem boshaft, boshaft, boshaft! Aber wollte nicht diese behäbige Alexandra es ihr nachmachen und sich ebenfalls ihre Zotteln abschneiden? Und die nicht aus Bosheit und nicht aus Laune, sondern in aufrichtiger Dummheit, weil Aglaja ihr eingeredet hatte, sie werde ohne Haar besser schlafen und keine Kopfschmerzen mehr haben. Und wie viele, viele Bewerber haben sie nicht in diesen fünf Jahren gehabt? Und es waren doch wirklich nette Männer darunter, sogar ganz prächtige Männer! Worauf warten sie denn noch? Warum heiraten sie nicht? Nur um ihre Mutter zu ärgern – das ist der einzige Grund! Der einzige! Der einzige!«

 

Endlich ging nun auch für ihr Mutterherz die Freudensonne auf: es war Aussicht, daß wenigstens eine Tochter, Adelaida, endlich unter die Haube kommen werde. »Wenigstens eine werde ich loswerden«, sagte Lisaweta Prokofjewna, wenn es sich traf, daß sie laut darüber sprach (im stillen drückte sie sich sehr viel zärtlicher aus). Und in wie netter, schicklicher Weise sich die ganze Sache gemacht hatte; selbst in den Kreisen der vornehmen Welt wurde davon mit Achtung gesprochen. Der Bräutigam war eine allgemein bekannte Persönlichkeit, ein Fürst, mit bedeutendem Vermögen, ein guter Mensch und ihr von Herzen zugetan: was konnte man sich noch Besseres denken? Aber für Adelaida hatte sie auch früher weniger Befürchtungen gehegt als für die andern Töchter, wiewohl ihre künstlerischen Neigungen dem stets von Zweifeln geplagten Mutterherzen Lisaweta Prokofjewnas manchmal bedenklich gewesen waren. »Dafür hat sie ein heiteres Gemüt und außerdem viel Verstand – also wird das Mädchen nicht zugrundegehen«, tröstete sie sich schließlich. Um Aglaja ängstigte sie sich am allermeisten. Beiläufig gesagt, was die älteste, Alexandra, betraf, so wußte Lisaweta Prokofjewna selbst nicht, wie sie sich in bezug auf diese verhalten sollte: sollte sie sich um sie ängstigen oder nicht? Manchmal schien es ihr, als sei mit dem Mädchen »schon alles vorbei«; sie sei fünfundzwanzig Jahre alt, also werde sie sitzenbleiben. Und »bei solcher Schönheit«! Lisaweta Prokofjewna weinte sogar nachts um sie, während Alexandra Iwanowna zur selben Zeit sehr ruhig schlief. »Was ist sie denn eigentlich? Eine Nihilistin oder einfach dumm?« Daß sie übrigens nicht dumm war, davon war auch Lisaweta Prokofjewna durchaus überzeugt; sie legte auf Alexandra Iwanownas Urteil hohen Wert und beriet sich gern mit ihr. Aber daß sie »eine Suse« war, daran konnte kein Zweifel sein; »sie ist von einer solchen Seelenruhe, daß man sie gar nicht aufrütteln kann! Übrigens ist es mit der Seelenruhe auch bei solchen Susen manchmal nicht weit her – na! Ich bin an meinen Töchtern wirklich ganz irre geworden!« Lisaweta Prokofjewna empfand für Alexandra Iwanowna eine Art von unerklärlicher, mitleidiger Sympathie, in noch höherem Grade selbst als für Aglaja, die ihr Abgott war. Aber ihre galligen Bemerkungen (in denen im wesentlichen nur ihre mütterliche Sorge und Liebe zum Ausdruck kamen), ihre Sticheleien und solche Bezeichnungen wie »eine Suse« brachten Alexandra nur zum Lachen. Es kam mitunter so weit, daß Lisaweta Prokofjewna über die nichtigsten Dinge furchtbar zornig wurde und außer sich geriet. So zum Beispiel liebte Alexandra Iwanowna es, lange zu schlafen, wobei sie viel träumte; aber ihre Träume zeichneten sich stets durch eine außerordentliche Harmlosigkeit und Naivität aus, ganz wie bei einem siebenjährigen Kind, und da hatte selbst diese Naivität der Träume wunderlicherweise die Wirkung, die Mama in eine gereizte Stimmung zu versetzen. Einmal hatte Alexandra Iwanowna von neun Hennen geträumt, und hieraus entstand ein wirklicher Streit zwischen ihr und der Mutter; warum, war schwer zu sagen. Ein andermal, nur ein einziges Mal, glückte es ihr, daß sie einen einigermaßen originellen Traum hatte: sie träumte von einem Mönch in einem dunklen Zimmer, in welches hineinzugehen sie sich fürchtete. Der Traum wurde von den beiden andern Schwestern sofort unter großem Gelächter triumphierend der Mutter mitgeteilt; aber diese wurde wieder ärgerlich und nannte sie alle drei Dummköpfe. »Hm! Sie besitzt die Seelenruhe eines Dummkopfs, sie ist eine vollständige Suse und läßt sich nicht aufrütteln; aber dabei ist sie doch traurig und sieht manchmal ganz trübselig aus! Worüber mag sie sich grämen? Ja, worüber?« Mitunter richtete sie diese Frage auch an Iwan Fjodorowitsch, und zwar nach ihrer Gewohnheit in großer Erregung, in drohendem Ton und in Erwartung einer unverzüglichen Antwort. Iwan Fjodorowitsch sagte: »Hm!«, machte ein finsteres Gesicht, zuckte mit den Schultern und gab endlich, die Arme ausbreitend, sein Urteil dahin ab:

»Sie muß einen Mann bekommen!«

»Nur wolle Gott ihr nicht einen solchen bescheren, wie Sie einer sind, Iwan Fjodorowitsch!« explodierte Lisaweta Prokofjewna plötzlich wie eine Bombe. »Nicht einen mit solchen Anschauungen und Urteilen wie Sie, Iwan Fjodorowitsch; nicht einen solchen groben Grobian wie Sie, Iwan Fjodorowitsch ...«

Iwan Fjodorowitsch machte schleunigst, daß er davonkam, und Lisaweta Prokofjewna beruhigte sich nach dieser »Explosion«. Selbstverständlich war sie am Abend dieses Tages besonders liebenswürdig, sanft, freundlich und respektvoll gegen Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren »groben Grobian« Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren guten, lieben, vergötterten Iwan Fjodorowitsch; denn in Wirklichkeit liebte sie ihren Iwan Fjodorowitsch ihr ganzes Leben lang, ja sie war in ihn sogar verliebt, was Iwan Fjodorowitsch selbst genau wußte, der auch seinerseits seine Lisaweta Prokofjewna außerordentlich hochschätzte.
Aber die ärgste Qual bereitete ihr beständig Aglaja.

»Sie ist ganz, aber auch ganz wie ich, mein Ebenbild in jeder Beziehung«, sagte Lisaweta Prokofjewna bei sich im stillen, »ein eigenwilliger, abscheulicher Unhold! Eine Nihilistin, eine verdrehte Schraube, verrückt, boshaft, boshaft, boshaft! O Gott, wie unglücklich wird sie werden!«

Aber, wie schon gesagt, die aufgehende Freudensonne besänftigte und erhellte alles für eine Weile. Infolgedessen gab es in Lisaweta Prokofjewnas Leben fast einen ganzen Monat, in dem sie sich von aller Unruhe wieder völlig erholte. Anläßlich der nahe bevorstehenden Hochzeit Adelaidas wurde in den vornehmen Kreisen auch über Aglaja viel gesprochen, und dabei benahm sich Aglaja überall ganz vortrefflich, ruhig, verständig, auch etwas siegesgewiß und stolz; aber das stand ihr ja gerade gut! Den ganzen Monat über war sie so freundlich und liebenswürdig gegen ihre Mutter! (»Allerdings, diesen Jewgeni Pawlowitsch muß man sich noch sehr, sehr genau ansehen und gründlich kennenlernen; Aglaja scheint ja auch an ihm nicht sehr viel mehr Gefallen zu finden als an andern!«) Sie war auf einmal ein so prächtiges Mädchen geworden; und wie schön sie war, o Gott, wie schön, von Tag zu Tag wurde sie schöner! Und da ...

Und da war nun soeben dieser gräßliche Fürst wieder erschienen, dieser jämmerliche Idiot, und alles war wieder in Unruhe geraten, alles ging wieder im Haus drunter und drüber!

Was war denn eigentlich geschehen?

Andere hätten wohl kaum gespürt, daß etwas Besonderes vorgegangen sei. Aber Lisaweta Prokofjewna zeichnete sich eben dadurch aus, daß sie in dem bunten Durcheinander der gewöhnlichsten Dinge bei ihrer steten Unruhe immer etwas herausfand, was sie manchmal mit einer geradezu krankhaften Angst, mit einer unerklärlichen, argwöhnischen und infolgedessen höchst peinlichen Furcht erfüllte. Wie mußte ihr da zumute sein, als jetzt plötzlich aus der ganzen wüsten Menge lächerlicher, unbegründeter Befürchtungen wirklich etwas herausschaute, was tatsächlich wichtig zu sein schien, etwas, was tatsächlich zu Beunruhigung, Zweifel und Argwohn Anlaß gab!

»Wie hat nur jemand wagen können, wie hat nur jemand wagen können, mir diesen verdammten anonymen Brief über diese ›Kreatur‹ zu schreiben, mir zu schreiben, daß sie mit Aglaja Beziehungen unterhalte?« dachte Lisaweta Prokofjewna auf dem ganzen Weg, während sie den Fürsten hinter sich herzog, und zu Hause, als sie ihn an dem runden Tisch Platz nehmen ließ, um den die ganze Familie versammelt war; »wie hat sich nur jemand so etwas zuschulden lassen können? Ich müßte mich ja totschämen, wenn ich auch nur die Spur davon glaubte oder diesen Brief Aglaja zeigte! Solcher Hohn und Spott uns gegenüber, der Familie Jepantschin gegenüber! Und alles um Iwan Fjodorowitschs willen, alles um Ihretwillen, Iwan Fjodorowitsch! Ach, warum sind wir nicht nach Jelagin gegangen; ich sagte ja, wir sollten nach Jelagin ziehen! Den Brief hat vielleicht Warja geschrieben, denke ich mir, oder vielleicht ... Aber an allem, an allem ist Iwan Fjodorowitsch schuld! Diesen Streich neulich hat ihm diese Kreatur in Erinnerung an ihre früheren Beziehungen gespielt, um ihn zu blamieren, gerade wie sie sich früher über den Dummkopf lustig machte und ihn an der Nase herumführte, als er ihr noch Perlen schenkte ... Und nun werden wir schließlich auch noch mit hineingezogen, Ihre Töchter werden mit hineingezogen, Iwan Fjodorowitsch, junge Damen, die zur besten Gesellschaft gehören und in heiratsfähigem Alter stehen; die sind da mit dabei gewesen, haben dabeigestanden, haben alles mitangehört; und auch bei der Geschichte mit den dummen Burschen sind sie zugegen gewesen (freuen Sie sich doch!), auch da sind sie dabei gewesen und haben zugehört! Ich werde das diesem Menschen, dem Fürsten, nicht verzeihen; nein, niemals werde ich ihm das verzeihen! Und warum ist Aglaja drei Tage lang so nervös gewesen, warum hat sie sich mit ihren Schwestern gezankt, sogar mit Alexandra, der sie sonst immer wie einer Mutter die Hände geküßt hat – so hat sie sie verehrt? Warum gibt sie seit drei Tagen uns allen Rätsel auf? Was hat das mit Gawrila Iwolgin zu bedeuten? Warum hat sie es sich gestern und heute angelegen sein lassen, Gawrila Iwolgin zu loben, und dabei geweint? Warum wird in diesem anonymen Brief dieser verdammte ›arme Ritter‹ erwähnt, während sie den Brief, den sie vom Fürsten bekommen hatte, nicht einmal ihren Schwestern gezeigt hat? Und warum ... weshalb, weshalb bin ich jetzt wie eine Verrückte zu ihm hingerannt und habe ihn selbst hierher geschleppt? O Gott, ich habe wohl den Verstand verloren, daß ich so etwas anrichte! Mit einem jungen Mann von den Geheimnissen meiner Tochter zu reden, und noch dazu ... noch dazu von solchen Geheimnissen, die beinah ihn selbst betreffen! O Gott, es ist noch ein Glück, daß er ein Idiot und ... und ... ein Freund unseres Hauses ist! Aber hat sich Aglaja denn wirklich in einen solchen verdrehten Menschen verlieben können! O Gott, was fasele ich da! Pfui! Wir sind die reinen Originale; man müßte uns alle unter Glas ausstellen, mich zuerst, für zehn Kopeken Entree. Das werde ich Ihnen nicht verzeihen, Iwan Fjodorowitsch; niemals werde ich Ihnen das verzeihen! Und warum nimmt sie ihn sich jetzt nicht gehörig vor? Sie hatte gesagt, daß sie das tun wolle, und nun tut sie es nicht! Da, da, sie sieht ihn mit weitgeöffneten Augen an, schweigt, geht nicht weg, bleibt da, und dabei hatte sie ihm doch selbst verboten herzukommen ... Er sitzt ganz blaß da. Und dieser verdammte, verdammte Schwätzer Jewgeni Pawlowitsch hat das ganze Gespräch an sich gerissen! Sieh mal, wie ihm das Mundwerk geht; keinen andern läßt er zu Wort kommen. Ich würde alles sofort erfahren, wenn ich nur die Rede darauf bringen könnte ...«

 

Der Fürst saß tatsächlich ganz blaß an dem runden Tisch und schien sich gleichzeitig in großer Angst und für Augenblicke in einem ihm selbst unbegreiflichen Wonnerausch zu befinden, der seine Seele ergriffen hatte. Oh, wie er sich fürchtete, nach jener Seite hinzusehen, nach jenem Winkel, von wo zwei wohlbekannte schwarze Augen beharrlich auf ihn gerichtet waren, und wie er gleichzeitig fast verging vor Glückseligkeit darüber, daß er hier wieder unter ihnen saß und die wohlbekannte Stimme hörte – trotz allem, was sie ihm geschrieben hatte! »O Gott, was wird sie jetzt sagen!« Er selbst hatte noch kein einziges Wort gesprochen und hörte mit Anstrengung dem unaufhaltsam redenden Jewgeni Pawlowitsch zu, der sich selten in so zufriedener, angeregter Stimmung befunden hatte wie jetzt an diesem Abend. Der Fürst hörte ihn lange reden und verstand kaum ein Wort. Außer Iwan Fjodorowitsch, der noch nicht aus Petersburg zurückgekehrt war, waren alle vollzählig versammelt. Fürst Schtsch. war ebenfalls anwesend. Wie es schien, hatten sie sich versammelt, um nach einem Weilchen, vor dem Tee, zum Konzert zu gehen. Das jetzige Gespräch war offenbar schon vor der Ankunft des Fürsten in Gang gekommen. Bald darauf schlüpfte auch Kolja in die Veranda herein, ohne daß man gewußt hätte, von wo er kam. »Also wird er hier wie früher empfangen«, sagte sich der Fürst im stillen.
Das Jepantschinsche Landhaus war luxuriös im Schweizerstil gebaut und auf allen Seiten mit Blumen und Blattpflanzen schön geschmückt. Auf allen Seiten war es von einem kleinen, aber hübschen Blumengarten umgeben. Alle saßen in der Veranda wie vor kurzem beim Fürsten; nur war die Veranda etwas geräumiger und eleganter eingerichtet.

Der Gegenstand des Gesprächs, das geführt wurde, schien nicht allen sonderlich zu behagen; dieses Gespräch hatte, wie man merken konnte, seinen Ursprung von einer hitzigen Debatte genommen, und alle hätten gewiß gern das Thema gewechselt; aber Jewgeni Pawlowitsch schien um so eigensinniger an ihm festzuhalten, ohne sich um die Empfindungen der übrigen zu bekümmern, und es war, als ob durch die Ankunft des Fürsten sein Eifer noch erhöht würde. Lisaweta Prokofjewna machte ein finsteres Gesicht, obwohl sie nicht alles verstand. Aglaja, die abseits, fast in einer Ecke, saß, ging nicht fort, hörte zu und schwieg hartnäckig.

»Erlauben Sie«, sagte Jewgeni Pawlowitsch eifrig, »ich sage nichts gegen den Liberalismus. Der Liberalismus ist keine Sünde; er ist ein notwendiger Bestandteil des Ganzen, das ohne ihn zerfallen oder absterben würde; der Liberalismus hat dieselbe Existenzberechtigung wie der bestgesittete Konservatismus. Ich greife vielmehr den russischen Liberalismus an und wiederhole noch einmal, daß ich ihn speziell deswegen angreife, weil in Rußland der Liberale kein russischer Liberaler ist, sondern ein nichtrussischer Liberaler. Zeigen Sie mir einen russischen Liberalen, und ich will mich sogleich vor Ihren Augen mit ihm küssen.«

»Wenn er Sie nur wird küssen wollen«, bemerkte Alexandra Iwanowna, die sich in großer Erregung befand. Selbst ihre Wangen waren röter als sonst.

»Nun sieh mal an!« dachte Lisaweta Prokofjewna. »Sonst schläft und ißt sie nur und ist gar nicht aufzurütteln, und dann richtet sie sich einmal im Jahr auf und redet so lebhaft, daß man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte.«

Der Fürst nahm schon bei flüchtiger Beobachtung wahr, daß es Alexandra Iwanowna stark mißfiel, daß Jewgeni Pawlowitsch in so munterem Ton sprach, nämlich daß er über einen ernsten Gegenstand sprach und anscheinend in Eifer geriet, dabei aber doch scherzte.

»Ich habe soeben kurz vor Ihrer Ankunft, Fürst«, fuhr Jewgeni Pawlowitsch fort, »die Behauptung aufgestellt, daß bei uns bisher die Liberalen nur zwei Gesellschaftsschichten angehört haben: der früheren, jetzt abgeschafften, gutsherrlichen und der seminaristischen. Und da diese beiden Stände sich schließlich in richtige Kasten, in etwas von der Nation völlig Abgesondertes verwandelten, und zwar je länger in um so höherem Grade, von einer Generation zur andern immer mehr, so war und ist auch alles, was sie getan haben und tun, ganz nichtnational ...«

»Wie? Also wäre alles, was auf diesem Gebiet getan worden ist, nicht-russisch?« versetzte Fürst Schtsch.

»Es ist nicht national; obgleich es von Russen getan ist, ist es doch nicht national; weder unsere Liberalen noch unsere Konservativen sind echte Russen, keiner ... Und seien Sie überzeugt, daß die Nation nichts von dem anerkennen wird, was von den Gutsherren und Seminaristen getan ist, weder jetzt noch später ...«

»Nun, das ist ja nett! Wie kannst du nur eine so paradoxe Behauptung verfechten, wenn anders du es überhaupt ernst meinst! Ich kann solchen Angriffen auf den russischen Gutsherrn keine Berechtigung zuerkennen; du selbst bist ja ein russischer Gutsherr!« erwiderte Fürst Schtsch. sehr erregt.

»Ich rede ja von dem russischen Gutsherrn auch nicht in dem Sinn, wie Sie das annehmen. Das ist ein Stand, der alle Achtung verdient, und wär's auch nur deswegen, weil ich zu ihm gehöre; besonders jetzt, wo er aufgehört hat, eine Kaste zu sein ...«

»Hat es etwa auch in der Literatur nichts Nationales gegeben?« unterbrach ihn Alexandra Iwanowna.

»Ich bin mit der Literatur nicht vertraut; aber auch die russische Literatur ist meiner Ansicht nach in ihrem ganzen Umfang nicht-russisch, ausgenommen etwa Lomonosow, Puschkin und Gogol.«

»Erstens ist das gerade nicht wenig, und zweitens stammt einer von ihnen aus dem niederen Volk, und die beiden andern waren Gutsherren«, versetzte Adelaida lachend.

»Ganz richtig; aber triumphieren Sie nicht zu früh! Da es von allen russischen Schriftstellern bisher nur diesen dreien gelungen ist, etwas wirklich Eigenes zu sagen, etwas, was sie von keinem andern entlehnt haben, so sind sie eben dadurch alle drei sofort national geworden. Wenn ein Russe etwas Eigenes sagt, schreibt oder tut, etwas Eigenes, das er von niemand entnommen und entlehnt hat, so wird er unfehlbar national, selbst wenn er schlecht russisch spricht. Das ist für mich ein Axiom. Aber wir sprachen ursprünglich nicht von der Literatur; wir begannen von den Sozialisten zu sprechen, und durch sie hat das Gespräch diesen Gang genommen; nun also, ich behaupte, daß wir keinen einzigen russischen Sozialisten haben; es gibt keinen und hat keinen gegeben, weil alle unsere Sozialisten aus den Gutsherren oder Seminaristen hervorgegangen sind. Alle unsere bekanntesten, renommiertesten Sozialisten, sowohl die hiesigen als die im Ausland lebenden, sind weiter nichts als liberale Gutsherren aus den Zeiten der Leibeigenschaft. Warum lachen Sie? Geben Sie mir ihre Bücher, ihre Lehren, ihre Memoiren, und obgleich ich kein zünftiger Kritiker bin, mache ich mich anheischig, Ihnen eine überzeugende Kritik abzufassen, in der ich sonnenklar beweisen werde, daß jede Seite ihrer Bücher, Broschüren und Memoiren mit höchster Wahrscheinlichkeit von einem früheren russischen Gutsherrn geschrieben ist. Ihr Zorn, ihre Entrüstung, ihr Witz, alles weist auf Gutsherren als Verfasser hin (sogar auf solche von der Art Famusows); nicht minder ihr Entzücken, ihre Tränen, die vielleicht wahr und echt sind. Alles stimmt zu Gutsherren, oder auch zu Seminaristen ... Sie lachen wieder, und auch Sie lachen, Fürst? Sind auch Sie nicht meiner Meinung?«

In der Tat lachten alle; auch der Fürst lächelte.

»Ich kann noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich Ihrer Meinung bin oder nicht«, erwiderte der Fürst, indem er plötzlich aufhörte zu lächeln und wie ein ertappter Schuljunge zusammenfuhr. »Aber ich versichere Ihnen, daß ich Ihnen mit außerordentlichem Vergnügen zuhöre ...« Als er dies sagte, konnte er kaum Luft holen, und es trat ihm sogar kalter Schweiß auf die Stirn. Dies waren die ersten Worte, die er sprach, seit er sich hingesetzt hatte. Er wollte den Versuch machen, sich im Kreis der Anwesenden umzuschauen; aber er wagte es nicht; Jewgeni Pawlowitsch hatte seine Kopfbewegung bemerkt und lächelte.

»Ich werde Ihnen eine Tatsache mitteilen, meine Herrschaften«, fuhr er in dem früheren Ton fort, das heißt scheinbar mit großem Eifer und großer Wärme, gleichzeitig aber beinah lachend, vielleicht über seine eigenen Worte, »eine Tatsache, eine Beobachtung, sogar eine Entdeckung, die ich die Ehre habe, mir selbst zuzuschreiben und sogar mir ganz allein; wenigstens ist darüber nirgends etwas gesagt oder geschrieben worden. In dieser Tatsache kommt das ganze Wesen jener Art von russischem Liberalismus, von der ich rede, zum Ausdruck. Erstens: was ist denn der Liberalismus, allgemein gesprochen, anderes als ein Angriff (ob ein vernünftiger oder irrtümlicher, das ist eine andere Frage) auf die bestehende Ordnung der Dinge? Nicht wahr? Die von mir beobachtete Tatsache besteht nur darin, daß der russische Liberalismus nicht ein Angriff auf die bestehende Ordnung der Dinge ist, sondern ein Angriff auf das Wesen unserer Dinge selbst, auf die Dinge selbst und nicht nur auf ihre Ordnung, ein Angriff nicht auf russische Einrichtungen, sondern auf Rußland selbst. Mein Liberaler ist dahin gelangt, die Existenzberechtigung Rußlands selbst zu verneinen, das heißt, er haßt und schlägt seine eigene Mutter. Alles, was in Rußland unglücklich ausfällt und mißlingt, bringt ihn zum Lachen und versetzt ihn beinah in Entzücken. Er haßt die Volkssitten, die russische Geschichte und alles. Wenn es für ihn eine Entschuldigung gibt, so kann sie höchstens darin bestehen, daß er nicht weiß, was er tut, und seinen Haß gegen Rußland für den fruchtbarsten Liberalismus hält (oh, Sie können bei uns nicht selten einen Liberalen finden, dem die übrigen Beifall klatschen, und der vielleicht in Wirklichkeit der abgeschmackteste, stumpfsinnigste und gefährlichste Konservative ist, ohne selbst eine Ahnung davon zu haben!). Diesen Haß gegen Rußland hielten noch vor nicht allzu langer Zeit manche unserer Liberalen beinah für die wahre Vaterlandsliebe und rühmten sich, besser als andere Leute einzusehen, worin diese bestehen müsse; aber jetzt sind sie schon aufrichtiger geworden und haben sich sogar des Wortes ›Vaterlandsliebe‹ zu schämen angefangen, ja sogar den Begriff als einen nichtigen und schädlichen ausgemerzt und entfernt. Das ist eine sichere Tatsache, die ich verbürgen kann ... es muß doch einmal die Wahrheit vollständig, schlicht und aufrichtig ausgesprochen werden. Ein solches Verhalten des Liberalismus ist aber seit Menschengedenken nie und bei keinem Volk vorgekommen, und es mag daher etwas Zufälliges sein und vielleicht vorübergehen, das will ich zugeben. Ein Liberaler, der einen Haß auf sein eigenes Vaterland hätte, ist in keinem andern Land möglich. Wodurch läßt sich nun diese Erscheinung bei uns erklären? Durch denselben Gedanken, den ich schon vorhin aussprach: dadurch, daß der Liberale in Rußland vorläufig noch nicht ein russischer Liberaler ist; meiner Ansicht nach ist das die einzig mögliche Erklärung.«

»Ich fasse alles, was du gesagt hast, als Scherz auf, Jewgeni Pawlowitsch«, bemerkte Fürst Schtsch. in ernstem Ton.

»Ich habe nicht alle Liberalen kennengelernt und erlaube mir daher kein Urteil«, sagte Alexandra Iwanowna. »Aber ich bin über Ihre Darlegung ganz empört; Sie haben einen vereinzelten Fall genommen und eine allgemeine Regel daraus gemacht; Sie haben folglich verleumdet.«

»Einen vereinzelten Fall? Ah, ah! Das ist ein wichtiger Ausdruck, den Sie da gebraucht haben!« versetzte Jewgeni Pawlowitsch. »Wie denken Sie darüber, Fürst? Ist es ein vereinzelter Fall oder nicht?«

»Ich muß ebenfalls bekennen, daß ich nur wenige Liberale kennengelernt und nur wenig mit ihnen verkehrt habe«, antwortete der Fürst. »Aber es scheint mir, daß Sie vielleicht bis zu einem gewissen Grade recht haben, und daß dieser russische Liberalismus, von dem Sie gesprochen haben, tatsächlich teilweise dazu neigt, Rußland selbst zu hassen und nicht nur dessen Einrichtungen. Natürlich wird das nur teilweise zutreffen und kann gerechterweise nicht von allen Liberalen gesagt werden.«

Er stockte und sprach seine Gedanken nicht weiter aus. Trotz all seiner Aufregung war ihm das Gespräch sehr interessant. Einen besonderen Charakterzug bildete bei ihm die große Naivität, mit der er immer zuhörte, wenn ihn etwas interessierte, und die nicht mindere Naivität, mit der er antwortete, wenn dabei Fragen an ihn gerichtet wurden. Diese Naivität, dieses Vertrauen, das keinen Spott und keine scherzhafte Erwiderung von seiten des andern befürchtete, spiegelten sich in seinem Gesicht wider und kamen sogar in seiner Körperhaltung zum Ausdruck. Aber obgleich Jewgeni Pawlowitsch sich sonst immer nur mit einem besonderen Lächeln an ihn wendete, so blickte er ihn jetzt bei dieser Antwort doch sehr ernst an, als ob er eine solche Antwort von ihm in keiner Weise erwartet hätte.

»So ...! aber das ist doch seltsam«, sagte er. »War diese Antwort wirklich ernst gemeint, Fürst?«

»Hatten Sie denn nicht im Ernst gefragt?« erwiderte dieser erstaunt.

Alle lachten.

»Trauen Sie dem!« sagte Adelaida. »Jewgeni Pawlowitsch hat immer alle Leute zum besten! Wenn Sie wüßten, was für Dinge er manchmal mit dem größten Ernst erzählt!«

»Meiner Ansicht nach ist das Gespräch peinlich, und wir hätten es gar nicht anfangen sollen«, bemerkte Alexandra in scharfem Ton. »Wir wollten doch spazierengehen ...«

»Gehen wir! Der Abend ist wunderschön!« rief Jewgeni Pawlowitsch. »Aber um Ihnen zu beweisen, daß ich dieses Mal ganz ernst geredet habe, und namentlich um es dem Fürsten zu beweisen (Sie interessieren mich außerordentlich, Fürst, und ich schwöre Ihnen: ein so oberflächlicher Mensch, wie es notwendigerweise den Anschein hat, bin ich denn doch nicht, wiewohl ich wirklich oberflächlich bin!), zu diesem Zweck, meine Herrschaften, möchte ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis dem Fürsten noch eine letzte Frage vorlegen, aus reiner Neugier, und damit wollen wir dann die Sache abgetan sein lassen. Diese Frage ist mir, was sich sehr gut trifft, vor zwei Stunden in den Kopf gekommen (sehen Sie wohl, Fürst, auch ich denke manchmal über ernste Dinge nach); ich habe sie mir beantwortet; aber wir wollen sehen, was der Fürst dazu sagt. Es war soeben von einem ›vereinzelten Fall‹ die Rede. Dieser Ausdruck hat bei uns in Rußland eine große Wichtigkeit erlangt, und man hört ihn recht oft. Neulich redeten und schrieben alle Leute von jenem schrecklichen Mord, den ein junger Mann an sechs Menschen begangen hatte, und von der seltsamen Rede des Verteidigers, in der dieser gesagt hatte, dem Verbrecher habe bei seinen ärmlichen Verhältnissen ›naturgemäß‹ der Gedanke in den Kopf kommen müssen, diese sechs Menschen zu ermorden. Das war wohl nicht der Wortlaut, aber der Sinn war doch dieser oder ein ähnlicher. Meiner persönlichen Ansicht nach war der Verteidiger, als er diese sonderbare Anschauung vorbrachte, der festen Überzeugung, den liberalsten, humansten, fortschrittlichsten Gedanken ausgesprochen zu haben, den man nur überhaupt in unserer Zeit äußern kann. Nun also, wie verhält es sich damit Ihrer Ansicht nach: ist diese Verdrehung der Begriffe und Meinungen, die Möglichkeit einer so merkwürdig schiefen Auffassung der Sache ein vereinzelter Fall oder die Regel?«
Alle lachten.

»Ein vereinzelter Fall; selbstverständlich ein vereinzelter Fall!« riefen Alexandra und Adelaida lachend.

»Mit deiner Erlaubnis möchte ich dich daran erinnern, Jewgeni Pawlowitsch«, fügte Fürst Schtsch. hinzu, »daß dein Scherz schon sehr abgenutzt ist.«

»Wie denken Sie darüber, Fürst?« fragte, ohne darauf hinzuhören, Jewgeni Pawlowitsch, welcher wahrnahm, daß ihn Fürst Ljow Nikolajewitsch mit ernstem Interesse anblickte. »Was meinen Sie: war das ein vereinzelter Fall oder die Regel? Ich muß bekennen, daß ich mir diese Frage speziell für Sie zurechtgelegt habe.«

»Nein, das war kein vereinzelter Fall«, antwortete der Fürst leise, aber mit fester Stimme.

»Aber ich bitte Sie, Ljow Nikolajewitsch«, rief Fürst Schtsch. ein wenig ärgerlich; »sehen Sie denn nicht, daß er Ihnen eine Falle stellt? Er lacht sicher innerlich und beabsichtigt, sich gerade über Sie lustig zu machen.«

»Ich glaubte, Jewgeni Pawlowitsch spräche im Ernst«, versetzte der Fürst errötend und schlug die Augen nieder.

»Lieber Fürst«, fuhr Fürst Schtsch. fort, »denken Sie doch an ein Gespräch, das wir beide einmal vor drei Monaten führten; wir sprachen namentlich darüber, daß sich bei unseren jungen, neu eröffneten Gerichten bereits so viele beachtenswerte, talentvolle Verteidiger finden. Und wie viele im höchsten Grade beachtenswerte Urteile sind von unseren Geschworenen gefällt worden? Wie haben Sie selbst sich gefreut, und wie habe ich mich damals über Ihre Freude gefreut ...! ...! Wir sagten, daß wir Anlaß hätten, stolz zu sein ... Aber diese ungeschickte Verteidigung, dieses sonderbare Argument ist sicherlich nur etwas Zufälliges, ein vereinzelter Fall unter Tausenden.«

Fürst Ljow Nikolajewitsch dachte einen Augenblick nach, antwortete aber dann mit der Stimme festester Überzeugung, wenn auch leise und gewissermaßen schüchtern: »Ich wollte nur sagen, daß diese Entstellung der Gedanken und Begriffe (wie sich Jewgeni Pawlowitsch ausdrückte) sehr häufig begegnet und leider viel weiter verbreitet ist, als daß man sie einen vereinzelten Fall nennen könnte. Dermaßen, daß, wenn diese Entstellung nicht ein so häufiger Fall wäre, es vielleicht auch nicht so unerhörte Verbrechen geben würde wie diese ...«

»Unerhörte Verbrechen? Aber ich versichere Ihnen, daß genau ebensolche Verbrechen und vielleicht noch schauderhaftere auch früher vorgekommen sind, immer vorgekommen sind, und nicht nur bei uns, sondern überall, und daß sie meines Erachtens sich noch sehr lange wiederholen werden. Der Unterschied besteht nur darin, daß sie früher weniger publik wurden, während man jetzt angefangen hat, laut von ihnen zu reden und sogar zu schreiben; daher gewinnt es nun den Anschein, als seien solche Verbrecher erst jetzt aufgetreten. Darin besteht Ihr Irrtum, ein sehr naiver Irrtum, Fürst, das versichere ich Ihnen«, sagte Fürst Schtsch. lächelnd.

»Ich weiß selbst, daß die Verbrechen auch früher sehr zahlreich und ebenso schrecklich waren; ich habe erst kürzlich mehrere Gefängnisse besucht, und es ist mir dabei gelungen, mit einer Anzahl von Verbrechern und Angeklagten bekannt zu werden. Es gibt sogar noch furchtbarere Verbrecher als jener junge Mann, Verbrecher, von denen ein jeder zehn Menschen ermordet hat, ohne nachher irgendwelche Reue zu verspüren. Aber ein Punkt ist mir dabei aufgefallen: der verstockteste Mörder, der keine Reue empfindet, weiß doch, daß er ein Verbrecher ist, das heißt, er urteilt seinem Gewissen nach, daß er schlecht gehandelt hat, wiewohl er nichts von Reue weiß. So denkt jeder von ihnen; aber diejenigen, von denen Jewgeni Pawlowitsch gesprochen hat, wollen sich nicht für Verbrecher halten und meinen, sie hätten ein Recht gehabt und ... hätten sogar gut gehandelt; das heißt, ungefähr so denken sie. Darin besteht meiner Ansicht nach der furchtbare Unterschied. Und beachten Sie, daß das lauter junge Leute sind, das heißt Leute in demjenigen Lebensalter, in welchem man am leichtesten und schutzlosesten einer Verdrehung der Anschauungen anheimfallen kann.«
Fürst Schtsch. lachte nicht mehr und hörte dem Fürsten erstaunt zu. Alexandra Iwanowna, die schon lange etwas hatte sagen wollen, schwieg dennoch, wie wenn ein besonderer Gedanke sie vom Reden zurückhielte. Jewgeni Pawlowitsch aber sah den Fürsten mit unverhohlener Verwunderung und jetzt ohne eine Spur von Lächeln an. »Aber warum wundern Sie sich denn so über ihn, mein Herr?« mischte sich Lisaweta Prokofjewna unerwartet in das Gespräch. »Ist er etwa dümmer als Sie, weil sein Urteil von dem Ihrigen abweicht?«

»Nein, so etwas denke ich nicht«, erwiderte Jewgeni Pawlowitsch. »Aber wie geht es denn zu, Fürst (entschuldigen Sie die Frage!), wenn Sie das alles so scharf beobachten und erkennen, wie geht es denn zu, daß Sie (ich bitte nochmals um Verzeihung) bei dieser sonderbaren Angelegenheit ... ich meine das, was sich vor einigen Tagen begab ... bei der Angelegenheit dieses Herrn, Burdowski heißt er ja wohl ..., wie geht es denn zu, daß Sie da die ganz gleiche Verdrehung der Ideen und moralischen Anschauungen nicht bemerkten? Es war ja doch ganz genau dasselbe! Ich hatte damals den Eindruck, daß Sie es überhaupt nicht bemerkt hätten.«

»Ja, sehen Sie mal, lieber Freund«, ereiferte sich Lisaweta Prokofjewna, »wir haben es damals alle bemerkt, und nun sitzen wir hier und brüsten uns damit vor ihm; aber er, er hat heute von einem dieser Leute einen Brief erhalten, von der eigentlichen Hauptperson, von dem mit den Pickeln im Gesicht, erinnerst du dich, Alexandra? In dem Brief bittet er ihn um Verzeihung, wenn auch so auf seine Art, und teilt ihm mit, daß er sich von jenem Kameraden, der ihn damals aufgehetzt hatte, losgesagt habe; du erinnerst dich wohl an den Menschen, Alexandra? Und er glaube dem Fürsten jetzt mehr als jenem. Na, aber wir haben einen solchen Brief noch nicht erhalten, obgleich wir uns hier dem Fürsten gegenüber so hochnäsig benehmen.«

»Und Ippolit ist auch jetzt eben zum Fürsten in das Landhaus gezogen!« rief Kolja.

»Wie? Ist er schon hier?« fragte der Fürst aufgeregt.

»Gleich nachdem Sie mit Lisaweta Prokofjewna weggegangen waren, ist er eingetroffen; ich hatte ihn hertransportiert!«

»Na, da möchte ich darauf wetten«, fuhr Lisaweta Prokofjewna heftig auf, die ganz vergaß, daß sie den Fürsten einen Augenblick vorher gelobt hatte, »da möchte ich darauf wetten, daß er gestern zu ihm hingefahren ist nach seiner Dachkammer und ihn kniefällig um Verzeihung gebeten hat, damit diese boshafte Kanaille sich herablassen möchte, hierher überzusiedeln. Bist du gestern zu ihm hingefahren? Du hast ja neulich selbst bekannt, daß du es tun wolltest. Ja oder nein? Bist du vor ihm auf die Knie gefallen oder nicht?«

»Auf die Knie ist er ganz und gar nicht gefallen«, rief Kolja. »Ganz im Gegenteil: Ippolit hat gestern die Hand des Fürsten ergriffen und zweimal geküßt; das habe ich selbst gesehen; und damit endete die ganze Aussprache; der Fürst sagte nur noch ganz einfach, Ippolit werde sich in der Sommerfrische wohler fühlen, und der war sofort damit einverstanden überzusiedeln, sobald es ihm nur ein wenig besser gehen werde.«

»Sie hätten das nicht sagen sollen, Kolja ...«, murmelte der Fürst, indem er aufstand und nach seinem Hut griff.

»Warum erzählen Sie das? Ich ...«

»Wohin willst du denn?« hielt ihn Lisaweta Prokofjewna zurück.

»Lassen Sie sich hier nicht stören, Fürst!« fuhr Kolja in seinem Feuereifer fort. »Gehen Sie nicht zu ihm hin, und beunruhigen Sie ihn nicht; er ist, von der Fahrt ermüdet, eingeschlafen; er freut

sich sehr; und wissen Sie, Fürst, meiner Ansicht nach ist es das beste, wenn Sie ihn jetzt nicht aufsuchen. Verschieben Sie es lieber auf morgen; sonst wird er wieder verlegen. Er hat heute vormittag zu mir gesagt, er habe sich schon seit einem halben Jahr nicht so wohl und kräftig gefühlt; er hustet sogar weit weniger.«
Der Fürst bemerkte, daß Aglaja auf einmal von ihrem Platz in der Ecke herauskam und an den Tisch herantrat. Er wagte nicht, nach ihr hinzublicken; aber er fühlte mit seinem ganzen Wesen, daß sie ihn in diesem Augenblick ansah und vielleicht zornig ansah, und daß in ihren schwarzen Augen jedenfalls ein Ausdruck des Unwillens lag und ihr Gesicht glühte.

»Ich glaube, Nikolai Ardalionowitsch, Sie haben nicht gut daran getan, ihn hierher zu bringen, wenn es sich um jenen schwindsüchtigen jungen Menschen handelt, der damals zu weinen anfing und uns zu seinem Begräbnis einlud«, bemerkte Jewgeni Pawlowitsch. »Er sprach damals in so pathetischen Ausdrücken von der Mauer des Nachbarhauses, daß er sich unfehlbar nach dieser Mauer zurücksehnen wird; davon können Sie überzeugt sein.«

»Das ist ganz richtig. Er wird sich mit dir zanken und überwerfen und wieder wegfahren; weiter kommt nichts dabei heraus!«
Nach diesen Worten zog Lisaweta Prokofjewna würdevoll den Korb mit ihrer Handarbeit zu sich heran, da sie ganz vergessen hatte, daß alle bereits aufgestanden waren, um den Spaziergang anzutreten.

»Es ist mir erinnerlich, daß er mit dieser Mauer sehr geprahlt hat«, begann Jewgeni Pawlowitsch von neuem. »Ohne diese Mauer wird er nicht mit großartigen Redewendungen sterben können, und daran ist ihm doch viel gelegen.«

»Nun gut«, murmelte der Fürst, »wenn Sie ihm nicht verzeihen wollen, wird er eben ohne Ihre Verzeihung sterben ... Jetzt ist er um der Bäume willen hierher übergesiedelt.«

»Oh, ich meinerseits verzeihe ihm alles; das können Sie ihm ausrichten.«

»So darf die Sache nicht aufgefaßt werden«, antwortete der Fürst leise und anscheinend nur ungern, indem er fortfuhr, mit gesenkten Augen auf einen Punkt des Fußbodens hinzublicken. »Es ist erforderlich, daß auch Sie bereit sind, von ihm Verzeihung anzunehmen.«

»Aber was habe ich denn damit zu tun? Was habe ich ihm denn zuleide getan?«

»Wenn Sie das nicht verstehen, so ... aber Sie verstehen es ja; er wollte damals ... Sie alle segnen und Ihren Segen empfangen; weiter nichts ...«

»Lieber Fürst«, fiel Fürst Schtsch. schnell mit einer gewissen Behutsamkeit ein, nachdem er mit einem und dem andern von den Anwesenden einen Blick gewechselt hatte, »das Paradies läßt sich auf Erden nicht so leicht wiederherstellen; und doch rechnen Sie gewissermaßen mit einer Wiederherstellung des Paradieses; das ist ein schweres Ding, Fürst, weit schwerer, als es Ihrem prächtigen Herzen erscheint. Wir wollen lieber davon aufhören; sonst geraten wir alle am Ende wieder ins Streiten, und dann ...«

»Wir wollen zur Musik gehen!« sagte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton und erhob sich ärgerlich von ihrem Platz.

Alle schlossen sich ihr an.

II

Der Fürst trat plötzlich an Jewgeni Pawlowitsch heran.

»Jewgeni Pawlowitsch«, sagte er mit auffälliger Wärme, indem er seine Hand ergriff, »seien Sie überzeugt, daß ich Sie trotz allem für den edelsten, besten Menschen halte; das versichere ich Ihnen ...«
Jewgeni Pawlowitsch war so erstaunt, daß er sogar einen Schritt zurücktrat. Einen Augenblick lang hatte er die größte Mühe, einen starken Lachreiz zu unterdrücken; aber bei näherem Hinsehen bemerkte er, daß der Fürst kaum seiner selbst mächtig war und sich jedenfalls in einem ganz eigenartigen Zustand befand.

»Ich möchte darauf wetten, Fürst«, rief er, »daß Sie eigentlich etwas ganz anderes sagen wollten und vielleicht gar nicht zu mir ... Aber was ist mit Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Möglich, gut möglich, und Sie haben sehr richtig bemerkt, daß ich mich vielleicht gar nicht an Sie wenden wollte!«

Nach diesen Worten lächelte er auf eine ganz seltsame und sogar komische Weise; aber plötzlich schien er in starke Erregung zu geraten und rief:

»Erinnern Sie mich nicht an mein Benehmen vor drei Tagen! Ich habe mich diese drei Tage über sehr geschämt ... Ich weiß, daß ich schlecht gehandelt habe ...«

»Aber ... aber was haben Sie denn so Schreckliches getan?«

»Ich sehe, daß Sie sich vielleicht mehr für mich schämen, als es die andern alle tun, Jewgeni Pawlowitsch. Sie erröten, und das ist das Zeichen eines guten Herzens. Ich gehe sogleich weg; glauben Sie mir!«

»Aber was hat er denn nur? Fangen etwa die Anfälle bei ihm so an?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna erschrocken an Kolja.

»Beachten Sie das nicht weiter, Lisaweta Prokofjewna; ich bekomme keinen Anfall; ich werde sogleich weggehen. Ich weiß, daß ich von der Natur stiefmütterlich behandelt bin. Ich bin vierundzwanzig Jahre lang krank gewesen, bis zu meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Fassen Sie auch jetzt meine Worte und Handlungen als die eines Kranken auf. Ich werde sogleich weggehen, sogleich; seien Sie dessen versichert. Ich erröte über mein Wesen nicht; denn es wäre ja wunderlich, wenn ich darüber erröten wollte, nicht wahr? Aber für die Gesellschaft tauge ich nicht ... Ich sage das nicht aus gekränktem Ehrgefühl ... Ich habe in diesen drei Tagen viel nachgedacht und bin zu der Einsicht gekommen, daß ich Ihnen bei erster Gelegenheit meinen Entschluß offen und ehrlich mitteilen muß. Es gibt Ideen, hohe Ideen, von denen ich nicht zu reden anfangen darf, weil ich unfehlbar alle Hörer zum Lachen bringen würde; eben dies hat mir Fürst Schtsch. soeben ins Gedächtnis zurückgerufen ... Ich besitze kein schickliches Benehmen, und meine Gefühle sind maßlos; meine Worte entsprechen meinen Gedanken nicht, sondern kommen anders heraus; darin aber liegt eine Herabwürdigung dieser Gedanken. Und daher habe ich kein Recht ... Außerdem bin ich mißtrauisch; ich ... ich bin überzeugt, daß mich in diesem Haus niemand kränken will, und daß ich hier mehr geliebt werde, als ich verdiene; aber ich weiß, weiß zuverlässig, daß nach einer vierundzwanzigjährigen Krankheit notwendigerweise etwas zurückbleiben mußte, so daß die Menschen manchmal nicht umhin können, über mich zu lachen ... nicht wahr?«
Er blickte sich ringsum und schien eine Erwiderung, eine Antwort auf seine Frage zu erwarten. Alle standen stumm da, peinlich erstaunt über dieses unerwartete, krankhafte und, wie es schien, jeder Ursache entbehrende Benehmen. Aber dieses Benehmen gab zu einer seltsamen Episode Anlaß.

»Warum sagen Sie das hier?« rief Aglaja plötzlich. »Warum sagen Sie das zu diesen Menschen? Zu diesen Menschen! Zu diesen Menschen!«

Sie schien im höchsten Grad entrüstet zu sein; ihre Augen sprühten Funken. Der Fürst stand stumm und sprachlos vor ihr und wurde auf einmal ganz blaß.

»Hier ist niemand, der solcher Worte wert wäre!« fuhr Aglaja heftig fort. »Alle, die hier anwesend sind, sind nicht so viel wert wie Ihr kleiner Finger und reichen an Ihren Verstand und an Ihr Herz nicht heran; Sie sind ehrlicher als sie alle, edler als sie alle, klüger als sie alle ...! Manche sind hier nicht wert, sich zu bücken und das Taschentuch aufzuheben, das Sie soeben haben hinfallen lassen ... Warum setzen Sie sich selbst herab und stellen sich unter die andern alle? Warum karikieren Sie all Ihre guten Eigenschaften? Warum besitzen Sie so gar keinen Stolz?«

»O Gott, ist es zu glauben?« rief Lisaweta Prokofjewna und schlug die Hände zusammen.

»Der arme Ritter! Hurra!« schrie Kolja begeistert.

»Schweigen Sie ...! Wie kann jemand wagen, mich hier in Ihrem Haus zu beleidigen!« wandte sich Aglaja plötzlich mit größter Heftigkeit zu ihrer Mutter. Sie befand sich bereits in jenem gereizten Zustand, in dem der Mensch sich um keine Grenzen mehr kümmert und über jedes Hindernis hinwegschreitet. »Warum peinigen sie mich alle, alle ohne Ausnahme? Warum haben alle diese Menschen mir diese drei Tage lang um Ihretwillen zugesetzt, Fürst? Ich werde Sie um keinen Preis heiraten! Hören Sie wohl: um keinen Preis und niemals! Das mögen Sie wissen! Wie kann man denn auch einen so lächerlichen Menschen wie Sie heiraten? Betrachten Sie sich nur jetzt einmal im Spiegel, wie Sie dastehen! Warum, warum ziehen mich alle damit auf, daß ich Sie heiraten werde? Sie, Sie müssen das wissen! Sie sind auch mit ihnen im Komplott!«

»Nie hat dich jemand damit aufgezogen!« murmelte Adelaida erschrocken.

»Es ist keinem in den Sinn gekommen; kein Wort von der Art ist gesprochen worden!« rief Alexandra Iwanowna.

»Wer hat sie aufgezogen? Wann ist das geschehen? Wer hat es fertiggebracht, so etwas zu ihr zu sagen? Redet sie irre?« Mit diesen Fragen wandte sich Lisaweta Prokofjewna, zitternd vor Zorn, an alle Anwesenden.

»Alle haben es gesagt, alle ohne Ausnahme, die ganzen drei Tage lang! Aber ich werde ihn niemals heiraten, niemals!«

Nach diesen heftig hervorgestoßenen Worten brach Aglaja in bittere Tränen aus, verbarg ihr Gesicht mit dem Taschentuch und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

»Aber er hat dir ja noch gar keinen Antrag ...«

»Ich habe Ihnen keinen Antrag gemacht, Aglaja Iwanowna«, entfuhr es dem Fürsten unwillkürlich.

»Wa-as?« rief Lisaweta Prokofjewna erstaunt, entrüstet, erschrocken aus und zog dieses Wort sehr in die Länge. »Was – soll – das – heißen?«

Sie wollte ihren Ohren nicht trauen.

»Ich wollte sagen ... ich wollte sagen«, erwiderte der Fürst zitternd, »ich wollte Ihrem Fräulein Tochter nur erklären ... die Ehre haben zu erklären, daß ich überhaupt nicht beabsichtigte ... die Ehre zu haben, um ihre Hand zu bitten ... zu keiner Zeit ... Ich bin hierbei ganz unschuldig, bei Gott, ganz unschuldig, Aglaja Iwanowna! Ich habe es nie gewollt, und es ist mir nie in den Sinn gekommen; ich werde es niemals wollen; das werden Sie selbst sehen; davon können Sie überzeugt sein! Irgendein schlechter Mensch muß mich bei Ihnen verleumdet haben! Seien Sie ganz beruhigt!«
Während er das sagte, näherte er sich dem aufgeregten Mädchen.

Diese nahm das Taschentuch weg, mit dem sie ihr Gesicht verhüllte, warf einen schnellen Blick auf ihn und seine ganze erschrockene Gestalt, wurde sich über den Sinn seiner Worte klar und lachte ihm auf einmal gerade ins Gesicht, mit einem so lustigen, unbezwingbaren Lachen, mit einem so komischen, spöttischen Lachen, daß als erste Adelaida, namentlich nachdem sie ebenfalls den Fürsten angeblickt hatte, sich nicht halten konnte, zu ihrer Schwester hinstürzte, sie umarmte und in ein ebenso unaufhaltsames, backfischmäßig lustiges Lachen ausbrach wie diese. Beim Anblick der beiden begann der Fürst plötzlich zu lächeln und sagte mit fröhlicher, glückseliger Miene mehrmals:

»Nun, Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Nun konnte sich auch Alexandra nicht mehr beherrschen und lachte von ganzem Herzen. Es schien, als wollte dieses Gelächter der drei Mädchen gar kein Ende nehmen.

»Na, sie sind verrückt!« murmelte Lisaweta Prokofjewna. »Erst jagen sie einem einen Schreck ein, und dann ...« Aber jetzt lachte auch schon Fürst Schtsch., auch Jewgeni Pawlowitsch lachte; Kolja lachte ohne Aufhören, und beim Anblick des allgemeinen Gelächters lachte auch der Fürst.

»Wir wollen spazierengehen, wir wollen spazierengehen!« rief Adelaida. »Alle zusammen wollen wir gehen, und der Fürst muß unbedingt mit uns mitkommen; Sie dürfen nicht weggehen, Sie lieber Mensch! Was für ein lieber Mensch er ist, Aglaja! Nicht wahr, Mama? Ich muß ihn notwendig, notwendig umarmen und ihm einen Kuß geben für ... für die Erklärung, die er unserer Aglaja soeben gemacht hat. Liebe Mama, erlauben Sie mir, ihm einen Kuß zu geben! Aglaja, erlaube mir, deinen Fürsten zu küssen!« rief die Übermütige, sprang wirklich zu dem Fürsten hin und küßte ihn auf die Stirn. Dieser ergriff ihre beiden Hände, drückte sie kräftig, so daß Adelaida beinah aufschrie, sah ihr mit grenzenloser Freude ins Gesicht, führte plötzlich schnell ihre Hand an seine Lippen und küßte sie dreimal.

»Wir wollen gehen!« rief Aglaja. »Fürst, Sie sollen mich führen! Darf das ein junger Mann tun, Mama, der mir einen Korb gegeben hat? Ihre Absage an mich gilt ja doch wohl gleich für das ganze Leben, Fürst? Aber doch nicht so! So gibt man einer Dame doch nicht den Arm! Wissen Sie denn nicht, wie man einer Dame den Arm bietet? So macht man das! Nun kommen Sie; wir wollen allen vorangehen; wollen Sie mit mir vorangehen, tête-à-tête?«

Sie sprach ohne Pause und lachte dazwischen immer noch stoßweise.

»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« sagte Lisaweta Prokofjewna ein Mal über das andere, ohne selbst zu wissen, worüber sie sich eigentlich freute.

»Ganz sonderbare Menschen!« dachte Fürst Schtsch. vielleicht zum hundertsten Male, seit er sie kennengelernt hatte; aber ... diese sonderbaren Menschen gefielen ihm. Was den Fürsten anlangte, so gefiel ihm der vielleicht nicht sonderlich; Fürst Schtsch. machte ein sehr ernstes Gesicht und schien nicht frei von Sorgen zu sein, als alle den Spaziergang antraten.

Jewgeni Pawlowitsch befand sich anscheinend in heiterster Gemütsstimmung; während des ganzen Weges zum Bahnhof unterhielt er Alexandra und Adelaida mit den lustigsten Reden, und die jungen Damen lachten mit ganz besonderer Bereitwilligkeit über seine Scherze, mit einer solchen Bereitwilligkeit, daß ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, sie hörten auf das, was er sagte, vielleicht überhaupt nicht hin. Infolge dieses Gedankens brach er plötzlich, ohne einen Grund anzugeben, in ein lautes Gelächter aus, das ihm ganz von Herzen kam (das lag nun einmal so in seinem Wesen!). Die beiden Schwestern, die übrigens in einer Art von festtäglicher Stimmung waren, blickten fortwährend nach Aglaja und dem Fürsten hin, die vor ihnen gingen; offenbar hatte die jüngste Schwester ihnen ein schweres Rätsel aufgegeben. Fürst Schtsch. war andauernd bemüht, Lisaweta Prokofjewna mit nebensächlichen Dingen zu unterhalten, vielleicht um sie zu zerstreuen, und wurde ihr damit sehr lästig.

Sie schien ganz verstört zu sein und gab Antworten, die nicht auf die Fragen paßten; mitunter antwortete sie auch überhaupt nicht. Aber die Rätsel, die Aglaja Iwanowna den anderen an diesem Abend aufgab, hatten noch nicht ihr Ende erreicht. Das letzte derartige Rätsel legte sie dem Fürsten allein vor. Als sie sich ungefähr hundert Schritte von dem Landhaus entfernt hatten, sagte Aglaja hastig halbflüsternd zu ihrem hartnäckig schweigenden Kavalier:

»Blicken Sie einmal nach rechts!«

Der Fürst blickte nach der angegebenen Richtung.

»Blicken Sie recht aufmerksam hin! Sehen Sie da eine Bank im Park, da, wo die drei großen Bäume stehen ... eine grüne Bank?«

Der Fürst antwortete, daß er sie sehe.

»Gefällt Ihnen das Plätzchen? Ich gehe manchmal frühmorgens, gegen sieben Uhr, wenn alle noch schlafen, allein dorthin und sitze da.«

Der Fürst murmelte, es sei ein sehr schönes Plätzchen.

»Aber jetzt gehen Sie von mir weg; ich möchte nicht länger mit Ihnen untergefaßt gehen. Oder besser so: lassen Sie mir Ihren Arm, aber reden Sie mit mir kein Wort! Ich möchte still für mich nachdenken ...«
Dieses Verbot war jedenfalls überflüssig: der Fürst hätte sicherlich auch ohne solche Weisung auf dem ganzen Weg kein Wort gesprochen. Sein Herz begann furchtbar zu klopfen, als er die Mitteilung von der Bank hörte. Einen Augenblick darauf hatte er sich wieder gesammelt und wies voller Scham einen absurden Gedanken zurück, der ihm gekommen war ...

Auf dem Bahnhof in Pawlowsk versammelt sich an den Wochentagen, wie allgemein bekannt ist oder wenigstens alle behaupten, ein »feineres« Publikum als an Sonn- und Festtagen, wo »alle möglichen Leute« aus der Stadt herauskommen. Die Toiletten sind nicht festtäglich, aber elegant. Es ist Sitte, sich bei der Musik zu treffen. Die Kapelle ist vielleicht tatsächlich die beste unserer Gartenkapellen und spielt moderne Sachen. Die dort herrschende Wohlanständigkeit und Etikette sind hervorragend, trotzdem das Ganze bis zu einem gewissen Grade einen Anstrich von Familienhaftigkeit, ja von Intimität hat. Bekannte, sämtlich Sommerfrischler, finden sich dort zusammen, um einander wechselseitig zu mustern. Viele vollführen das mit wirklichem Vergnügen und gehen nur zu diesem Zweck hin; aber es gibt auch einige, die lediglich um der Musik willen kommen. Skandalszenen sind äußerst selten, wiewohl sie auch an Wochentagen vorkommen. Aber ganz ohne solche geht es nun einmal nicht ab.

Es war diesmal ein wundervoller Abend und ziemlich viel Publikum beisammen. Alle Plätze in der Umgebung der musizierenden Kapelle waren besetzt. Unsere Gesellschaft nahm auf Stühlen etwas mehr seitwärts Platz, dicht bei dem linken Bahnhofsausgang. Die bunte Menge und die Musik übten auf Lisaweta Prokofjewna bis zu einem gewissen Grad eine belebende Wirkung aus und brachten den jungen Mädchen etwas Zerstreuung; sie hatten schon Zeit gefunden, mit diesem und jenem ihrer Bekannten einen Blick zu wechseln, einem und dem andern von weitem freundlich zuzunicken, die Kostüme zu betrachten, einige Sonderbarkeiten daran zu bemerken, darüber ihre Ansichten auszutauschen und spöttisch zu lächeln. Jewgeni Pawlowitsch verneigte sich ebenfalls sehr häufig. Auf Aglaja und den Fürsten, die immer noch zusammen waren, war schon mancher aufmerksam geworden. Bald traten zur Mutter und zu den jungen Damen einzelne junge Männer aus ihrem Bekanntenkreis heran, um sie zu begrüßen; zwei oder drei blieben da und unterhielten sich mit ihnen; alle waren sie mit Jewgeni Pawlowitsch befreundet. Unter ihnen befand sich ein junger, sehr hübscher Offizier, ein sehr munterer, redseliger Mensch; er beeilte sich, mit Aglaja ein Gespräch anzuknüpfen, und bemühte sich aus allen Kräften, ihr Interesse zu erregen. Aglaja benahm sich gegen ihn sehr gnädig und zeigte sich sehr lachlustig. Jewgeni Pawlowitsch bat den Fürsten um die Erlaubnis, ihn mit diesem Freund bekanntmachen zu dürfen; der Fürst verstand kaum, was man mit ihm vornehmen wollte; aber die Vorstellung kam doch zustande, beide verbeugten sich gegeneinander und reichten sich die Hand. Jewgeni Pawlowitschs Freund tat eine Frage; aber der Fürst antwortete, wie es schien, gar nicht darauf oder murmelte höchstens in so sonderbarer Weise etwas vor sich hin, daß der Offizier ihn mit einem prüfenden Blick scharf anschaute, dann nach Jewgeni Pawlowitsch hinsah, sogleich begriff, warum dieser den Einfall gehabt hatte, sie einander vorzustellen, leise lächelte und sich wieder zu Aglaja wandte. Nur Jewgeni Pawlowitsch nahm es wahr, daß Aglaja plötzlich darüber errötete.

Der Fürst bemerkte es gar nicht einmal, daß andere mit Aglaja sprachen und ihr den Hof machten; minutenlang vergaß er sogar, daß er selbst neben ihr saß. Manchmal befiel ihn ein Verlangen, irgendwohin wegzugehen, ganz von hier zu verschwinden; es hätte ihm sogar ein düsterer, öder Ort zugesagt, wenn er nur hätte mit seinen Gedanken allein sein können und niemand gewußt hätte, wo er sich befände. Oder wenn er wenigstens hätte bei sich zu Hause sein können, in der Veranda, aber so, daß niemand bei ihm wäre, weder Lebedjew noch die Kinder; dann hätte er sich auf sein Sofa geworfen, das Gesicht in das Kissen gedrückt und so einen Tag und eine Nacht und noch einen Tag dagelegen. In einzelnen Augenblicken traten ihm auch die Berge vor die Seele und namentlich eine ihm wohlbekannte Stelle in den Bergen, an die er immer gern zurückgedacht hatte; nach dieser Stelle war er gern hingegangen, als er noch dort wohnte, und hatte von da auf das Dorf hinabgeblickt und auf den nur schwach schimmernden weißen Faden des Wasserfalls da unten und nach den weißen Wolken da oben und nach der alten Burgruine. Oh, wie gern wäre er jetzt wieder dort gewesen und hätte an das Eine gedacht – oh! das ganze Leben über nur daran – und für tausend Jahre hätte er an diesem einen Gedanken genug gehabt! Hier hätte man ihn ganz vergessen mögen. Und das wäre sogar notwendig gewesen; und das beste wäre gewesen, wenn man ihn hier gar nicht gekannt hätte und das alles nur ein Traumbild gewesen wäre. Aber war es denn nicht ganz gleich, ob es ein Traum oder Wirklichkeit war? Manchmal begann er auf einmal Aglaja zu betrachten und konnte fünf Minuten lang seinen Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen; aber sein Blick war sehr sonderbar; er schien sie so anzusehen, als wäre sie ein etwa zwei Werst weit von ihm entfernter Gegenstand, oder als wäre sie ihr Porträt und nicht sie selbst.

»Warum sehen Sie mich denn so an, Fürst?« fragte sie auf einmal, indem sie das heitere Geplauder und Gelache mit ihrer Umgebung unterbrach. »Ich fürchte mich vor Ihnen; ich habe immer die Vorstellung, Sie wollten die Hand ausstrecken und mein Gesicht mit dem Finger berühren, um es zu befühlen. Nicht wahr, Jewgeni Pawlowitsch, so sieht er mich an?«

Der Fürst hörte, wie es schien, mit Erstaunen, daß sich jemand an ihn wandte, überlegte das Gesagte, wiewohl er es vielleicht nicht ganz verstand, gab jedoch keine Antwort; aber als er sah, daß sie und alle andern lachten, öffnete er plötzlich den Mund und begann ebenfalls zu lachen. Das Gelächter ringsum wurde noch stärker; der Offizier, der offenbar ein lachlustiger Mensch war, schüttelte sich nur so vor Lachen. Aglaja flüsterte auf einmal zornig vor sich hin: »So ein Idiot!«

»O Gott! Kann sie denn wirklich so einen ... ist sie denn ganz verrückt geworden?« dachte Lisaweta Prokofjewna zähneknirschend im stillen.

»Das ist ein Scherz! Es ist derselbe Scherz wie damals mit dem ›armen Ritter‹«, flüsterte ihr Alexandra im Ton fester Überzeugung ins Ohr; »weiter nichts! Sie hat sich in ihrer Weise wieder über ihn lustig gemacht. Nur geht dieser Scherz zu weit; man muß ihn abkürzen, Mama! Vorhin hat sie uns wie eine Komödiantin eine Szene vorgespielt und uns aus Unart einen Schreck eingejagt ...«

»Es ist noch ein Glück, daß sie an einen solchen Idioten geraten ist«, flüsterte ihr Lisaweta Prokofjewna als Antwort zu.

Die Bemerkung der Tochter hatte ihr doch das Herz etwas leichter gemacht.

Der Fürst hörte, daß er ein Idiot genannt wurde, und fuhr zusammen, aber nicht infolge dieser Benennung (die vergaß er sofort wieder); sondern in der Menge, nicht weit von der Stelle, wo er saß, irgendwo seitwärts (er hätte die Stelle und den Punkt, wo es gewesen war, schlechterdings nicht bezeichnen können), war ein Männergesicht aufgetaucht, ein blasses Gesicht, mit lockigem, dunklem Haar, mit einem ihm bekannten, sehr bekannten Blick und Lächeln; es war aufgetaucht und wieder verschwunden. Sehr gut möglich, daß er es sich nur eingebildet hatte; von der ganzen Vision blieb ihm nur der Eindruck des schiefen Lächelns, der Augen und des hellgrünen, stutzerhaften Halstuches, das der vorüberhuschende Herr getragen hatte, im Gedächtnis haften. Ob dieser Herr in der Menge verschwunden oder in den Bahnhof hineingeschlüpft war, das konnte der Fürst gleichfalls nicht sagen.

Aber einen Augenblick darauf begann er auf einmal schnell und unruhig um sich zu blicken; diese erste Vision konnte die Vorbotin und Vorgängerin einer zweiten sein. Das war mit Sicherheit anzunehmen. Hatte er wirklich, als er nach dem Bahnhof ging, gar nicht an die Möglichkeit eines Zusammentreffens gedacht? Während er nach dem Bahnhof ging, hatte er allerdings gar nicht gewußt, daß er dorthin ging; in einem solchen Zustand hatte er sich befunden. Wenn er verstanden oder vermocht hätte aufmerksamer zu sein, so hätte er schon vor einer Viertelstunde bemerken können, daß Aglaja ab und zu ebenfalls mit einer gewissen Unruhe eilig um sich blickte, ebenfalls als ob sie etwas um sich herum suche. Jetzt, als seine Unruhe stark bemerkbar wurde, wuchs auch Aglajas Aufregung und Unruhe, und kaum blickte er rückwärts, so tat auch sie fast im gleichen Augenblick dasselbe. Das Ereignis, dem mit solcher Unruhe entgegengesehen wurde, ließ nicht lange auf sich warten.

Von eben jenem Seitenausgang des Bahnhofes her, neben dem der Fürst und die ganze Jepantschinsche Gesellschaft Platz genommen hatten, erschien ein ganzer Schwarm von mindestens zehn Menschen. An der Spitze dieses Schwarmes gingen drei Frauen; zwei von ihnen waren außerordentlich schön, und es war nicht zu verwundern, daß ihnen so viele Verehrer nachfolgten. Aber sowohl die Verehrer als auch die Frauen, alle hatten etwas Besonderes an sich, etwas, was von dem Wesen des übrigen bei der Musik versammelten Publikums stark abwich.

Fast alle Anwesenden bemerkten die Ankömmlinge sofort, bemühten sich aber großenteils, so zu tun, als ob sie sie gar nicht sähen, und nur einige junge Männer lächelten über sie und tauschten miteinander halblaute Bemerkungen aus. Sie zu übersehen war ganz unmöglich: sie zeigten sich offen, redeten laut und lachten. Man konnte annehmen, daß manche unter ihnen einen ziemlichen Rausch hatten, obgleich äußerlich betrachtet mehrere derselben stutzerhaft und elegant gekleidet waren; aber es waren darunter auch Leute von recht sonderbarem Aussehen, in sonderbarer Kleidung und mit sonderbar geröteten Gesichtern; auch einige Offiziere waren dabei; manche waren bereits über die Jugend hinaus; etliche waren behäbig gekleidet, in bequemen, elegant gearbeiteten Anzügen, und trugen kostbare Ringe und Hemdknöpfe, prächtige pechschwarze Perücken und schwarze Backenbärte und gaben ihren Gesichtern einen besonders vornehmen, wiewohl etwas verdrossenen Ausdruck, eine Menschensorte, die man in der Gesellschaft wie die Pest zu meiden pflegt. Unter den Sommerfrischen in unseren Vororten befinden sich natürlich auch solche, die sich durch besonders guten Ton auszeichnen und sich eines vorzüglichen Rufes erfreuen; aber auch der vorsichtigste Mensch kann sich nicht in jedem Augenblick vor einem Ziegelstein hüten, der vom Nachbarhaus herabfällt. Ein solcher Ziegelstein war jetzt auch im Begriff auf das wohlanständige Publikum herabzufallen, das sich bei der Musik versammelt hatte.

Um von dem Bahnhof auf den Platz zu gelangen, auf dem das Orchester war, mußte man drei Stufen hinabsteigen. Dicht bei diesen Stufen hatte der Schwarm haltgemacht; sie trauten sich nicht hinabzusteigen; aber eine der Frauen schritt vorwärts; von ihrer Suite wagten nur zwei Männer ihr zu folgen. Der eine war ein Herr in mittleren Jahren, mit recht bescheidener Miene und einem in jeder Hinsicht anständigen Äußern; aber er machte den Eindruck eines richtigen Einschichters, das heißt eines der Leute, die nie jemanden kennen und von niemandem gekannt werden. Der andere, der sich von der Dame nicht getrennt hatte, trug eine sehr schäbige Kleidung und sah sehr zweideutig aus. Außer diesen beiden folgte der exzentrischen Dame niemand weiter; aber sie blickte während des Hinuntersteigens gar nicht zurück, als wäre es ihr völlig gleichgültig, ob ihr jemand folge oder nicht. Sie lachte und redete laut wie vorher; gekleidet war sie mit vielem Geschmack und reich, aber etwas luxuriöser, als es schicklich gewesen wäre. Sie schlug die Richtung an dem Orchester vorbei nach der andern Seite des Platzes ein, wo neben der Landstraße eine Equipage wartete.

Der Fürst hatte »sie« schon seit mehr als drei Monaten nicht gesehen. Seit seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich jeden Tag vorgenommen, zu ihr zu gehen; aber vielleicht hatte ihn eine geheime Ahnung immer davon zurückgehalten. Wenigstens vermochte er schlechterdings nicht den Eindruck vorauszusehen, den die bevorstehende Begegnung mit ihr auf ihn machen werde; aber er bemühte sich manchmal angstvoll, ihn sich vorzustellen. Eines war ihm klar: daß die Begegnung peinlich sein werde. Mehrmals hatte er in diesen sechs Monaten an die erste Empfindung zurückgedacht, die das Gesicht dieser Frau schon beim bloßen Anblick ihres Bildes bei ihm hervorgerufen hatte; aber selbst der Eindruck des Bildes war, wie er sich erinnerte, ein sehr peinlicher gewesen. Jener Monat in der Provinz, während dessen er beinah täglich mit ihr zusammengewesen war, hatte auf ihn eine schreckliche Wirkung ausgeübt, derart, daß der Fürst manchmal sogar die Erinnerung an diese noch nicht weit zurückliegende Zeit zu verscheuchen suchte. In dem Gesicht dieser Frau lag für ihn stets etwas, was ihm eine Qual verursachte: in dem Gespräch mit Rogoschin hatte der Fürst dieses Gefühl als ein Gefühl grenzenlosen Mitleides bezeichnet, und das war die Wahrheit gewesen: dieses Gesicht hatte schon beim Anblick des Bildes in seinem Herzen ein Mitleid erweckt, das zum eigenen Leid geworden war; dieses Gefühl des Mitleides und sogar des eigenen Leides um dieses Wesen hatte ihn nie verlassen und war ihm auch jetzt gegenwärtig. Nein, es war jetzt sogar noch stärker. Aber der Ausdruck, den er Rogoschin gegenüber gebraucht hatte, hatte den Fürsten auf die Dauer nicht befriedigt; erst jetzt, in dem Augenblick, wo sie plötzlich vor seinen Augen erschien, verstand er, vielleicht infolge der unmittelbaren Anschauung, inwiefern das, was er zu Rogoschin gesagt hatte, mangelhaft gewesen war. Er hatte damals nicht den Ausdruck »Entsetzen« angewandt; jawohl, Entsetzen! Jetzt, in diesem Augenblick, war er geradezu von Entsetzen ergriffen; er war auf Grund all seiner eigenen Beobachtungen mit völliger Sicherheit davon überzeugt, daß diese Frau irrsinnig war. Wenn man eine Frau über alles in der Welt liebt oder einen Vorgeschmack von der Möglichkeit einer solchen Liebe verspürt und nun auf einmal diese Frau an der Kette erblickt, hinter einem Eisengitter, von dem Stock des Aufsehers bedroht, dann mag die Empfindung einigermaßen derjenigen ähnlich sein, die jetzt der Fürst durchmachte.

»Was ist Ihnen?« fragte Aglaja hastig, indem sie sich nach ihm umwandte und naiv seinen Arm berührte.

Er drehte den Kopf nach ihr hin, sah sie an, blickte in ihre schwarzen Augen, die jetzt in einer ihm unverständlichen Weise funkelten, und machte den Versuch, ihr zuzulächeln; aber plötzlich, wie wenn er sie sofort wieder vergessen hätte, wandte er die Augen wieder nach rechts und verfolgte die ihn so fesselnde Erscheinung weiter. Nastasja Filippowna ging soeben dicht an den Stühlen der jungen Damen vorüber. Jewgeni Pawlowitsch fuhr fort, Alexandra Iwanowna etwas wohl sehr Komisches und Interessantes zu erzählen, und sprach laut und lebhaft. Der Fürst erinnerte sich später, daß Aglaja auf einmal halblaut gesagt hatte: »Was für eine ...«

Diese Worte hatten noch keinen bestimmten Sinn, und sie sprach den Satz nicht zu Ende; sie beherrschte sich sofort wieder und fügte nichts weiter hinzu; aber auch das Gesagte genügte schon. Nastasja Filippowna, die, anscheinend ohne jemand besonders zu beachten, vorbeigegangen war, wandte sich plötzlich zu der Jepantschinschen Gesellschaft um und schien erst jetzt Jewgeni Pawlowitsch zu bemerken.

»Ah! Da ist er ja!« rief sie stehenbleibend. »Einmal kann man ihn durch noch so viele Boten nicht ausfindig machen, und ein andermal sitzt er gerade da, wo man ihn nicht vermutet ... Ich dachte ja, du wärst dort ... bei deinem Onkel!«

Jewgeni Pawlowitsch wurde dunkelrot und blickte sie wütend an, wandte sich aber schnell wieder von ihr ab.

»Wie? Weißt du es etwa noch nicht? Kann man sich das vorstellen: er weiß es noch nicht! Er hat sich erschossen! Heute früh hat sich dein Onkel erschossen! Mir wurde es vorhin, um zwei Uhr, gesagt; aber jetzt weiß es schon die halbe Stadt; dreihundertfünfzigtausend Rubel Staatsgelder fehlen, wie es heißt; andere aber sagen: fünfhunderttausend. Und ich spekulierte immer darauf, daß er dir noch eine große Erbschaft hinterlassen werde; aber er hat alles durchgebracht. Ja, ja, der alte Mann führte ein ausschweifendes Leben ... Nun, lebe wohl, bonne chance! Also du fährst wirklich nicht hin? Da hast du ja noch glücklich zur rechten Zeit den Abschied genommen, du Schlaukopf! Ach, Unsinn, du hast es ja gewußt, hast es vorher gewußt: vielleicht wußtest du es schon gestern ...«

Obgleich hinter dieser dreisten Zudringlichkeit und der öffentlichen Behauptung einer gar nicht existierenden Bekanntschaft und Intimität unbedingt eine besondere Absicht steckte und daran jetzt kein Zweifel mehr möglich war, so hatte Jewgeni Pawlowitsch doch zunächst noch geglaubt, er könne davonkommen, wenn er die Beleidigerin gar nicht beachte. Aber Nastasja Filippownas Worte trafen ihn wie ein Donnerschlag; als er von dem Tod seines Onkels hörte, wurde er kreidebleich und wandte sich zu der Überbringerin dieser Nachricht hin. In diesem Augenblick erhob sich Lisaweta Prokofjewna schnell von ihrem Platz, winkte allen, ihr zu folgen, und entfernte sich fast laufend. Nur Fürst Ljow Nikolajewitsch blieb noch einen Moment anscheinend unentschlossen auf seinem Platz, und Jewgeni Pawlowitsch stand immer noch wie besinnungslos da. Aber die Familie Jepantschin hatte sich noch nicht zwanzig Schritte entfernt, als sich eine furchtbare Skandalszene abspielte. Der mit Jewgeni Pawlowitsch gut befreundete Offizier, der sich mit Aglaja unterhalten hatte, war im höchsten Grad empört.

»Da müßte man einfach eine Reitpeitsche nehmen; auf andere Art wird man mit diesem Geschöpf nicht fertig!« sagte er ziemlich laut. (Wie es schien, war er auch früher schon Jewgeni Pawlowitschs Vertrauter gewesen.)

Nastasja Filippowna wandte sich augenblicklich zu ihm um. Ihre Augen funkelten; sie stürzte auf einen ihr ganz unbekannten jungen Mann los, der zwei Schritte von ihr entfernt stand und ein dünnes geflochtenes Spazierstöckchen in der Hand hatte, entriß es ihm und versetzte ihrem Beleidiger damit aus aller Kraft einen Schlag quer ins Gesicht. All dies vollzog sich in einer Sekunde ... Der Offizier, vor Wut außer sich, stürzte sich auf sie; ihr Gefolge hatte Nastasja Filippowna nicht mehr um sich; der anständige Herr in mittleren Jahren war bereits völlig verschwunden, und der angeheiterte Herr stand ein wenig abseits und lachte aus Leibeskräften. Eine Minute darauf wäre natürlich die Polizei erschienen; aber während dieser Minute wäre es Nastasja Filippowna schlimm ergangen, wenn ihr nicht eine unerwartete Hilfe gekommen wäre: der Fürst, der ebenfalls zwei Schritte davon entfernt stand, vermochte noch gerade den Offizier von hinten an den Armen zu fassen. Seinen Arm losreißend, versetzte ihm der Offizier einen starken Stoß gegen die Brust; der Fürst flog etwa drei Schritte zurück und fiel auf einen Stuhl. Aber nun erschienen bei Nastasja Filippowna bereits zwei Beschützer. Vor dem heranstürmenden Offizier stand der Boxer, der Verfasser jenes dem Leser bekannten Schmähartikels und aktives Mitglied der früheren Rogoschinschen Bande.

»Keller! Leutnant a.D.«, stellte er sich in affektiert forscher Weise vor. »Wenn Ihnen ein Faustkampf gefällig ist, Hauptmann, so stehe ich als Vertreter des schwachen Geschlechts zu Ihren Diensten; ich verstehe mich vorzüglich auf die englische Boxkunst. Nehmen Sie es nicht übel, Hauptmann; ich bedaure die Ihnen angetane ›blutige‹ Beleidigung; aber ich kann nicht zugeben, daß jemand gegen eine Frau vor den Augen des Publikums vom Faustrecht Gebrauch macht. Wenn Sie aber, wie es sich für einen anständigen Mann schickt, die Sache in anderer Form zu erledigen wünschen, so ... Sie werden mich selbstverständlich verstehen, Hauptmann ...«

Aber der Hauptmann war schon zur Besinnung gekommen und hörte nicht mehr auf ihn. In diesem Augenblick tauchte Rogoschin aus der Menge auf, reichte Nastasja Filippowna schnell den Arm und zog sie hinter sich her davon. Rogoschin selbst schien furchtbar aufgeregt zu sein; er war blaß und zitterte. Während er Nastasja Filippowna wegführte, fand er noch Zeit, dem Offizier höhnisch ins Gesicht zu lachen und ihm mit triumphierender Miene zuzurufen:

»Hui! Da hast du's abbekommen! Die ganze Visage voll Blut! Hui!«

Der Offizier, der seine Fassung wiedererlangt hatte und sich darüber klar geworden war, an wen er sich zu halten hatte, wandte sich, das Gesicht mit dem Taschentuch verdeckend, höflich an den Fürsten, der bereits vom Stuhl wieder aufgestanden war:

»Sie sind Fürst Myschkin, dem ich das Vergnügen hatte vorgestellt zu werden?«

»Sie ist irrsinnig! Geisteskrank! Ich versichere Ihnen!« antwortete der Fürst mit zitternder Stimme und streckte ihm aus irgendeinem Grund seine zitternden Hände entgegen.

»Ich kann mich natürlich solcher Kenntnisse nicht rühmen; aber ich muß Ihren Namen wissen.«

Er nickte ihm zu und ging weg. Die Polizei erschien genau fünf Sekunden, nachdem die letzten beteiligten Personen verschwunden waren. Übrigens hatte die ganze Szene nicht länger als zwei Minuten gedauert. Einige aus dem Publikum hatten sich von ihren Stühlen erhoben und waren weggegangen; andere hatten sich nur von dem bisherigen Platz auf einen andern gesetzt; wieder andere freuten sich gewaltig über den Skandal; andere endlich begannen eifrig und mit lebhaftem Interesse darüber zu sprechen. Die Musikkapelle fing wieder an zu spielen. Der Fürst folgte den Jepantschins nach. Wenn er darauf verfallen wäre oder Zeit gehabt hätte, nach links zu blicken, als er infolge des Stoßes auf den Stuhl gefallen war, so hätte er zwanzig Schritte von ihm entfernt Aglaja erblickt, die stehengeblieben war, um die Skandalszene mitanzusehen, und nicht auf die Rufe ihrer Mutter und ihrer Schwestern hörte, welche schon weitergegangen waren. Fürst Schtsch., der zu ihr gelaufen kam, überredete sie endlich, schneller wegzugehen. Lisaweta Prokofjewna erinnerte sich später, daß Aglaja zu ihnen in einer solchen Aufregung zurückkam, daß sie ihre Rufe wohl kaum gehört haben mochte. Aber zwei Minuten darauf, als sie eben in den Park eingetreten waren, sagte Aglaja in ihrem gewöhnlichen, gleichgültigen, launischen Ton:

»Ich wollte nur ansehen, wie die Komödie endete.«

III

Der Vorfall auf dem Bahnhof hatte die Mutter und die Töchter arg erschreckt. In ihrer Unruhe und Aufregung legten Lisaweta Prokofjewna und die Töchter den ganzen Weg vom Bahnhof nach ihrem Haus geradezu laufend zurück. Nach der Ansicht und Auffassung der Mutter war der Vorfall doch sehr bedeutsam und es hatte sich bei ihm doch gar manches entschleiert, so daß in ihrem Kopf, trotz aller Verwirrung und Angst, sich bereits bestimmte Gedanken gestalteten. Aber auch die andern begriffen, daß da etwas Besonderes vorgegangen war, und daß sich, vielleicht zum Glück, irgendein großes Geheimnis zu enthüllen begann. Trotz der früheren Behauptungen und Versicherungen des Fürsten Schtsch. war Jewgeni Pawlowitsch jetzt entlarvt und seiner Beziehungen zu diesem Geschöpf in aller Form überführt. So dachten Lisaweta Prokofjewna und auch ihre beiden ältesten Töchter. Aber der Gewinn aus dieser Schlußfolgerung bestand lediglich darin, daß die Rätsel sich noch mehr häuften. Die beiden ältesten Mädchen waren zwar im stillen etwas ungehalten darüber, daß ihre Mama sich so übermäßig geängstigt hatte und so offensichtlich davongelaufen war; aber sie mochten sie in der ersten Zeit des Wirrwarrs nicht mit Fragen belästigen. Außerdem hatten sie aus irgendeinem Grund den Eindruck, daß ihre Schwester Aglaja vielleicht von dieser Sache mehr wisse als sie beide und die Mama. Fürst Schtsch. machte ein Gesicht finster wie die Nacht und war ebenfalls sehr nachdenklich. Lisaweta Prokofjewna sprach mit ihm auf dem ganzen Weg kein Wort; aber er schien das gar nicht zu beachten. Adelaida versuchte, ihn zu fragen: »Von was für einem Onkel war denn da eben die Rede, und was ist denn eigentlich in Petersburg passiert?« Aber er gab ihr mit sehr saurer Miene murmelnd eine recht unbestimmte Antwort von irgendwelchen Erkundigungen, die er anstellen wolle, und das sei natürlich alles Unsinn. »Daran ist kein Zweifel«, antwortete Adelaida und fragte nicht weiter. Aglaja dagegen war auffallend ruhig und bemerkte unterwegs nur, sie liefen doch gar zu schnell. Einmal wandte sie sich um und erblickte den Fürsten, der ihnen nacheilte. Als sie wahrnahm, wie er sich anstrengte, um sie einzuholen, lächelte sie spöttisch und sah sich seitdem nicht mehr um.

Endlich, als sie schon ganz nahe bei ihrem Landhaus waren, kam ihnen Iwan Fjodorowitsch entgegen, der soeben aus Petersburg zurückgekommen war. Er erkundigte sich sogleich bei den ersten Worten nach Jewgeni Pawlowitsch. Aber seine Gattin ging mit drohender Miene an ihm vorbei, ohne ihm zu antworten und ohne ihn auch nur anzusehen. An den Augen seiner Töchter und des Fürsten Schtsch. erkannte er sogleich, daß es in seiner Familie gewitterte. Aber auch ohne das prägte sich auf seinem eigenen Gesicht eine ungewöhnliche Unruhe aus. Er faßte den Fürsten Schtsch. sogleich unter, hielt ihn am Hauseingang zurück und wechselte fast flüsternd einige Worte mit ihm. An den aufgeregten Mienen beider, als sie dann in die Veranda kamen und durch diese hindurch sich zu Lisaweta Prokofjewna begaben, konnte man merken, daß sie beide eine außerordentliche Nachricht erhalten hatten. Allmählich fanden sich alle oben bei Lisaweta Prokofjewna zusammen, und in der Veranda blieb schließlich nur der Fürst zurück. Er saß in einer Ecke, wie wenn er auf etwas wartete, ohne jedoch selbst zu wissen, warum; angesichts der im Hause herrschenden Unruhe wegzugehen, das kam ihm gar nicht in den Sinn; es schien, als habe er die ganze Welt vergessen und sei bereit, selbst zwei Jahre hintereinander da zu sitzen, wo man ihn hinsetzen würde. Von oben hörte er mitunter einzelne Laute eines aufgeregten Gesprächs. Er hätte selbst nicht sagen können, wie lange er da schon so gesessen hatte. Es war spät geworden und schon ganz dunkel. Auf einmal kam Aglaja nach der Veranda heraus; sie war äußerlich ruhig, wiewohl etwas blaß. Als sie den Fürsten erblickte, den sie anscheinend nicht erwartet hatte hier in der Ecke auf einem Stuhl zu treffen, lächelte sie wie erstaunt.

»Was machen Sie denn hier?« fragte sie, an ihn herantretend.

Der Fürst murmelte verlegen eine Antwort und sprang vom Stuhl auf; aber Aglaja setzte sich sogleich neben ihn, und so ließ auch er sich wieder nieder. Sie blickte ihn aufmerksam an; dann sah sie wie gedankenlos durch das Fenster, dann wieder nach ihm hin. »Vielleicht will sie sich über mich lustig machen«, dachte der Fürst; »aber nein, dann hätte sie es ja schon getan.«

»Vielleicht möchten Sie Tee trinken; dann werde ich welchen bringen lassen«, sagte sie nach einigem Schweigen.

»N-nein. Ich weiß nicht ...«

»Aber wie kann man denn so etwas nicht wissen? Ach ja, hören Sie: wenn Sie jemand zum Duell forderte, was würden Sie dann machen? Ich wollte Sie schon vorhin danach fragen.«

»Aber ... wer sollte das tun ...? Es fordert mich ja niemand zum Duell.«

»Nun, aber

Wenn Sie gefordert würden? Würden Sie große Angst haben?«

»Ich glaube, ich würde mich sehr ... fürchten.«

»Im Ernst? Also sind Sie feige?«

»N-nein; das vielleicht nicht. Feige ist derjenige, der sich fürchtet und davonläuft; aber wer sich fürchtet und nicht davonläuft, der braucht noch nicht feige zu sein«, erwiderte der Fürst nach kurzem Nachdenken lächelnd.

»Und Sie würden nicht weglaufen?«

»Vielleicht würde ich das nicht tun«, antwortete er, schließlich auflachend, auf Aglajas Fragen.

»Ich bin zwar ein Weib; aber ich würde unter keinen Umständen weglaufen«, bemerkte sie empfindlich.

»Aber Sie machen sich über mich lustig und reden nach Ihrer Gewohnheit wunderliches Zeug, um sich interessant zu machen. Sagen Sie mal: die Duellanten schießen ja wohl gewöhnlich auf zwölf Schritte, manche auch auf zehn Schritte; also wird man sicher erschossen oder verwundet?«

»Beim Duell fällt wohl selten jemand.«

»Selten? Puschkin wurde doch im Duell erschossen.«

»Das war vielleicht ein Zufall.«

»Ganz und gar kein Zufall; es war ein Duell auf Leben und Tod, und da wurde er erschossen.«

»Die Kugel traf ihn so weit unten, daß man annehmen muß, d'Antès habe auf eine höhere Körperstelle gezielt, auf die Brust oder auf den Kopf. So weit nach unten zielt niemand; somit hat die Kugel Puschkin aller Wahrscheinlichkeit nach zufällig getroffen, durch einen Fehlschuß. Das ist mir von urteilsfähigen Leuten gesagt worden.«

»Aber mir hat ein Soldat, mit dem ich einmal sprach, gesagt, sie seien, wenn sie sich in Schützenschwärme auflösten, durch das Reglement ausdrücklich angewiesen, auf die Mitte des Menschen zu zielen; so lautet der Ausdruck bei ihnen. Also die werden angewiesen, nicht nach der Brust oder nach dem Kopf, sondern absichtlich nach der Mitte des Körpers zu schießen. Ich fragte später einen Offizier danach, und der sagte mir, daß es sich genau so verhalte.«

»Das ist gewiß so angeordnet, weil da auf weite Entfernung geschossen wird.«

»Können Sie schießen?«

»Ich habe noch nie geschossen.«

»Können Sie wirklich nicht einmal eine Pistole laden?«

»Nein, das kann ich nicht. Das heißt, ich weiß, wie es gemacht wird; aber ich habe noch nie selbst eine geladen.«

»Nun, dann können Sie es auch nicht; denn dazu gehört praktische Erfahrung! Hören Sie mal zu, und prägen Sie es sich gut ein: erstens kaufen Sie sich gutes Pistolenpulver, nicht feuchtes (es darf nicht feucht sein, sage ich; es muß ganz trocken sein), recht feines; solches müssen Sie gleich fordern, nicht solches, mit dem man aus Kanonen schießt. Die Kugel gießt man sich irgendwie selbst. Haben Sie Pistolen?«

»Nein, ich brauche auch keine«, versetzte der Fürst lachend.

»Ach, dummes Zeug! Kaufen Sie sich unter allen Umständen eine: eine gute französische oder englische; das sind die besten, sage ich Ihnen. Dann nehmen Sie Pulver, etwa einen Fingerhut voll oder vielleicht zwei, und schütten Sie es hinein! Lieber ein bißchen mehr. Drücken Sie es mit Filz fest (Filz ist ungedingt nötig, sage ich Ihnen); den können Sie sich leicht irgendwoher beschaffen, von einer Matratze; auch die Türen werden manchmal mit Filz beschlagen. Dann, wenn Sie den Filz hineingesteckt haben, legen Sie die Kugel darauf; hören Sie wohl: die Kugel nachher, das Pulver zuerst; sonst schießt es nicht. Warum lachen Sie? Ich will, daß Sie täglich ein paarmal schießen und unbedingt ein Ziel treffen lernen. Werden Sie das auch tun?«

Der Fürst lachte; Aglaja stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Ihre ernste Miene bei einem solchen Gespräch setzte den Fürsten einigermaßen in Erstaunen. Er hatte die unklare Empfindung, daß er hier etwas in Erfahrung bringen, nach etwas fragen müsse, und zwar jedenfalls nach etwas Ernsthafterem, als es das Laden einer Pistole war. Aber all das war ihm aus dem Sinn entschwunden, und er fühlte nur das eine, daß sie vor ihm saß und er sie ansah; worüber sie redete, das war ihm in diesem Augenblick so gut wie gleichgültig.

Endlich kam Iwan Fjodorowitsch selbst von oben nach der Veranda herunter; er hatte noch einen Gang vor; seine Miene war finster und sorgenvoll, zeigte aber feste Entschlossenheit.

»Ah, Ljow Nikolajewitsch, du bist hier ... Wo willst du denn jetzt hin?« fragte er, obwohl dieser gar nicht daran dachte, sich von seinem Platz zu rühren. »Komm mit, ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.«

»Auf Wiedersehen!« sagte Aglaja und reichte dem Fürsten die Hand.

In der Veranda war es schon recht dunkel, und der Fürst konnte jetzt ihren Gesichtsausdruck nicht deutlich erkennen. Gleich darauf, als er bereits mit dem General das Landhaus verließ, errötete er plötzlich stark und preßte seine rechte Hand fest zusammen.

Es stellte sich heraus, daß Iwan Fjodorowitsch mit ihm den gleichen Weg hatte; der General ging trotz der späten Stunde noch eilig aus, um sich mit jemand über etwas zu besprechen. Zunächst aber begann er jetzt mit dem Fürsten zu reden, hastig, aufgeregt, unzusammenhängend, und tat in dem, was er sagte, häufig Lisaweta Prokofjewnas Erwähnung. Hätte der Fürst in diesem Augenblick aufmerksamer sein können, so würde er vielleicht gemerkt haben, daß Iwan Fjodorowitsch unter anderm auch von ihm etwas herauszubringen oder, richtiger ausgedrückt, ihn offen und gerade nach etwas zu fragen wünschte, es aber immer nicht fertigbrachte, den Hauptpunkt zu berühren. Zu seiner Schande war aber der Fürst in dem Grade zerstreut, daß er gleich von vornherein nichts hörte und, als der General mit einer eifrigen Frage vor ihm stehenblieb, genötigt war zu bekennen, daß er nichts verstanden habe.

Der General zuckte mit den Achseln.

»Was seid ihr alle für sonderbare Menschen geworden«, begann er dann von neuem. »Ich sage dir, ich begreife gar nicht, was Lisaweta Prokofjewna sich für Gedanken macht, und warum sie sich so aufregt. Sie ist furchtbar nervös und weint und sagt, wir seien beschimpft und an den Pranger gestellt worden. Wer hätte das getan? Wie? Wodurch? Wann und warum? Ich gestehe, daß ich einen Teil der Schuld trage (das gebe ich zu), einen großen Teil der Schuld; aber den hinterlistigen Anfällen dieses ... dieses unruhigen Weibes (obendrein ist auch ihre Aufführung schlecht) muß schließlich durch die Polizei ein Ende gemacht werden, und ich beabsichtige gleich heute, mich zu diesem Zweck mit jemand zu besprechen und der Sache einen Riegel vorzuschieben. Man kann all dergleichen im stillen, im guten, sogar in freundlicher Weise, durch gute Bekannte und ohne alles Aufsehen abmachen. Ich gebe auch zu, daß die Zukunft noch manche Überraschungen in ihrem Schoß birgt, und daß vieles noch unaufgeklärt ist; es steckt da eine Intrige dahinter; aber wenn man hier nichts weiß und dort nichts zu erklären vermag, und wenn ich nichts gehört habe und du nichts gehört hast und jener nichts gehört hat und ein vierter ebenfalls nichts gehört hat: wer hat denn schließlich etwas davon gehört, frage ich dich? Wie soll man das deiner Ansicht nach erklären, wenn man nicht sagen will, die Sache sei zur Hälfte eine Luftspiegelung, etwas nicht Existierendes, in der Art wie das Mondlicht oder andere Visionen?«

»Sie ist geisteskrank«, murmelte der Fürst, der sich plötzlich mit Schmerz an den ganzen Vorfall von vorhin erinnerte.

»Das habe ich auch geglaubt, wenn du damit dieses Weib meinst. Auch mir war dieser Gedanke gekommen, und ich konnte infolgedessen ruhig schlafen. Aber jetzt sehe ich, daß sie doch sehr folgerichtig denkt, und glaube nicht mehr an ihre Geisteskrankheit. Sie ist allerdings ein zanklustiges Weib, dabei aber scharfsinnig und ganz und gar nicht verrückt. Ihre heutigen scharfen Bemerkungen über Kapiton Alexejewitsch beweisen das deutlich. Es liegt ihrerseits ein gaunerisches, das heißt zumindestens ein jesuitisches Verfahren vor, bei dem sie bestimmte Ziele verfolgt.«

»Was ist das für ein Kapiton Alexejewitsch?«

»Ach, mein Gott, Ljow Nikolajewitsch, du hörst ja gar nicht zu! Ich habe ja damit angefangen, dir von Kapiton Alexejewitsch zu erzählen; ich bin so erschüttert, daß mir noch jetzt Arme und Beine zittern. Darum bin ich ja auch heute so lange in der Stadt geblieben. Es handelt sich um Kapiton Alexejewitsch Radomski, den Onkel Jewgeni Pawlowitschs.«

»Nun, was ist mit ihm?« rief der Fürst.

»Er hat sich erschossen, heute morgen um sieben Uhr. Ein allgemein geachteter Greis, siebzigjährig, ein Epikureer. Und ganz wie sie gesagt hat: es fehlen Staatsgelder, eine bedeutende Summe!«

»Woher hat sie denn ...«

»Woher sie das erfahren hat? Haha! Es hat sich ja um sie schon ein ganzer Stab gebildet, sowie sie nur hier erschienen ist. Weißt du nicht, was für Leute sie jetzt besuchen und sich um ›die Ehre ihrer Bekanntschaft‹ bemühen? Sie konnte das heute auf die einfachste Weise von Leuten, die aus der Stadt gekommen waren, erfahren; denn jetzt weiß es schon ganz Petersburg und hier halb Pawlowsk oder auch schon ganz Pawlowsk. Aber wie fein war ihre Bemerkung über die Uniform (sie ist mir wiedererzählt worden), das heißt in bezug darauf, daß Jewgeni Pawlowitsch rechtzeitig den Abschied genommen habe! Das war eine teuflische Anspielung! Nein, das weist nicht auf Geisteskrankheit hin. Ich kann natürlich nicht glauben, daß Jewgeni Pawlowitsch von der Katastrophe etwas im voraus hätte wissen können, das heißt, daß am soundsovielten, um sieben Uhr morgens und so weiter. Aber er konnte all das wenigstens ahnen. Und ich und wir alle, auch Fürst Schtsch., rechneten darauf, daß der Onkel ihm noch eine hübsche Erbschaft hinterlassen werde! Es ist furchtbar! Geradezu furchtbar! Versteh mich übrigens recht: ich spreche gegen Jewgeni Pawlowitsch keinerlei Beschuldigung aus und beeile mich, dir das ausdrücklich zu erklären; aber verdächtig ist die Sache trotz alledem. Fürst Schtsch. ist tief erschüttert. Alles ist so überraschend hereingebrochen.«

»Aber was ist denn an Jewgeni Pawlowitschs Benehmen verdächtig?«

»Gar nichts! Er hat sich in durchaus anständiger Weise benommen. Ich habe ja auch nichts Derartiges angedeutet. Sein eigenes Vermögen, denke ich, ist unversehrt. Lisaweta Prokofjewna will davon natürlich nichts hören ... Aber die Hauptsache sind all diese Familienszenen oder, richtiger gesagt, all diese Zänkereien, man weiß gar nicht, wie man es nennen soll. Du bist ja (das kann man wahrheitsgemäß sagen) ein Freund unseres Hauses, Ljow Nikolajewitsch; nun denk dir einmal, eben kommt zur Sprache, wiewohl nicht in genauer, zuverlässiger Form, daß Jewgeni Pawlowitsch schon vor mehr als einem Monat Aglaja einen Heiratsantrag gemacht und von ihr in aller Form einen Korb erhalten hat.«

»Das ist nicht möglich!« rief der Fürst lebhaft.

»Aber weißt du denn vielleicht etwas darüber? Siehst du, Teuerster«, sagte der General, indem er erschrocken zusammenfuhr und auf dem Fleck wie angenagelt stehenblieb, »ich habe dir vielleicht unpassenderweise mehr gesagt, als ich hätte sagen sollen; aber das ist mir so entschlüpft, weil du ... weil du ... man kann sagen, weil du ein solcher Mensch bist. Vielleicht weißt du irgend etwas Besonderes?«

»Ich weiß nichts ... von Jewgeni Pawlowitsch«, murmelte der Fürst.

»Auch ich weiß nichts! Mich ... mich, lieber Freund, behandeln alle geradezu, als ob ich schon tot und begraben wäre und von nichts mehr zu wissen brauchte, und können dabei gar nicht verstehen, daß das für einen Menschen peinlich ist, und daß ich das nicht ertragen kann. Eben habe ich da eine Szene durchgemacht, es war schrecklich! Ich rede mit dir, wie wenn du mein Sohn wärst. Die Hauptsache ist: Aglaja macht sich geradezu über ihre Mutter lustig. Daß sie anscheinend vor einem Monat Jewgeni Pawlowitsch einen Korb gegeben und daß zwischen ihnen eine ziemlich formelle Auseinandersetzung stattgefunden hat, haben uns die Schwestern als Vermutung mitgeteilt ... übrigens als bestimmte Vermutung. Aber sie ist ja ein so eigenwilliges, phantastisches Wesen, daß es gar nicht zu sagen ist! Sie besitzt die prächtigsten, glänzendsten Eigenschaften des Geistes und Herzens; gewiß, zugegeben; aber dabei ist sie launisch und spottlustig, kurz, ein reiner Kobold, und hat immer phantastische Einfälle. Über ihre Mutter hat sie sich jetzt eben lustig gemacht, ihr gerade ins Gesicht, und ebenso über ihre Schwestern und den Fürsten Schtsch. Von mir brauche ich erst gar nicht zu reden; über mich macht sie sich eigentlich fortwährend lustig; aber, weißt du, ich liebe sie doch und habe es sogar gern, daß sie sich über unsereinen lustig macht – und wie es scheint, liebt mich dieser Kobold deswegen ganz besonders, das heißt mehr, als sie alle andern liebt. Ich möchte darauf wetten, daß sie sich auch über dich schon lustig gemacht hat. Ich fand euch soeben im Gespräch begriffen, als ich von der erregten Szene, die vorher oben stattgefunden hatte, herunterkam; da saß sie mit dir zusammen, als ob nicht das geringste vorgefallen wäre.«

Der Fürst wurde furchtbar rot und preßte seine rechte Hand zusammen; aber er schwieg.

»Mein lieber, guter Ljow Nikolajewitsch!« sagte der General auf einmal mit warmer Empfindung. »Ich ... und sogar Lisaweta Prokofjewna selbst (die übrigens wieder angefangen hat auf dich zu schimpfen und zugleich in zweiter Linie auch auf mich, ich weiß nicht weswegen eigentlich), wir lieben dich trotz alledem, wir lieben und achten dich aufrichtig, trotz aller Äußerlichkeiten. Du mußt aber selbst zugeben, lieber Freund, du mußt aber selbst zugeben: was ist das auf einmal für ein Rätsel und für ein Ärger zu hören, wie dieser kaltblütige Kobold (denn sie stand vor ihrer Mutter da mit einer Miene tiefster

Verachtung für all unsere Fragen und namentlich für die meinigen, weil ich, hol's der Teufel, die Dummheit begangen hatte, Strenge herauskehren zu wollen, da ich doch das Oberhaupt der Familie bin – na, das war eben eine Dummheit), wie dieser kaltblütige Kobold auf einmal lächelnd erklärt, daß diese ›Geisteskranke‹ (so drückte sie sich aus, und es kommt mir merkwürdig vor, daß sie sich desselben Wortes bediente wie du; ›habt ihr denn das noch nicht gemerkt?‹ sagte sie), daß diese Geisteskranke ›es sich in den Kopf gesetzt hat, mich um jeden Preis mit Ljow Nikolajewitsch zu verheiraten, und zu diesem Zweck Jewgeni Pawlowitsch aus unserm Haus herausschaffen möchte‹.

Mehr sagte sie nicht; sie gab keine weiteren Erklärungen, lachte für sich, wir rissen erstaunt den Mund auf, sie ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Dann erzählten mir die Meinigen von der Szene, die sich vorhin zwischen ihr und dir abgespielt hat ... und ... und ... höre mal, lieber Fürst, du bist ein sehr verständiger Mensch und nicht empfindlich, das habe ich an dir wahrgenommen, aber ... werde nicht böse: sie macht sich, weiß Gott, über dich lustig. Wie ein Kind macht sie sich über andere Leute lustig, und darum sei ihr nicht böse, aber es verhält sich entschieden so. Mach dir darüber weiter keine Gedanken – sie hält dich und uns alle einfach zum Narren, aus Langeweile. Aber nun lebe wohl! Du kennst doch unsere Gesinnung? Unsere herzliche Gesinnung gegen dich? Die ist unwandelbar, für alle Zeit und in jeder Hinsicht ... aber ... ich muß jetzt hier abbiegen; auf Wiedersehen! Selten in meinem Leben habe ich mich so unbehaglich gefühlt wie jetzt ... O weh, ist das eine Sommerfrische!«
Als der Fürst an der Straßenkreuzung allein geblieben war, blickte er sich nach allen Seiten um, ging schnell über die Straße hinüber, trat nahe an das erleuchtete Fenster eines Landhauses heran, faltete einen kleinen Zettel auseinander, den er während des ganzen Gesprächs mit Iwan Fjodorowitsch fest in der rechten Hand zusammengedrückt gehalten hatte, und las unter Benutzung des schwachen Lichtschimmers:

»Morgen früh um sieben Uhr werde ich auf der grünen Bank im Park sitzen und Sie erwarten. Ich will mit Ihnen über eine sehr wichtige Angelegenheit reden, die Sie direkt angeht.

PS Ich hoffe, Sie werden diesen Zettel niemandem zeigen. Ich schäme mich zwar, Ihnen erst noch eine solche Instruktion zu geben, habe mir aber gesagt, daß sie bei Ihnen nötig ist, und sie darum hergesetzt, indem ich vor Scham über Ihren komischen Charakter errötete.

PPSS Es ist dieselbe grüne Bank, die ich Ihnen vorhin gezeigt habe. Schämen Sie sich! Ich sah mich genötigt, auch das erst noch herzuschreiben.«

Der Zettel war eilig geschrieben und ohne Sorgfalt zusammengefaltet, aller Wahrscheinlichkeit nach kurz bevor Aglaja nach der Veranda herausgekommen war. In einer unsagbaren Aufregung, die mit Angst Ähnlichkeit hatte, drückte der Fürst den Zettel wieder in der Hand zusammen und sprang schnell wie ein erschreckter Dieb vom Fenster und vom Licht zurück; aber bei dieser Bewegung stieß er auf einmal heftig mit einem Herrn zusammen, der unmittelbar hinter seinen Schultern stand.

»Ich bin Ihnen gefolgt, Fürst«, sagte der Herr.

»Sie sind es, Keller?« rief der Fürst erstaunt.

»Ich möchte mit Ihnen reden, Fürst. Ich habe bei dem Jepantschinschen Landhaus auf Sie gewartet; hineingehen konnte ich natürlich nicht. Ich bin hinter Ihnen hergegangen, während Sie mit dem General gingen. Ich stehe zu Ihren Diensten, Fürst; verfügen Sie über mich nach Belieben. Ich bin bereit, für Sie jedes Opfer zu bringen und, wenn es sein muß, sogar zu sterben.«

»Aber ... weshalb denn?«

»Nun, es wird jetzt jedenfalls eine Herausforderung zum Duell erfolgen. Dieser Leutnant Molowjow ... ich kenne ihn, das heißt nicht persönlich ... er wird die Beleidigung nicht so hinnehmen. Unsereinen, das heißt mich und Rogoschin, hält er natürlich für Plebs, und vielleicht verdientermaßen; auf diese Weise fällt die Verantwortung Ihnen allein zu. Sie werden die zerbrochenen Flaschen bezahlen müssen, Fürst. Er hat sich, wie ich gehört habe, nach Ihnen erkundigt, und es wird sich gewiß morgen einer seiner Freunde bei Ihnen einstellen; vielleicht wartet er auch jetzt schon auf Sie. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mich zu Ihrem Sekundanten zu erwählen, so bin ich bereit, Gut und Blut für Sie zu opfern; darum habe ich Sie aufgesucht, Fürst.«

»Also auch Sie reden mir von einem Duell!« rief der Fürst lachend zu Kellers größtem Erstaunen. Er lachte gewaltig. Keller, der wirklich von Ungeduld gepeinigt worden war, bis er es zu seiner Befriedigung fertiggebracht hatte, sich als Sekundanten anzubieten, fühlte sich beinah beleidigt, als er den Fürsten so heiter lachen sah.

»Sie haben ihn aber vorhin bei den Armen gepackt, Fürst. Das kann sich ein anständiger Mensch vor den Augen des Publikums schwerlich gefallen lassen.«

»Und er hat mich vor die Brust gestoßen!« rief der Fürst lachend. »Wir haben keinen Grund, uns zu duellieren! Ich werde ihn um Verzeihung bitten, und damit ist die Sache erledigt. Wenn es aber zum Duell kommen soll, mir ist's recht! Mag er schießen; ich wünsche es sogar. Haha! Ich verstehe jetzt, eine Pistole zu laden! Wissen Sie wohl, daß mich jemand gelehrt hat, wie man eine Pistole lädt? Sie verstehen eine Pistole zu laden, Keller? Zuerst muß man Pulver kaufen, Pistolenpulver, nicht feuchtes und nicht so grobes wie das, womit man aus Kanonen schießt; dann muß man zuerst das Pulver hineintun, darauf Filz, den man sich von einer Tür verschafft, und dann schiebt man die Kugel hinein, aber nicht die Kugel vor dem Pulver, weil es sonst nicht schießt. Hören Sie wohl, Keller: weil es sonst nicht schießt. Haha! Ist das nicht eine ausgezeichnete Begrüßung, Freund Keller? Ach, Keller, wissen Sie, ich werde Sie gleich umarmen und küssen. Hahaha! Wie ging das nur zu, daß Sie vorhin auf dem Bahnhof so plötzlich vor ihm standen? Kommen Sie möglichst bald einmal zu mir, Champagner trinken! Wir wollen uns alle gehörig bezechen! Wissen Sie, daß ich zwölf Flaschen Champagner in Lebedjews Keller liegen habe? Lebedjew hat sie mir vorgestern als Gelegenheitskauf angeboten, gleich am andern Tag, nachdem ich zu ihm hergezogen war; ich habe sie alle gekauft! Ich werde die ganze Gesellschaft zusammen einladen! Wie ist's, werden Sie heute nacht schlafen?«

»Wie jede Nacht, Fürst.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen angenehme Träume! Haha!«

Der Fürst ging quer über die Straße und verschwand im Park; Keller blieb sehr verwundert und nachdenklich stehen. Er hatte den Fürsten noch nie in einem so sonderbaren Zustand gesehen und ihn sich bisher auch nicht in einem solchen vorstellen können.

»Vielleicht fiebert er; denn er ist ein nervöser Mensch, und das alles hat eine starke Wirkung auf ihn ausgeübt; aber feige ist er gewiß nicht. Gerade solche Leute sind nicht feige, weiß Gott!« dachte Keller bei sich. »Hm! Champagner! Das ist doch eine sehr interessante Mitteilung. Zwölf Flaschen, ein Dutzend; das läßt sich hören; eine ordentliche Batterie! Ich möchte wetten, daß Lebedjew den Champagner von irgend jemand als Pfand bekommen hat. Hm ...! er ist aber doch recht liebenswürdig, dieser Fürst; wirklich, ich habe solche Menschen gern; aber es ist keine Zeit zu verlieren, und ... wenn Champagner da ist, so ist das gerade die richtige Zeit ...«

Daß der Fürst sich in einem fieberhaften Zustand befand, das war natürlich ganz richtig.

Er schweifte lange im dunklen Park umher und wurde sich endlich seiner selbst bewußt, wie er in einer Allee auf und ab ging. In seinem Gedächtnis haftete die Erinnerung, daß er in dieser

Allee, von einer Bank angefangen bis zu einem alten, hohen, auffallenden, nur hundert Schritte von ihr entfernten Baum, bereits etwa dreißig- bis vierzigmal hin und her gegangen war. Sich zu erinnern, was er in dieser Zeit von mindestens einer ganzen Stunde im Park gedacht hatte, war er außerstande, selbst wenn er es gewollt hätte. Er ertappte sich übrigens auf einem Gedanken, der ihn veranlaßte, plötzlich in ein herzliches Gelächter auszubrechen; es war zwar eigentlich kein Grund zum Lachen vorhanden; aber er hatte jetzt immer Lust zu lachen. Es war ihm eingefallen, daß die Idee von einem bevorstehenden Duell auch noch in einem andern Kopf als nur in dem Kellers hatte entstehen können, und daß daher die Geschichte vom Pistolenladen vielleicht nicht zufällig gewesen war ... »Ah!« dachte er und blieb, von einem andern Gedanken erleuchtet, stehen, »vorhin kam sie nach der Veranda herunter, als ich in der Ecke saß, und wunderte sich gewaltig, mich dort zu finden, und lachte so und fing an vom Teetrinken zu reden; und doch hatte sie in diesem Augenblick schon diesen Zettel in der Hand; folglich wußte sie unbedingt, daß ich in der Veranda saß. Warum tat sie denn also so erstaunt? Hahaha!«

Er zog den Zettel aus der Tasche und küßte ihn, blieb dann aber sogleich stehen und versank in Gedanken.

»Wie sonderbar das ist! Wie sonderbar das ist!« sagte er ein Weilchen darauf sogar mit einer Art von Traurigkeit: in Augenblicken einer starken Freudenempfindung wurde er stets traurig, er wußte selbst nicht woher. Er schaute aufmerksam um sich und wunderte sich, daß er hierher geraten war. Er war sehr müde, ging zu der Bank und setzte sich darauf. Ringsum herrschte tiefe Stille. Die Musik beim Bahnhof hatte schon aufgehört. Im Park war vielleicht keine Menschenseele mehr; es war ja auch schon mindestens halb zwölf. Es war eine stille, warme, helle Nacht, so eine echte Petersburger Nacht zu Anfang Juni; aber in dem dichten, schattigen Park und in der Allee, in der er sich befand, war es fast schon ganz dunkel. Wenn ihm jemand in diesem Augenblick gesagt hätte, daß er verliebt, leidenschaftlich verliebt sei, so würde er diesen Gedanken erstaunt und vielleicht sogar entrüstet zurückgewiesen haben. Und wenn jemand hinzugefügt hätte, daß Aglajas Zettelchen ein Liebesbrief sei, die Aufforderung zu einem Liebes-Rendezvous, so würde er sich für ihn in tiefster Seele geschämt und ihn vielleicht zum Duell gefordert haben. Diese seine ganze Anschauung war völlig aufrichtig und durch keinerlei Zweifel getrübt, und er lehnte jede Spur eines »doppelten« Gedankens an die Möglichkeit der Liebe eines solchen Mädchens zu ihm oder gar an die Möglichkeit seiner Liebe zu diesem Mädchen entschieden ab. Eines solchen Gedankens hätte er sich geschämt: die Annahme, daß sie ihn, »einen solchen Menschen, wie er«, lieben könne, hätte er für ungeheuerlich gehalten. Seiner Vorstellung nach handelte es sich von ihrer Seite einfach um Mutwillen, wenn überhaupt etwas dahintersteckte; aber er fand diese Voraussetzung ganz naturgemäß und regte sich über diesen vorausgesetzten Mutwillen nicht auf; etwas ganz anderes war es, was ihn beschäftigte und seine Gedanken in Anspruch nahm. Die Bemerkung, die kurz vorher dem General in seiner Erregung entschlüpft war, daß sie sich über alle und namentlich über ihn, den Fürsten, lustig mache, hielt er für vollkommen richtig. Er fühlte sich dadurch auch nicht im geringsten verletzt; seiner Meinung nach mußte es eben so sein. Die Hauptsache war ihm, daß er sie am nächsten Tag frühmorgens wiedersehen, neben ihr auf der grünen Bank sitzen, die Belehrung über das Laden von Pistolen anhören und sie ansehen werde. Weiter hatte er keinen Wunsch. Die Frage, was sie ihm eigentlich sagen wolle, und was das für eine wichtige, ihn direkt angehende Angelegenheit sei, tauchte ebenfalls ein- oder zweimal in seinem Kopf auf. An der tatsächlichen Existenz dieser »wichtigen Angelegenheit«, um derentwillen er zum Rendezvous bestellt war, zweifelte er keinen Augenblick; aber er dachte an diese wichtige Angelegenheit jetzt fast gar nicht, so wenig, daß er nicht einmal den geringsten Drang verspürte, daran zu denken.

Das Knirschen leiser Schritte auf dem Sand der Allee veranlaßte ihn, den Kopf in die Höhe zu heben. Ein Mensch, dessen Gesicht in der Dunkelheit schwer zu erkennen war, näherte sich der Bank und setzte sich neben ihn. Der Fürst rückte schnell nahe an ihn heran und erkannte das bleiche Gesicht Rogoschins.

»Das habe ich doch gewußt, daß du hier irgendwo umherschweifst; ich habe auch nicht lange zu suchen brauchen«, murmelte Rogoschin durch die Zähne.

Es war das erste Mal seit ihrer Begegnung auf der Treppe des Gasthauses, daß sie miteinander zusammentrafen. Überrascht durch Rogoschins plötzliches Erscheinen konnte der Fürst eine Weile nicht mit seinen Gedanken in Ordnung kommen, und eine qualvolle Empfindung wurde in seinem Herzen wieder wach. Rogoschin hatte offenbar Verständnis für den Eindruck, den er hervorrief; aber obgleich er am Anfang verwirrt zu sein und mit einer Art von gekünstelter Ungezwungenheit zu reden schien, so merkte der Fürst doch bald, daß in Wirklichkeit von Künstelei oder besonderer Verlegenheit bei ihm nicht die Rede war; wenn eine gewisse Ungeschicklichkeit in seinen Gestikulationen und in seiner Redeweise zutage trat, so war das nur äußerlich; im Herzen konnte sich dieser Mensch nicht verändern.

»Wie hast du ... mich denn hier gefunden?« fragte der Fürst, um etwas zu sagen.

»Ich hatte von Keller gehört (ich war nämlich nach deiner Wohnung herangegangen), du wärest in den Park gegangen; na, dachte ich, dann ist die Sache richtig.«

»Was heißt das: ›die Sache ist richtig‹?« fragte der Fürst, indem er aufgeregt den Ausdruck aufgriff, der dem andern entschlüpft war.

Rogoschin lächelte, gab aber keine Erklärung dafür.

»Ich habe deinen Brief erhalten, Ljow Nikolajewitsch; du hast dir unnütze Mühe gemacht ... wozu tust du das nur ...! Jetzt aber komme ich zu dir in ihrem Auftrag: du sollst unbedingt zu ihr kommen; sie hat dir etwas zu sagen. Sie läßt dich bitten, noch heute hinzukommen.«

»Ich werde morgen kommen. Ich gehe jetzt gleich nach Hause. Willst du nicht ... zu mir kommen?«

»Wozu? Ich habe dir alles Nötige gesagt; adieu!«

»Willst du nicht doch mitgehen?« fragte ihn der Fürst leise.

»Du bist ein sonderbarer Mensch, Ljow Nikolajewitsch; man muß sich über dich wundern.«

Rogoschin lächelte spöttisch.

»Warum? Weshalb hast du jetzt einen solchen Groll gegen mich?« fragte ihn der Fürst traurig und mit warmer Empfindung. »Du weißt ja jetzt selbst, daß alles, was du gedacht hast, unwahr ist. Übrigens habe ich es mir auch gedacht, daß dein Groll gegen mich noch nicht vergangen sein würde, und weißt du, weshalb? Weil du mir nach dem Leben getrachtet hast, darum vergeht dein Groll nicht. Ich sage dir, ich erinnere mich nur an jenen Parfen Rogoschin, mit dem ich an jenem Tag das Kreuz gewechselt habe; ich habe dir das in meinem gestrigen Brief geschrieben, damit du diesen ganzen Fieberwahn vergessen und nicht mit mir davon zu reden anfangen möchtest. Warum trittst du von mir weg? Warum versteckst du deine Hand vor mir? Ich sage dir, daß ich alles damals Geschehene nur für einen Fieberwahn halte: ich habe jetzt für dich, wie du an jenem ganzen Tag warst, ein ebenso gutes Verständnis wie für mich selbst. Das, was du dir einbildest, existierte nicht und konnte nicht existieren. Warum soll unser Groll fortdauern?«

»Was kannst du denn für Groll empfinden?« erwiderte Rogoschin, wieder lachend, auf die warmen Worte des Fürsten.

Er stand wirklich etwas von ihm entfernt, da er ein paar Schritte zurückgewichen war, und hielt seine Hände versteckt.

»Es schickt sich jetzt für mich überhaupt nicht, zu dir zu kommen, Ljow Nikolajewitsch«, fügte er langsam und bedeutsam zum Schluß hinzu.

»So sehr haßt du mich also? Wie?«

»Ich liebe dich nicht, Ljow Nikolajewitsch; also, warum sollte ich zu dir kommen? Ach, Fürst, du bist ganz wie ein kleines Kind: du möchtest ein Spielzeug haben; ›gib her, gib her!‹ heißt es; aber du verstehst von dem Spielzeug gar nichts. Was du jetzt sagst, hast du mir alles ganz ebenso in deinem Brief geschrieben; meinst du denn, daß ich dir nicht glaube? Ich glaube jedes Wort, das du sagst, und weiß, daß du mich nie getäuscht hast und nie täuschen wirst; aber ich liebe dich trotzdem nicht. Du schreibst mir, du hättest alles vergessen und erinnertest dich nur an deinen Kreuzbruder Rogoschin, aber nicht an jenen Rogoschin, der damals das Messer gegen dich gezückt habe. Aber woher kennst du denn meine Gefühle?« (Rogoschin lächelte wieder.)

»Ich habe das seitdem vielleicht nie bereut, und du hast mir schon deine brüderliche Verzeihung geschickt. Vielleicht habe ich gleich an jenem selben Abend schon an etwas ganz anderes gedacht und diese Geschichte ...«

»Und diese Geschichte vergessen!« fiel der Fürst ein. »Wie könnte es auch anders sein? Ich möchte wetten, daß du damals geradewegs nach der Bahn gelaufen und hierher nach Pawlowsk zur Musik gefahren und ihr gerade wie heute im Menschengewühl nachgegangen bist und sie beobachtet hast. Das ist mir ganz selbstverständlich! Hättest du dich nicht damals in einem solchen Zustand befunden, daß du nur an das eine denken konntest, so würdest du vielleicht gar nicht das Messer gegen mich erhoben haben. Ich hatte damals schon vom Vormittag an, als ich dich anblickte, so eine Ahnung; weißt du wohl, wie du da aussahst? In dem Augenblick, als wir die Kreuze tauschten, da wurde dieser Gedanke wohl zuerst in mir rege. Warum hast du mich damals zu der alten Frau geführt? Deine Absicht war doch wohl, deine eigene Hand dadurch aufzuhalten? Aber du hast das unmöglich klar gedacht, sondern nur unbestimmt gefühlt, gerade wie ich ... Wir hatten damals beide das gleiche Gefühl. Und hättest du damals deine Hand nicht gegen mich aufgehoben (Gott hat sie abgelenkt), wie würde ich dann jetzt vor dir stehen? Denn ich meinerseits hatte ja doch jenen Verdacht gegen dich; wir haben dieselbe Sünde begangen, die gleiche Sünde! (Runzle nicht die Stirn! Nun, und weshalb lachst du?) Du sagst, du hättest es nicht bereut. Aber wenn du es selbst gewollt hättest, so hättest du es vielleicht doch nicht bereuen können, weil du mich eben nicht liebtest. Und wäre ich dir gegenüber auch so unschuldig wie ein Engel, so wirst du mich trotzdem nicht leiden können, solange du denkst, daß sie nicht dich, sondern mich liebt. Das liegt im Wesen der Eifersucht. Aber nun höre einmal zu, Parfen; ich will dir sagen, zu welchem Resultat mich in dieser Woche mein Nachdenken hat kommen lassen: weißt du wohl, daß sie dich jetzt vielleicht mehr liebt als irgendeinen andern, und zwar in der Weise, daß ihre Liebe um so größer ist, je mehr sie dich quält? Sie wird dir das nicht sagen; aber man muß verstehen, das zu durchschauen. Warum wird sie dich schließlich doch heiraten? Sie wird es dir später einmal selbst sagen. Manche Frauen haben es sogar gern, daß man sie so liebt, und gerade sie hat einen solchen Charakter! Und dein Charakter und deine Liebe haben sicherlich auf sie einen großen Eindruck gemacht! Weißt du, daß eine Frau imstande ist, einen Menschen durch ihre Grausamkeiten und Spöttereien zu martern, ohne dabei die geringsten Gewissensbisse zu verspüren, weil sie jedesmal, wenn sie den Betreffenden ansieht, denkt: ›Jetzt quäle ich ihn halbtot; aber nachher werde ich durch meine Liebe alles wiedergutmachen‹ ...?«

Rogoschin lachte, als er den Fürsten das sagen hörte.

»Hör mal, Fürst, du bist wohl selbst an so eine geraten? Ich habe etwas Derartiges über dich gehört, wenn's wahr ist.«

»Was kannst du gehört haben? Was?« fragte der Fürst, der plötzlich zusammenfuhr und in großer Bestürzung stehenblieb.

Rogoschin fuhr fort zu lachen. Er hatte mit Interesse und vielleicht mit Vergnügen dem Fürsten zugehört; der freudige, warme Affekt des Fürsten imponierte ihm und ermutigte ihn.

»Und ich habe nicht nur etwas gehört, sondern ich sehe jetzt auch selbst, daß es wahr ist«, fügte er hinzu. »Wann hättest du denn jemals so geredet wie jetzt? Deine Reden klingen ja gar nicht, als ob sie von dir kämen. Hätte ich nicht so etwas über dich gehört, so würde ich nicht zu dir gekommen sein, noch dazu in den Park, um Mitternacht.«

»Ich verstehe dich absolut nicht, Parfen Semjonowitsch.«

»Sie hat mir das schon vor längerer Zeit von dir gesagt, und vorhin habe ich es mit eigenen Augen gesehen, als du mit der andern bei der Musik saßest. Sie hat mir geschworen, gestern und heute hat sie mir geschworen, daß du in Aglaja Jepantschina wie ein Kater verliebt seist. Mir ist das ganz gleichgültig, Fürst, das geht mich nichts an: wenn du sie auch nicht mehr liebst, so liebt doch sie dich noch immer. Du weißt ja, daß sie aus dir und jener andern unter allen Umständen ein Paar machen will; das hat sie sich nun einmal in den Kopf gesetzt, hehe! Sie sagt zu mir: ›Sonst heirate ich dich nicht; wenn die beiden zum Traualtar gehen, dann wollen wir es auch tun.‹ Was das zu bedeuten hat, habe ich nie begriffen und begreife ich auch jetzt nicht: entweder liebt sie dich grenzenlos, oder ... Wenn sie dich liebt, wie kann sie dann wünschen, daß du eine andere heiratest? Sie sagt: ›Ich will ihn glücklich sehen‹; also liebt sie dich.«

»Ich habe dir gesagt und geschrieben, daß sie ... nicht ihren Verstand hat«, sagte der Fürst, der dies mit innerer Qual angehört hatte.

»Gott mag's wissen! Vielleicht irrst du dich auch darin ... Übrigens hat sie heute, als ich sie von der Musik nach Hause brachte, unsern Hochzeitstag bestimmt: ›In drei Wochen‹, sagt sie, ›vielleicht auch schon früher, wollen wir uns trauen lassen‹; sie hat es geschworen, hat das Heiligenbild von der Wand genommen und geküßt. Also hängt die Sache jetzt von dir ab, Fürst, hehe!«

»Das ist lauter irres Gerede! Das, was du da von mir sagst, kann nie geschehen! Ich werde morgen zu euch kommen ...«

»Wie soll sie denn geisteskrank sein?« bemerkte Rogoschin. »Allen andern scheint sie bei Verstand zu sein, und nur du hältst sie für gestört. Wie könnte sie denn Briefe dorthin schreiben? Wenn sie geisteskrank wäre, dann würde es doch auch dort an den Briefen gemerkt werden.«

»Was für Briefe?« fragte der Fürst erschrocken.

»Sie schreibt dorthin, an die andere, und die liest es. Weißt du das denn nicht? Na, dann wirst du es schon noch erfahren; sie wird dir die Briefe schon selbst zeigen.«

»Das ist unglaublich!« rief der Fürst.

»O weh! Du, Ljow Nikolajewitsch, hast, wie ich sehe, auf diesem Gebiet noch nicht viel Erfahrung, sondern bist noch ein Anfänger. Warte nur ein bißchen: du wirst schon deine eigene Polizei unterhalten und selbst Tag und Nacht auf dem Posten sein und jeden Schritt der Gegenseite in Erfahrung bringen, wenn du nur erst ...«

»Laß das und rede nie wieder davon!« rief der Fürst. »Höre, Parfen, ich bin hier soeben, bevor du kamst, umhergegangen und fing auf einmal an zu lachen; worüber, weiß ich nicht; aber der äußere Anlaß war, daß mir einfiel, daß morgen gerade mein Geburtstag ist. Jetzt ist es bald zwölf Uhr. Komm mit; wir wollen den Tag zusammen begrüßen! Ich habe Wein zu Hause; den wollen wir trinken, wünsche du mir das, was ich selbst mir jetzt nicht zu wünschen weiß; ich lege Wert darauf, daß gerade du es mir wünschst; und ich werde dir wünschen, daß du vollkommen glücklich werden mögest. Sonst mußt du mir das Kreuz zurückgeben! Du hast mir das Kreuz damals doch nicht am nächsten Tag zurückgeschickt! Du trägst es doch noch? Trägst du es auch in diesem Augenblick?«

»Ja, ich trage es«, antwortete Rogoschin.

»Nun, dann wollen wir gehen! Ich will mein neues Leben nicht ohne dich antreten; denn es hat allerdings ein neues Leben für mich begonnen! Weißt du es nicht, Parfen, daß heute für mich ein neues Leben begonnen hat?«

»Jetzt sehe ich selbst und weiß selbst, daß das der Fall ist; ich werde es auch ihr berichten. Du bist ja ganz außer dir, Ljow Nikolajewitsch!«

IV

Mit großem Vergnügen bemerkte der Fürst, als er sich seinem Landhaus mit Rogoschin näherte, daß in seiner hellerleuchteten Veranda eine zahlreiche, lärmende Gesellschaft versammelt war. Es wurde lustig gelacht und geredet; anscheinend wurde sogar unter Geschrei debattiert; man erkannte beim ersten Blick, daß diese Leute die Zeit höchst heiter zubrachten. Und wirklich sah er, als er zur Veranda hinaufgestiegen war, daß alle tranken, Champagner tranken, und dies, wie es schien, schon ziemlich lange getan hatten, so daß viele der Zechenden sich bereits in einem sehr angenehmen, angeregten Zustand befanden. Die Gäste waren lauter Bekannte des Fürsten; aber es war merkwürdig, daß sie sich alle auf einmal wie auf eine Einladung zusammengefunden hatten, obgleich der Fürst in Wirklichkeit niemanden eingeladen und sich an seinen Geburtstag selbst soeben nur zufällig erinnert hatte.

»Du hast gewiß jemandem mitgeteilt, daß du Champagner spendierst, und da sind sie zusammengelaufen«, murmelte Rogoschin, als er hinter dem Fürsten her die Veranda betrat. »Das kenne ich; solchen Leuten braucht man nur zu pfeifen ...«, fügte er ingrimmig hinzu, offensichtlich in Erinnerung an seine eigene, noch nicht weit zurückliegende Vergangenheit.

Alle begrüßten den Fürsten mit Freudenrufen und Glückwünschen und umringten ihn. Manche machten dabei viel Lärm, andere benahmen sich ruhiger; aber alle beeilten sich, ihm zu gratulieren, da sie von seinem Geburtstag gehört hatten, und jeder wartete auf den Augenblick, wo er an die Reihe kommen würde. Die Anwesenheit mancher Persönlichkeiten, so zum Beispiel Burdowskis, war dem Fürsten interessant; aber am erstaunlichsten war es ihm, daß sich auch Jewgeni Pawlowitsch in dieser Gesellschaft befand; der Fürst traute kaum seinen Augen und bekam beinah einen Schreck, als er ihn erblickte. Unterdessen kam auch Lebedjew, mit gerötetem Gesicht und sehr enthusiasmiert, herbeigelaufen und erklärte den Hergang; er war schon in hohem Grade »fertig«. Aus seinem Geschwätz war zu entnehmen, daß alle sich in ganz natürlicher Weise, ja zufällig zusammengefunden hatten. Am frühesten von allen, noch vor dem Abend, war Ippolit gekommen und hatte, da er sich weit besser fühlte, den Fürsten in der Veranda zu erwarten gewünscht. Er hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht; dann war Lebedjew zu ihm hinzugekommen, hierauf dessen ganze Familie, das heißt General Iwolgin und die Töchter. Burdowski war mit Ippolit zugleich angekommen, den er herbegleitet hatte. Ganja und Ptizyn waren erst vor kurzem, als sie gerade vorübergingen, eingetreten (ihr Erscheinen fiel mit den Vorgängen am Bahnhof zusammen); darauf war Keller erschienen, hatte von dem Geburtstag Mitteilung gemacht und Champagner verlangt. Jewgeni Pawlowitsch hatte sich erst vor einer halben Stunde eingefunden. Auf das Champagnertrinken und die Veranstaltung eines Festes hatte auch Kolja mit aller Energie gedrungen. Lebedjew hatte bereitwillig Wein auf den Tisch gebracht.

»Aber von meinem eigenen, von meinem eigenen!« beteuerte er dem Fürsten lallend. »Auf meine eigenen Kosten, um Ihren Geburtstag festlich zu begehen und Ihnen zu gratulieren; es wird auch etwas zu essen geben, einen Imbiß; meine Tochter ist schon dabei, das zu besorgen. Aber wenn Sie wüßten, Fürst, über welches Thema wir gerade debattieren! Erinnern Sie sich an die Stelle im Hamlet: ›Sein oder nicht sein‹? Das ist ein zeitgemäßes Thema, ein sehr zeitgemäßes Thema! Wir werfen Fragen auf und beantworten sie ... Auch Herr Terentjew ist im höchsten Grade ... er ist gar nicht müde! Von dem Champagner hat er nur genippt, nur genippt; das kann ihm nicht schaden ... Treten Sie näher, Fürst, und geben Sie bei unserer Debatte die Entscheidung! Alle haben wir nur auf Sie gewartet und auf Ihren glücklichen Verstand ...«

Der Blick des Fürsten begegnete dem lieben, freundlichen Blick Wjera Lebedjewas, die sich ebenfalls eilig bemühte, durch den Schwarm zu ihm hindurchzudringen. Mit Übergehung aller andern streckte er ihr zuerst die Hand hin; sie errötete vor Freude und wünschte ihm, daß er von diesem Tag an immer glücklich leben möge. Dann lief sie schleunigst in die Küche, wo sie den Imbiß herrichtete; aber auch vor der Ankunft des Fürsten war sie mehrmals, sowie sie sich nur für ein Weilchen von ihrer Arbeit hatte losmachen können, in der Veranda erschienen und hatte bei den keinen Augenblick verstummenden hitzigen Debatten der angetrunkenen Gäste über ganz abstrakte und ihr ganz fernliegende Gegenstände eifrig zugehört. Ihre jüngere Schwester, die immer den Mund offenhielt, war in dem anstoßenden Zimmer auf einem Schlafkasten eingeschlafen; der Knabe aber, Lebedjews Sohn, stand neben Kolja und Ippolit, und schon sein begeisterter Gesichtsausdruck zeigte, daß er bereit war, hier noch lange in genußreichem Zuhören auf einem Fleck stehenzubleiben, selbst zehn Stunden hintereinander.

»Ich habe speziell auf Sie gewartet und freue mich außerordentlich, daß Sie in so glücklicher Stimmung gekommen sind«, sagte Ippolit, als der Fürst unmittelbar nach Begrüßung Wjeras zu ihm trat, um ihm die Hand zu drücken.

»Aber woher wissen Sie, daß ich mich in glücklicher Stimmung befinde?«

»Das sieht man Ihnen am Gesicht an. Begrüßen Sie die Herren, und setzen Sie sich sobald wie möglich hierher zu mir! Ich habe speziell auf Sie gewartet«, fügte er hinzu, indem er einen bedeutsamen Nachdruck darauf legte, daß er gewartet habe. Auf die Bemerkung des Fürsten, ob ihm das lange Aufbleiben auch nicht schädlich sein werde, erwiderte er, er wundere sich selbst darüber, daß er vor drei Tagen habe sterben wollen; er habe sich nie wohler gefühlt als an diesem Abend.

Burdowski sprang auf und murmelte, er sei nur so zufällig ... er habe Ippolit herbegleitet und freue sich ebenfalls; in dem Brief habe er allerlei Unsinn geschrieben, aber jetzt freue er sich einfach ... Er sprach nicht zu Ende, drückte dem Fürsten kräftig die Hand und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

Nach Begrüßung aller andern trat der Fürst auch zu Jewgeni Pawlowitsch. Dieser faßte ihn sogleich unter den Arm.

»Ich möchte Ihnen nur ein paar Worte sagen«, flüsterte er ihm zu, »und zwar in einer überaus wichtigen Angelegenheit. Lassen Sie uns einen Augenblick beiseite treten.«

»Nur ein paar Worte!« flüsterte eine andere Stimme dem Fürsten in das andere Ohr, und eine andere Hand faßte ihn von der anderen Seite unter den Arm.

Der Fürst erblickte mit Erstaunen eine Gestalt mit gerötetem, blinzelndem, lachendem Gesicht und wirrem Haar und erkannte im gleichen Augenblick Ferdyschtschenko, der sich Gott weiß woher hier wieder eingefunden hatte.

»Erinnern Sie sich noch an Ferdyschtschenko?« fragte dieser.

»Wo kommen Sie denn her?« rief der Fürst.

»Er bereut!« rief der herbeilaufende Keller. »Er hatte sich versteckt und wollte nicht zu uns herauskommen; er hatte sich da hinten in einem Winkel versteckt; er bereut, Fürst; er fühlt sich schuldig.«

»Schuldig? Wieso?«

»Ich habe ihn getroffen, Fürst; ich habe ihn vorhin eben getroffen und mit hergebracht; er ist einer meiner besten Freunde; aber er bereut.«

»Ich freue mich sehr, meine Herren; gehen Sie nur, und setzen Sie sich dort zu den andern; ich komme auch gleich«, sagte der Fürst, indem er sich endlich losmachte und zu Jewgeni Pawlowitsch eilte.

»Es ist ja hier bei Ihnen sehr amüsant«, bemerkte dieser, »und ich habe mit Vergnügen eine halbe Stunde lang auf Sie gewartet. Was ich sagen wollte, liebster Ljow Nikolajewitsch: ich habe alles mit Kurmyschew geordnet und kam her, um Sie zu beruhigen; Sie brauchen sich nicht darüber aufzuregen; er hat die Sache sehr, sehr vernünftig aufgefaßt, was auch um so näher lag, da er meiner Ansicht nach selbst die meiste Schuld hatte.«

»Mit was für einem Kurmyschew?«

»Nun, mit dem, den Sie vorhin an den Armen gepackt haben ... Er war so wütend, daß er schon beabsichtigte, morgen zu Ihnen zu schicken und Genugtuung zu fordern.«

»Ich bitte Sie, was für ein Unsinn!«

»Natürlich ist es ein Unsinn; und die Sache wäre auch sicher harmlos erledigt worden; aber diese Leute sind bei uns in Rußland ...«

»Sie sind vielleicht auch noch zu einem andern Zweck hergekommen, Jewgeni Pawlowitsch?«

»Oh, natürlich noch zu einem andern Zweck!« versetzte dieser lachend. »Lieber Fürst, ich fahre morgen bei Tagesanbruch in dieser unglücklichen Angelegenheit (nun ja, ich meine in der Sache mit meinem Onkel) nach Petersburg. Denken Sie sich nur: es ist alles wahr, und alle Leute wissen davon mehr als ich. Mich hat die Sache so ergriffen, daß ich heute nicht mehr dazu gekommen bin, dorthin« (zu Jepantschins) »zu gehen, und morgen werde ich es ebenfalls nicht können, weil ich in Petersburg sein werde; Sie verstehen? Vielleicht werde ich ungefähr drei Tage von hier abwesend sein – kurz gesagt, meine Sachen stehen übel. Obwohl es eine Sache von allergrößter Wichtigkeit ist, habe ich es doch für das Richtige gehalten, mich Ihnen gegenüber in der offenherzigsten Weise und ohne Zeitverlust, das heißt noch vor meiner Abreise, auszusprechen. Ich werde jetzt, wenn es Ihnen recht ist, noch ein Weilchen hier sitzenbleiben und warten, bis die Gesellschaft auseinandergeht; überdies wüßte ich auch nicht, was ich sonst anfangen sollte: ich bin so aufgeregt, daß ich mich gar nicht schlafen legen werde. Endlich möchte ich Ihnen noch eins geradeheraus sagen: obwohl es gewissenlos und unschicklich ist, sich jemandem so geradezu aufzudrängen, so bin ich doch hergekommen, um Ihre Freundschaft zu werben, mein lieber Fürst; Sie sind ein unvergleichlicher Mensch, das heißt, Sie lügen nicht auf Schritt und Tritt und vielleicht überhaupt nicht, und ich bedarf in einer gewissen Angelegenheit eines Freundes und Ratgebers, weil ich jetzt tatsächlich ein unglücklicher Mensch bin ...«

Er lachte wieder auf.

»Das Schlimme ist nur«, sagte der Fürst, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, »Sie wollen warten, bis diese Leute auseinandergehen; aber weiß Gott, wann das geschehen wird. Wäre es nicht das beste, wenn wir jetzt in den Park gingen? Gewiß werden sie ein Weilchen warten; ich werde mich entschuldigen.«

»Nein, nein, ich möchte aus bestimmten Gründen bei ihnen nicht den Verdacht aufkommen lassen, als führten wir ein Gespräch mit besonderen Absichten; es sind hier Leute darunter, die sich sehr für unsere Beziehungen interessieren – wissen Sie das nicht, Fürst? Es wird weit besser sein, wenn sie sehen, daß wir auch ohnehin in sehr freundschaftlichen Beziehungen stehen und nicht nur in besonderen Fällen miteinander zu schaffen haben; verstehen Sie wohl? Sie werden nach etwa zwei Stunden auseinandergehen; dann möchte ich Sie zwanzig Minuten in Anspruch nehmen – nun, oder eine halbe Stunde ...«

»Aber ich bitte sehr, mit Vergnügen; ich freue mich sehr darauf, mit Ihnen zu reden, auch wenn es sich nicht um besondere Eröffnungen handelt; und für Ihre liebenswürdigen Worte über unsere freundschaftlichen Beziehungen danke ich Ihnen herzlich. Sie entschuldigen, daß ich heute zerstreut bin; wissen Sie, ich kann mich augenblicklich schlechterdings nicht zur Aufmerksamkeit zwingen.«

»Ich sehe, ich sehe«, murmelte Jewgeni Pawlowitsch mit einem leisen Lächeln.

Er war an diesem Abend überhaupt sehr zum Lachen aufgelegt.

»Was sehen Sie denn?« fragte der Fürst erschrocken.

»Hegen Sie denn gar keinen Verdacht, lieber Fürst«, sagte Jewgeni Pawlowitsch, immer noch lächelnd, ohne auf die direkte Frage zu antworten, »hegen Sie denn gar keinen Verdacht, daß ich einfach hergekommen bin, um Sie hinters Licht zu führen und so nebenbei etwas von Ihnen herauszubekommen, wie?«

»Daß Sie hergekommen sind, um etwas von mir herauszubekommen, daran ist kein Zweifel«, antwortete der Fürst lachend, »und vielleicht haben Sie sich auch vorgenommen, mich ein bißchen zu betrügen. Aber nur zu! Ich fürchte mich vor Ihnen nicht; und außerdem ist es mir jetzt ganz gleichgültig, sollten Sie es glauben? Und ... und ... und da ich vor allem überzeugt bin, daß Sie trotzdem ein vortrefflicher Mensch sind, so werden wir möglicherweise wirklich am Ende Freundschaft miteinander schließen. Sie haben mir sehr gefallen, Jewgeni Pawlowitsch; Sie ... sind meiner Ansicht nach ein sehr anständiger Mensch!«

»Nun, jedenfalls ist es sehr angenehm, mit Ihnen etwas zu tun zu haben, mag es sein, was es will«, schloß Jewgeni Pawlowitsch. »Kommen Sie, ich will ein Glas auf Ihre Gesundheit trinken; ich bin sehr zufrieden, daß ich mich an Sie herangemacht habe. Ah!« unterbrach er sich plötzlich. »Ist dieser Herr Ippolit vollständig zu Ihnen übergesiedelt?«

»Ja.«

»Ich meine, er wird nicht so bald sterben.«

»Wieso meinen Sie das?«

»Ich denke es mir so; ich habe hier eine halbe Stunde in seiner Gesellschaft verbracht ...«

Ippolit wartete diese ganze Zeit über auf den Fürsten und blickte ununterbrochen nach ihm und Jewgeni Pawlowitsch hin, während die beiden abseits standen und miteinander redeten. Er zeigte eine krankhafte Lebhaftigkeit, als sie an den Tisch traten. Er war unruhig und aufgeregt; der Schweiß war ihm auf die Stirn getreten. In seinen funkelnden Augen kam außer einer dauernden unsteten Unruhe auch eine unbestimmte Ungeduld zum Ausdruck; sein Blick irrte ziellos von einem Gegenstand zum andern, von einer Person zur andern. Er hatte sich zwar an dem gemeinsamen lärmenden Gespräch bisher stark beteiligt; aber sein Eifer hatte etwas Fieberhaftes; im Grunde wendete er dem Gespräch wenig Aufmerksamkeit zu; was er in der Debatte vorbrachte, war unzusammenhängend und klang spöttisch; mit einer gewissen Geringschätzung warf er paradoxe Bemerkungen hin; er sprach seine Gedanken nicht bis zu Ende aus und ließ ein Thema, über das er eine Minute vorher selbst mit glühendem Eifer zu sprechen begonnen hatte, schnell wieder fallen.

Der Fürst erfuhr mit Verwunderung und Bedauern, daß man ihn an diesem Abend schon zwei volle Gläser Champagner ungehindert hatte trinken lassen, und daß das vor ihm stehende angefangene Glas schon das dritte war. Aber er erfuhr dies erst nachher; augenblicklich war er nicht imstande, seine Umgebung genau zu beobachten.

»Wissen Sie, ich freue mich außerordentlich darüber, daß gerade heute Ihr Geburtstag ist!« rief Ippolit.

»Warum denn?«

»Das werden Sie bald sehen; setzen Sie sich nur schnell her! Erstens schon deswegen, weil hier alle unsere Leute zusammengekommen sind. Ich hatte darauf gerechnet, daß Leute hier sein würden; zum erstenmal in meinem Leben hat sich eine von mir angestellte Rechnung als richtig erwiesen! Aber schade, daß ich von Ihrem Geburtstag nichts gewußt habe; sonst hätte ich ein Geschenk mitgebracht ... haha! Ja, vielleicht habe ich aber wirklich eines mitgebracht! Dauert es noch lange, bis es Tag wird?«

»Bis zum Tagesanbruch dauert es nicht mehr ganz zwei Stunden«, sagte Ptizyn nach einem Blick auf die Uhr.

»Wozu braucht es jetzt erst noch Tag zu werden, wo man draußen auch ohne das lesen kann?« bemerkte jemand.

»Damit ich ein Stückchen Rand von der Sonne sehen kann. Kann man auf die Gesundheit der Sonne trinken, Fürst? Wie denken Sie darüber?«

Ippolit stellte seine Fragen in scharfem Ton und wendete sich ungeniert, wie wenn er kommandierte, an alle, schien sich aber dessen selbst nicht bewußt zu sein.

»Trinken wir darauf, meinetwegen! Nur sollten Sie sich beruhigen, Ippolit; nicht?«

»Sie reden immer von Schlafen; Sie sind meine Kinderfrau, Fürst! Sobald die Sonne erscheint und am Himmel ertönt (wer hat das doch in einem Gedicht gesagt: ›Die Sonn' ertönte schon am Himmel‹? Es ist sinnlos, aber schön!) – dann will ich mich schlafen legen. Lebedjew! Die Sonne ist ja wohl die Quelle des Lebens? Was bedeuten die ›Quellen des Lebens‹ in der Offenbarung des Johannes? Sie haben wohl von dem Wermutstern gehört, Fürst?«

»Ich habe gehört, daß Lebedjew diesen Wermutstern als das Eisenbahnnetz erklärt, das Europa überzieht.«

»Nein, erlauben Sie; das ist nicht gestattet!« schrie Lebedjew, indem er aufsprang und lebhaft mit den Armen gestikulierte, wie wenn er das allgemeine Gelächter, das sich erhob, hemmen wollte. »Erlauben Sie! Mit diesen Herren ... all diese Herren ...«, wandte er sich plötzlich an den Fürsten, »das ist in mehreren Punkten gegen die Verabredung; hören Sie nur ...«

Und er schlug sehr ungezwungen zweimal auf den Tisch, wodurch das Gelächter noch ärger wurde.

Lebedjew befand sich nicht nur in seinem gewöhnlichen »Abendzustand«, sondern es kam diesmal auch noch hinzu, daß er durch die vorhergehende lange »gelehrte« Debatte besonders aufgeregt und gereizt war; in solchen Fällen benahm er sich gegen seine Opponenten mit grenzenloser und im höchsten Grade offenherziger Geringschätzung. »Das ist nicht gestattet! Fürst, vor einer halben Stunde haben wir eine Verabredung getroffen: es darf niemand unterbrochen werden; es darf nicht gelacht werden, solange jemand spricht; es soll jeder alles frei heraus sagen dürfen. Nachher können ja auch die Atheisten, wenn sie wollen, ihre Erwiderungen vorbringen. Wir haben den General als Vorsitzenden eingesetzt; jawohl! Denn wie würde es sonst zugehen? Man könnte jeden, der eine hohe Idee, eine tiefsinnige Idee vorbringt, konfus machen ...«

»Reden Sie doch, reden Sie doch! Niemand wird Sie stören!« riefen mehrere.

»Reden Sie; aber reden Sie nicht zu viel Unsinn!«

»Was ist das für ein Wermutstern?« erkundigte sich jemand.

»Ich habe keine Ahnung!« antwortete General Iwolgin und nahm mit wichtiger Miene den ihm vorhin zuerkannten Platz als Vorsitzender ein.

»Ich liebe all diese gereizten Debatten außerordentlich, Fürst, natürlich nur Debatten über gelehrte Themata«, murmelte unterdessen Keller, der in höchster Begeisterung und Ungeduld auf seinem Stuhl hin und her rückte, »über gelehrte und politische Themata«, wandte er sich plötzlich und unerwartet an Jewgeni Pawlowitsch, der in seiner Nähe saß. »Wissen Sie, ich lese furchtbar gern in den Zeitungen die Berichte über die Sitzungen des englischen Parlaments, das heißt, mich interessieren dabei nicht die Gegenstände, über die sie beraten (wissen Sie, ich bin kein Politiker), sondern die Art, wie sie untereinander reden und sich sozusagen wie Staatsmänner benehmen: ›Der sehr ehrenwerte Vicomte, der mir gegenüber sitzt‹, ›der sehr ehrenwerte Graf, der meine Ansicht teilt‹, ›mein sehr ehrenwerter Gegner, der durch seinen Antrag Europa in Erstaunen versetzt hat‹, das heißt diese ganze Ausdrucksweise, dieser ganze Parlamentarismus eines freien Volkes – das hat für unsereinen etwas Verlockendes. Dafür begeistere ich mich, Fürst. Ich bin immer in tiefster Seele ein Künstler gewesen, das schwöre ich Ihnen, Jewgeni Pawlowitsch.«

»Und was ist nun das Resultat aus alledem?« ereiferte sich Ganja an einer andern Ecke des Tisches. »Ihrer Meinung nach ergibt sich daraus, daß die Eisenbahnen verflucht sind, daß sie das Verderben der Menschheit sind, daß sie eine Pest sind, die die Erde befallen hat, um die ›Quellen des Lebens‹ zu trüben?«

Gawrila Ardalionowitsch befand sich, wie es dem Fürsten schien, an diesem Abend in einer besonders angeregten, heiteren und beinah triumphierenden Stimmung.
Mit Lebedjew trieb er offenbar Scherz, indem er ihn aufstachelte; aber er wurde dabei bald selbst hitzig.

»Nicht die Eisenbahnen, nein!« versetzte Lebedjew, der zu gleicher Zeit außer sich geriet und einen maßlosen Genuß empfand. »Was die Quellen des Lebens trübt, das sind nicht speziell die Eisenbahnen; sondern all diese verdammten Dinge zusammen sind verflucht; diese ganze Richtung der letzten Jahrhunderte mit ihren gesamten wissenschaftlichen und praktischen Zielen ist vielleicht tatsächlich verflucht.«

»Tatsächlich verflucht, oder nur vielleicht verflucht? Das zu wissen ist wichtig«, fragte Jewgeni Pawlowitsch.

»Verflucht, verflucht, tatsächlich verflucht!« versicherte Lebedjew hitzig.

»Übereilen Sie sich nicht, Lebedjew; Sie sind morgens immer viel gutmütiger«, bemerkte Ptizyn lächelnd.

»Aber dafür bin ich abends offenherziger! Abends bin ich vertraulicher und offenherziger!« rief Lebedjew, sich mit Lebhaftigkeit zu ihm wendend. »Aufrichtiger und bestimmter, ehrlicher und achtbarer; und wenn ich euch auch allen damit ins Gesicht schlage, das ist mir ganz gleichgültig. Jetzt fordere ich euch alle heraus, euch Atheisten alle: wodurch werdet ihr die Welt retten, und wodurch habt ihr für die Welt den rechten Weg gefunden, ihr Männer der Wissenschaft und der Industrie, die ihr immer von Verbänden und Arbeitslöhnen und solchen Dingen redet? Wodurch? Durch den Kredit? Was ist das für ein Ding, der Kredit? Wohin wird euch der Kredit führen?«

»Sind Sie aber mal neugierig!« bemerkte Jewgeni Pawlowitsch.

»Meiner Ansicht nach ist jeder, der sich für solche religiösen Fragen nicht interessiert, ein geckenhafter Hohlkopf!«

»Aber der Kredit hat doch die Wirkung, die Interessen solidarisch zu machen und ins Gleichgewicht zu setzen«, bemerkte Ptizyn.

»Weiter aber auch nichts, weiter nichts! Von irgendeiner sittlichen Grundlage ist dabei nicht die Rede, sondern nur von einer Befriedigung des persönlichen Egoismus und des materiellen Bedürfnisses. Der allgemeine Friede, das allgemeine Glück soll durch die Befriedigung des Bedürfnisses herbeigeführt werden? Wenn ich mir die Frage erlauben darf: verstehe ich Sie da auch recht, mein Herr?«

»Aber es ist doch ein allgemeines Bedürfnis, zu leben, zu essen und zu trinken, und die wissenschaftlich völlig feststehende Überzeugung, daß dieses Bedürfnis nur durch einen allgemeinen Zusammenschluß und eine Solidarität der Interessen befriedigt werden kann, ist, wie mir scheint, ein Gedanke von hinreichender Kraft, um als Stützpunkt und ›Quelle des Lebens‹ für künftige Jahrhunderte der Menschheit zu dienen«, bemerkte Ganja, der jetzt im Ernst hitzig geworden war.

»Das Bedürfnis zu essen und zu trinken, das heißt also nur der Selbsterhaltungstrieb ...«

»Genügt etwa der bloße Selbsterhaltungstrieb nicht? Der Selbsterhaltungstrieb ist doch das Fundamentalgesetz der Menschheit ...«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« rief auf einmal Jewgeni Pawlowitsch. »Daß er ein Gesetz ist, das ist richtig; aber fundamental ist dieses Gesetz nicht in höherem Grade als das Gesetz des Zerstörungstriebes und vielleicht auch als das vom Trieb der Selbstzerstörung. Besteht denn etwa das ganze Fundamentalgesetz der Menschheit einzig und allein im Selbsterhaltungstrieb?«

»Ah!« rief Ippolit, indem er sich schnell zu Jewgeni Pawlowitsch hinwandte und ihn mit scheuer Neugier betrachtete; aber als er sah, daß dieser lachte, lachte er ebenfalls, stieß den neben ihm stehenden Kolja an und fragte ihn wieder, was die Uhr sei; ja, er zog sogar Koljas silberne Taschenuhr selbst zu sich heran und blickte eifrig nach den Zeigern.

Dann streckte er sich, wie wenn er alles vergessen hätte, auf dem Sofa aus, legte die Hände hinter den Kopf und sah nach der Decke; aber eine halbe Minute darauf saß er schon wieder aufrecht am Tisch und hörte das Geschwätz Lebedjews mit an, der im höchsten Grade hitzig geworden war.

»Das ist ein heimtückischer, spöttischer, aufstachelnder Gedanke!« erwiderte Lebedjew eifrig auf Jewgeni Pawlowitschs paradoxe Behauptung. »Ein Gedanke, den Sie nur mit der Absicht ausgesprochen haben, die Gegner zum Kampf aufzuhetzen – aber ein richtiger Gedanke! Denn Sie als weltlich gesinnter Spötter und Kavallerist (wiewohl Sie nicht ohne Fähigkeiten sind) wissen selbst nicht, ein wie tiefsinniger, wahrer Gedanke Ihr Gedanke ist! Jawohl! Das Gesetz der Selbstzerstörung und das Gesetz der Selbsterhaltung sind in der Menschheit gleich stark! Wie Gott, so beherrscht in gleicher Weise der Teufel die Menschheit bis zu einem uns noch unbekannten Zeitpunkt. Sie lachen? Sie glauben nicht an den Teufel? Der Unglaube an den Teufel ist ein französischer Gedanke, ein leichtfertiger Gedanke. Wissen Sie, wer der Teufel ist? Kennen Sie seinen Namen? Und obgleich Sie nicht einmal seinen Namen kennen, lachen Sie wie Voltaire über seine Gestalt, über seine Hufe, seinen Schwanz und seine Hörner, die Sie doch selbst erfunden haben; denn der böse Geist ist ein großer, furchtbarer Geist und hat keine Hufe und Hörner, die Sie ihm andichten. Aber darum handelt es sich jetzt nicht.«

»Woher wissen Sie, daß es sich jetzt nicht um ihn handelt?« rief Ippolit plötzlich und lachte wie in einem krampfhaften Anfall.

»Das ist ein geschickter Gedanke, der eine feine Andeutung enthält!« lobte Lebedjew. »Aber dennoch handelt es sich nicht darum, sondern wir beschäftigen uns mit der Frage, ob nicht ›die Quellen des Lebens‹ abnehmen infolge des Wachstums ...«

»Der Eisenbahnen?!« rief Kolja.

»Nicht der Eisenbahnverbindungen, Sie junger Hitzkopf, sondern jener ganzen Richtung, für die die Eisenbahnen sozusagen als Illustration, als künstlerischer Ausdruck dienen können. Man eilt und lärmt und pocht und hastet, wie man sagt, um die Menschheit glücklich zu machen! ›Es wird gar zu geräuschvoll und industriös in der Menschheit; es gibt zu wenig geistige Ruhe‹, klagt ein Denker, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat. ›Das mag sein; aber das Rasseln der Lastwagen, die der hungrigen Menschheit Brot zuführen, ist vielleicht noch besser als die geistige Ruhe‹, erwidert ihm siegesgewiß ein anderer Denker, einer der überall geschäftig umherreist, und geht eitel und selbstgefällig von ihm weg. Aber ich, der schändliche Lebedjew, glaube nicht an die Lastwagen, die der Menschheit Brot zuführen! Denn die Lastwagen, die der ganzen Menschheit Brot zuführen sollen, können, wenn es ihnen an einer sittlichen Grundlage für ihr Handeln fehlt, auch ganz kaltblütig einen beträchtlichen Teil der Menschheit von dem Genuß des zugeführten Brotes ausschließen, was auch schon dagewesen ist ...«

»Die Lastwagen können ganz kaltblütig ausschließen?« fragte jemand.

»Was auch schon dagewesen ist«, wiederholte Lebedjew, ohne die Frage irgendwelcher Beachtung zu würdigen. »Es hat schon einen Menschenfreund wie Malthus gegeben. Aber ein Menschenfreund mit schwankender sittlicher Grundlage wird zu einem Menschenfresser, gar nicht zu reden von seiner Eitelkeit: denn man verletze die Eitelkeit irgendeines dieser zahllosen Menschenfreunde, und er wird sofort bereit sein, aus kleinlicher Rachsucht die Welt an allen vier Enden anzuzünden – übrigens, um gerechterweise die Wahrheit zu sagen, genau so wie jeder von uns und wie auch ich, der Schändlichste von allen; denn ich würde vielleicht der erste sein, der Holz dazuträgt und selbst davonläuft. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!«

»Aber um was handelt es sich denn schließlich?«

»Langweiliges Gerede!«

»Es handelt sich um das folgende Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten; denn ich sehe mich genötigt, ein Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten zu erzählen. In unserer Zeit wird in unserem Vaterland, das Sie, meine Herren, wie ich hoffe, ebenso lieben, wie ich es tue (denn ich meinerseits bin bereit, sogar all mein Blut für dasselbe zu vergießen) ...«

»Weiter! Weiter!«

»In unserem Vaterland wird, ebenso wie im übrigen Europa, die Menschheit von allgemeinen, weite Landstrecken umfassenden Hungersnöten heimgesucht, und zwar, soweit sich das berechnen läßt und ich mich erinnern kann, jetzt nicht häufiger als einmal im Vierteljahrhundert, mit andern Worten einmal alle fünfundzwanzig Jahre. Über die genaue Ziffer will ich mich in keinen Streit einlassen; aber es kommt vergleichsweise selten vor.«

»Im Vergleich womit?«

»Im Vergleich mit dem zwölften Jahrhundert und den vorhergehenden und nachfolgenden. Denn damals suchten, wie die Schriftsteller berichten und versichern, allgemeine Hungersnöte die Menschheit alle zwei Jahre oder wenigstens alle drei Jahre einmal heim, so daß bei einer solchen Lage der Dinge die Menschen sogar zum Kannibalismus ihre Zuflucht nahmen, wenn auch nur im geheimen. Einer dieser Übeltäter erklärte, als er zu höherem Alter gelangt war, aus freien Stücken und ohne jeden Zwang, er habe im Laufe seines langen, ärmlichen Lebens persönlich in aller Heimlichkeit sechzig Mönche umgebracht und aufgegessen, dazu noch einige Laienkinder, vielleicht sechs Stück, aber nicht mehr, das heißt außerordentlich wenige im Vergleich zu der Zahl der von ihm verzehrten Geistlichen. An erwachsene Laien hatte er, wie sich herausstellte, sich nie zu diesem Zweck herangemacht.«

»Das ist unmöglich!« rief der den Vorsitz führende General selbst, in einem Ton, als ob er sich persönlich beleidigt fühlte. »Ich diskutiere und debattiere häufig mit ihm, meine Herren, und immer über ähnliche Themata; aber meistens bringt er so absurdes, unglaubliches Zeug vor, daß einem ordentlich die Ohren davon weh tun!«

»General! Denke an die Belagerung von Kars, und Sie, meine Herren, mögen wissen, daß mein Geschichtchen die reine Wahrheit ist. Meinerseits bemerke ich, daß fast jedes tatsächliche Ereignis, wenn es auch auf unabänderlichen Gesetzen beruht, doch etwas Unwahrscheinliches an sich hat. Und je tatsächlicher es ist, um so unwahrscheinlicher kommt es einem manchmal vor.«

»Aber ist es denn möglich, sechzig Mönche aufzuessen?« rief man ringsum unter Lachen.

»Er hat sie ja doch offenbar nicht auf einmal gegessen, sondern vielleicht im Laufe von fünfzehn oder zwanzig Jahren, und dann erscheint die Sache schon ganz verständlich und natürlich ...«

»Und natürlich?«

»Und natürlich!« wiederholte Lebedjew bissig mit pedantischer Hartnäckigkeit. »Überdies ist ein katholischer Mönch schon von Natur zutraulich und neugierig und läßt sich leicht in den Wald oder an sonst einen einsamen Ort locken, wo man dann in der geschilderten Weise mit ihm verfährt – aber trotzdem will ich nicht bestreiten, daß die Anzahl der aufgegessenen Personen sehr groß erscheint und sogar auf Unmäßigkeit hinweist.«

»Vielleicht ist die Geschichte doch wahr, meine Herren«, bemerkte auf einmal der Fürst. Bisher hatte er den Streitenden stillschweigend zugehört und sich nicht in das Gespräch gemischt; oft hatte er bei den allgemeinen Ausbrüchen von Heiterkeit herzlich mitgelacht. Man konnte ihm anmerken, daß er sich sehr darüber freute, daß es so lustig und lärmend herging, und auch darüber, daß sie soviel tranken. Vielleicht hätte er den ganzen Abend über kein Wort gesagt; aber es kam ihn auf einmal die Lust an zu reden. Und zwar redete er mit großem Ernst, so daß alle sich auf einmal neugierig zu ihm wandten.

»Ich möchte speziell darüber ein Wort sagen, meine Herren, daß damals so häufig Hungersnöte vorkamen. Davon habe auch ich gehört, obwohl ich in der Weltgeschichte nur schlecht bewandert bin. Aber es scheint, daß es gar nicht anders sein konnte. Als ich in die Schweizer Berge verschlagen war, staunte ich sehr über die Ruinen der alten Ritterburgen, die an den Bergabhängen auf steilen Felsen gebaut sind, in einer vertikalen Höhe von mindestens einer halben Werst (das bedeutet einen mehrere Werst langen Aufstieg auf den hinaufführenden Pfaden). Es ist ja bekannt, was eine solche Burg ist: ein ganzer Berg von Steinen. Eine furchtbare, unglaubliche Arbeit! Und all diese Burgen mußten die armen Menschen, die Vasallen, bauen. Außerdem mußten sie allerlei Abgaben zahlen und die Geistlichkeit unterhalten. Wie sollten sie da die Erde bearbeiten und sich ernähren! Es waren ihrer damals nur wenige; wahrscheinlich starben sie in Menge Hungers, und es war wohl buchstäblich nichts zu essen da. Ich dachte manchmal sogar: wie ist es nur zugegangen, daß diesem Volk damals nicht etwas ganz Schreckliches widerfuhr, daß es nicht ganz von der Erde verschwand, sondern weiter bestand und das alles ertrug? Daß es Menschenfresser gab, und vielleicht sehr viele, darin hat Lebedjew ohne Zweifel recht; nur weiß ich nicht, warum er dabei gerade von Mönchen sprach, und was er damit sagen will.«

»Er meint gewiß, daß man im zwölften Jahrhundert nur Mönche essen konnte, weil nur die Mönche damals fett waren«, bemerkte Gawrila Ardalionowitsch.

»Ein ganz prächtiger, sehr richtiger Gedanke!« rief Lebedjew. »Denn Laien hatte er überhaupt nicht angerührt. Nicht einen einzigen Laien auf sechzig Geistliche; das ist ein furchtbarer Gedanke, ein Gedanke von Wort für die Weltgeschichte und für die Statistik; aus solchen Tatsachen baut ein einsichtiger Mann die Weltgeschichte auf; denn es folgt daraus mit zahlenmäßiger Genauigkeit, daß die Geistlichkeit mindestens sechzigmal so glücklich und frei lebte wie die ganze übrige damalige Menschheit. Und vielleicht war sie mindestens sechzigmal so fett wie die ganze übrige Menschheit ...«

»Übertreibung, Übertreibung, Lebedjew!« rief man um ihn her lachend.

»Auch ich bin der Ansicht, daß dieser Gedanke von Wert für die Weltgeschichte ist; aber was wollen Sie daraus für einen Schluß ziehen?« fragte der Fürst. (Er sprach mit solchem Ernst und so ohne jede Beimischung von Scherz und Spott über Lebedjew, über den alle lachten, daß sein Ton inmitten des allgemeinen Tones der ganzen Gesellschaft unwillkürlich komisch wurde; es fehlte nicht viel, so hätten sie angefangen auch über ihn zu lachen; aber er bemerkte das nicht.)

»Sehen Sie denn nicht, Fürst, daß der Mensch verrückt ist?« sagte Jewgeni Pawlowitsch, sich zu ihm hinunterbeugend. »Es wurde mir vorhin hier gesagt, er habe die fixe Idee, Advokat zu werden und Verteidigungsreden zu halten, und wolle zu diesem Zweck ein Examen ablegen. Ich erwarte, daß er uns jetzt eine famose Parodie zum besten gibt.«

»Ich ziehe daraus einen höchst bedeutungsvollen Schluß«, rief unterdessen Lebedjew mit schmetternder Stimme. »Aber untersuchen wir vor allen Dingen den psychologischen Zustand und die juristische Anschauungsweise des Verbrechers. Wir sehen, daß der Verbrecher oder sozusagen mein Klient trotz der Schwierigkeit, sich etwas anderes Eßbares zu beschaffen, mehrere Male im Laufe seines merkwürdigen Lebensganges den Wunsch zu bereuen bekundet und sich von der Geistlichkeit abwendet. Wir ersehen dies deutlich aus den Tatsachen: es wird erwähnt, daß er fünf oder sechs Kinder verspeist hat, eine vergleichsweise niedrige Zahl, die aber dafür in anderer Hinsicht interessant ist. Es ist klar, daß er, von furchtbaren Gewissensbissen gequält (denn mein Klient ist ein religiöser Mensch, der ein Gewissen besitzt, was ich beweisen werde), und um nach Möglichkeit seine Sünde zu verringern, versuchsweise sechsmal die mönchische Nahrung mit Laiennahrung vertauschte. Daß dies versuchsweise geschah, ist wiederum unzweifelhaft; denn wäre es nur zum Zweck gastronomischer Abwechslung geschehen, so wäre die Zahl sechs sehr gering gewesen: warum nur sechs Stück und nicht dreißig? (Ich nehme die Hälfte von der Zahl der verzehrten Mönche.) Aber wenn dies nur ein Versuch war, hervorgegangen aus angstvoller Verzweiflung über das Verbrechen der Religionsspötterei und Kirchenschändung, dann wird diese Zahl sechs sehr verständlich; denn sechs Versuche waren zur Beruhigung der Gewissensbisse ganz ausreichend, da diese Versuche unmöglich erfolgreich sein konnten. Erstens ist meiner Ansicht nach ein Kind gar zu klein, das heißt zu gering an Masse, so daß in einem bestimmten Zeitraum drei- bis fünfmal soviel Laienkinder erforderlich sein würden als Geistliche, und die Sünde, wenn sie sich auch auf der einen Seite verringerte, doch schließlich auf der andern Seite wüchse, nicht qualitativ, aber quantitativ. Bei diesen Erwägungen, meine Herren, versetze ich mich natürlich in die Seele eines Verbrechers aus dem zwölften Jahrhundert. Was mich selbst, einen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, anlangt, so würde ich darüber vielleicht anders urteilen, was ich hiermit zu Ihrer Kenntnis bringe, meine Herren, so daß Sie keinen Anlaß haben, über mich zu grinsen, und für Sie, General, schickt sich das nun schon ganz und gar nicht. Zweitens ist ein Kind meiner Ansicht nach nicht nahrhaft, vielleicht sogar von zu süßlichem, fadem Geschmack, so daß sein Genuß, ohne die Bedürfnisse des Magens zu befriedigen, nur Gewissensbisse hinterläßt. Jetzt kommt nun die Schlußfolgerung, das Finale, meine Herren, das Finale, in welchem die Antwort auf eine der wichtigsten Fragen der damaligen und der jetzigen Zeit enthalten ist! Der Verbrecher geht zu guter Letzt hin, denunziert sich bei der Geistlichkeit und übergibt sich in die Hände der Gerechtigkeit. Man bedenke, welche Qualen ihn in damaliger Zeit erwarteten, welche Räder, Scheiterhaufen und Flammen! Was hat ihn dazu getrieben, hinzugehen und sich zu denunzieren? Warum ist er nicht einfach bei der Zahl sechzig stehengeblieben und hat sein Geheimnis bis zu seinem letzten Atemzug bewahrt? Warum hat er nicht einfach dem Verspeisen von Mönchen entsagt und büßend als Einsiedler gelebt? Warum ist er endlich nicht selbst Mönch geworden? Hier ist die Lösung! Also gab es etwas, was stärker war als alle Scheiterhaufen und Flammen, stärker selbst als eine zwanzigjährige Gewohnheit! Also gab es eine Idee, die stärker war als alle Leiden, Mißernten, Foltern, Pest, Aussatz und all diese Höllenqualen, die die Menschheit ohne jene allumfassende Idee, die den Seelen die Richtung gab und die Lebensquellen befruchtete, nicht hätte ertragen können! Zeigen Sie mir etwas Ähnliches, gleich Starkes in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen ... das heißt, ich sollte eigentlich sagen: in unserem Jahrhundert der Dampfschiffe und der Eisenbahnen; aber ich sage: in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen; denn ich bin betrunken, aber gerecht! Zeigen Sie mir eine die jetzige Menschheit umfassende Idee, die auch nur halb so stark wäre wie die jener Jahrhunderte! Wagen Sie schließlich zu sagen, daß die Quellen des Lebens unter diesem ›Stern‹, diesem Netz, das die Menschen umstrickt, nicht schwächer fließen, nicht trübe geworden sind! Suchen Sie mich nicht durch Ihre Reden von der Wohlhabenheit, vom Reichtum, von der Seltenheit des Hungers und von der Schnelligkeit der Verkehrsmittel zu schrecken! Der Reichtum ist größer geworden, aber die sittliche Kraft geringer; die allumfassende Idee fehlt; alles ist schlaff geworden, alles ist ausgekocht, alle Menschen sind ausgekocht! Wir alle, wir alle, wir alle sind ausgekocht ...! Aber genug davon; darum handelt es sich jetzt nicht, sondern darum, ob wir nicht den für die Gäste hergerichteten Imbiß auftragen lassen sollen, hochverehrter Fürst?«

Lebedjew, der einige seiner Zuhörer schon wirklich unwillig gemacht hatte (es muß übrigens bemerkt werden, daß während der ganzen Zeit ununterbrochen neue Flaschen entkorkt wurden), versöhnte durch den unerwarteten Schluß seiner Rede, durch den Hinweis auf den Imbiß, sogleich alle seine Gegner wieder mit sich. Er selbst nannte einen solchen Schluß einen geschickten Advokatenkniff. Es erhob sich wieder heiteres Gelächter; die Gäste wurden wieder lebendig; alle standen vom Tisch auf, um die Glieder zu recken und in der Veranda umherzugehen. Nur Keller fühlte sich durch Lebedjews Rede nicht befriedigt und befand sich in starker Aufregung.

»Er greift die Aufklärung an, predigt den Fanatismus des zwölften Jahrhunderts, spielt den Tugendhaften, ohne doch im Herzen unschuldig zu sein: möchten Sie ihn nicht einmal fragen, auf welche Weise er selbst sich ein Haus erworben hat?« sagte er laut, indem er alle und jeden anhielt.

»Ich habe einen echten Erklärer der Offenbarung des Johannes gekannt«, sagte der General in einer andern Ecke zu andern Zuhörern, unter denen sich auch Ptizyn befand, den er an einen Knopf gefaßt hatte, »den verstorbenen Grigori Semjonowitsch Burmistrow; der verstand es, die Herzen sozusagen zu entflammen. Zuerst setzte er sich die Brille auf und schlug ein großes, altes Buch in schwarzem Ledereinband auf; na, und dazu der graue Bart und zwei Tapferkeitsmedaillen! Er begann seine Auslegung mit finsterer, strenger Miene; selbst Generäle verbeugten sich vor ihm, und Damen fielen in Ohnmacht. Na, und dieser hier schließt mit einem Imbiß! Ein ganz tolles Benehmen!«

Ptizyn lächelte, während er dem General zuhörte, und hatte anscheinend die Absicht, nach seinem Hut zu greifen; aber entweder konnte er sich nicht dazu entschließen, oder er vergaß sein Vorhaben beständig wieder. Ganja hatte schon vor dem Augenblick, wo alle vom Tisch aufgestanden waren, auf einmal aufgehört zu trinken und sein Glas von sich fortgeschoben; ein düsterer Ausdruck war über sein Gesicht hinweggezogen. Als man sich vom Tisch erhob, trat er zu Rogoschin und setzte sich neben ihn. Man konnte denken, daß sie in den freundschaftlichsten Beziehungen zueinander standen. Rogoschin, der anfangs ebenfalls mehrere Male vorgehabt hatte, sachte wegzugehen, saß jetzt regungslos da, mit gesenktem Kopf, und als ob auch er vergessen hätte, daß er hatte weggehen wollen. Er hatte den ganzen Abend über keinen Tropfen Wein getrunken und war sehr nachdenklich gewesen; nur selten hatte er die Augen aufgeschlagen und jeden einzelnen angeblickt. Jetzt aber konnte man denken, daß er hier auf etwas für ihn sehr Wichtiges warte und vorher nicht weggehen wolle.

Der Fürst hatte nicht mehr als zwei oder drei Gläser getrunken und war nur lustig. Als er vom Tisch aufstand, begegneten sich seine und Jewgeni Pawlowitschs Blicke; er erinnerte sich an ihre bevorstehende Unterredung und lächelte freundlich. Jewgeni Pawlowitsch nickte ihm zu und zeigte auf Ippolit, den er soeben aufmerksam betrachtet hatte. Ippolit lag auf dem Sofa ausgestreckt und schlief.

»Sagen Sie, Fürst, warum hat sich dieser Junge wie eine Klette an Sie gehängt?« fragte er mit so offensichtlichem Ärger und sogar in so grimmigem Ton, daß der Fürst erstaunt war. »Ich möchte darauf wetten, daß er nichts Gutes im Schilde führt!«

»Ich habe bemerkt«, antwortete der Fürst, »oder es ist mir wenigstens so vorgekommen, als ob er Sie heute ganz besonders interessierte, Jewgeni Pawlowitsch; ist das richtig?«

»Sie können noch hinzufügen, daß ich eigentlich an meinen eigenen Angelegenheiten Stoff genug zum Nachdenken hätte; und ich wundere mich selbst darüber, daß ich meine Augen den ganzen Abend über von dieser widerwärtigen Visage nicht losreißen kann.«

»Er hat ein hübsches Gesicht ...«

»Da, da, sehen Sie nur!« rief Jewgeni Pawlowitsch, indem er den Fürsten an den Arm faßte. »Sehen Sie!«

Der Fürst blickte Jewgeni Pawlowitsch noch einmal verwundert an.

V

Ippolit, der gegen Ende des Lebedjewschen Vortrags auf dem Sofa eingeschlafen war, erwachte jetzt plötzlich, wie wenn ihm jemand einen Stoß in die Seite versetzt hätte, fuhr zusammen, richtete sich auf, blickte um sich und wurde blaß; es lag sogar ein Ausdruck von Angst und Schrecken auf seinem Gesicht, als er sich alles ins Gedächtnis zurückrief und wieder zurechtlegte.

»Wie? Gehen sie schon weg? Ist es zu Ende? Ist alles zu Ende? Ist die Sonne schon aufgegangen?« fragte er aufgeregt und griff nach der Hand des Fürsten. »Was ist die Uhr? Um Gottes willen, was ist die Uhr? Ich habe die Zeit verschlafen. Wie lange habe ich geschlafen?« fügte er mit fast verzweifelter Miene hinzu, als ob er etwas verschlafen hätte, wovon mindestens sein ganzes Schicksal abhinge.

»Sie haben sieben oder acht Minuten geschlafen«, antwortete Jewgeni Pawlowitsch.

Ippolit blickte ihn gespannt an und dachte einige Augenblicke nach. »Ah ... nicht mehr! Also kann ich ...«

Er holte tief und begierig Atem, wie wenn er eine schwere Last von sich geworfen hätte. Er merkte endlich, daß nichts »zu Ende war«, daß es noch nicht tagte, daß die Gäste nur wegen des Imbisses vom Tisch aufgestanden waren, und daß lediglich Lebedjews Geschwätz aufgehört hatte. Er lächelte, und eine schwindsüchtige Röte erschien in Gestalt zweier heller Flecke auf seinen Wangen.

»Sie haben also sogar die Minuten gezählt, während ich schlief, Jewgeni Pawlowitsch«, sagte er spöttisch. »Sie haben den ganzen Abend über die Augen nicht von mir abgewandt; ich habe es wohl gesehen ... Ah, da ist ja Rogoschin! Ich habe soeben von ihm geträumt«, flüsterte er dem Fürsten zu, indem er ein finsteres Gesicht machte und mit dem Kopf nach dem am Tisch sitzenden Rogoschin hindeutete. »Ach ja«, fuhr er mit einem plötzlichen Übergang zu etwas anderem fort, »wo ist denn der Redner? Wo ist denn Lebedjew? Lebedjew ist also zu Ende? Worüber hat er denn gesprochen? Ist es wahr, Fürst, daß Sie einmal gesagt haben, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden? Meine Herren!« rief er allen laut zu, »der Fürst behauptet, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden! Und ich behaupte, daß er so leichtsinnige Gedanken jetzt deshalb hat, weil er verliebt ist. Meine Herren, der Fürst ist verliebt; vorhin, sowie er hereinkam, habe ich mich davon überzeugt. Erröten Sie nicht, Fürst; das würde mir leid tun. Was ist denn das für eine Schönheit, durch die die Welt erlöst werden wird? Mir hat Kolja das wiedererzählt ... Sind Sie ein eifriger Christ? Kolja sagt, Sie nennen sich selbst einen Christen.«

Der Fürst sah ihn aufmerksam an, ohne ihm zu antworten.

»Sie antworten mir nicht? Sie glauben vielleicht, daß ich Sie sehr gern habe?« fügte Ippolit wie unwillkürlich hinzu.

»Nein, das glaube ich nicht. Ich weiß, daß Sie mich nicht leiden können.«

»Wie? Selbst nach dem, was gestern geschehen ist? War ich gestern gegen Sie nicht aufrichtig?«

»Ich wußte auch gestern, daß Sie mich nicht leiden können.«

»Sie meinen, weil ich Sie beneide? Das haben Sie immer gedacht und denken es auch jetzt; aber ... aber warum rede ich mit Ihnen davon? Ich will noch Champagner trinken; gießen Sie mir ein, Keller!«

»Sie dürfen nicht mehr trinken, Ippolit, ich gebe Ihnen keinen mehr ...«

Der Fürst schob das Glas von ihm weg.

»Nun gut!« sagte er, sofort damit einverstanden, und schien in Gedanken zu versinken. »Die Leute werden womöglich noch sagen ... aber was schere ich mich um das, was die Leute sagen werden! Nicht wahr? Nicht wahr? Mögen die Leute nachher reden, was sie wollen; nicht wahr, Fürst? Und was kümmert es uns alle, was ›nachher‹ sein wird ...! Ich bin übrigens noch schlaftrunken. Was ich für einen schrecklichen Traum gehabt habe; jetzt fällt es mir erst wieder ein ... Ich wünsche Ihnen solche Träume nicht, Fürst, wenn ich Sie auch vielleicht wirklich nicht leiden kann. Übrigens, wenn man jemanden auch nicht leiden kann, warum soll man ihm Böses wünschen, nicht wahr? Warum frage ich nur fortwährend? Fortwährend frage ich! Geben Sie mir Ihre Hand; ich werde sie Ihnen kräftig drücken; sehen Sie, so ...! Sie haben mir also doch die Hand gereicht! Sie wissen also, daß mein Händedruck aufrichtig gemeint ist ...? Meinetwegen, ich werde nicht mehr trinken. Was ist die Uhr? Übrigens brauchen Sie es mir nicht zu sagen; ich weiß, was die Uhr ist. Die Stunde ist gekommen! Jetzt ist die richtige Zeit. Was? Wird der Imbiß dort in die Ecke gestellt? Also bleibt dieser Tisch frei? Vorzüglich! Meine Herren, ich ... aber diese Herren hören ja alle nicht ... ich beabsichtige, einen Artikel vorzulesen, Fürst; der Imbiß ist natürlich interessanter; aber ...«

Und ganz unerwartet zog er aus seiner oberen Seitentasche ein mit einem großen, roten Siegel verschlossenes Kuvert im Kanzleiformat heraus. Er legte es vor sich auf den Tisch.

Dieser unerwartete Vorgang brachte auf die angeheiterte Gesellschaft, die darauf nicht vorbereitet war, eine starke Wirkung hervor. Jewgeni Pawlowitsch sprang sogar ein wenig auf seinem Stuhl in die Höhe; Ganja kam schnell an den Tisch heran, Rogoschin ebenfalls, aber mit mürrischer, ärgerlicher Miene, als wüßte er, um was es sich handle. Lebedjew, der sich zufällig gerade in der Nähe befand, trat mit neugierigen Augen heran und schaute nach dem Kuvert, bemüht, dessen Inhalt zu erraten.

»Was haben Sie denn da?« fragte der Fürst beunruhigt.

»Sowie der Rand der Sonnenscheibe sichtbar wird, werde ich mich hinlegen, Fürst; ich habe es gesagt; mein Ehrenwort darauf! Sie werden es schon sehen!« rief Ippolit. »Aber ... aber ... glauben Sie wirklich, ich wäre nicht imstande, dieses Kuvert zu erbrechen?« fügte er hinzu, indem er in herausfordernder Weise alle Umstehenden der Reihe nach anschaute und sich an alle ohne Unterschied wandte.

Der Fürst bemerkte, daß er am ganzen Leibe zitterte.

»Niemand von uns glaubt das«, antwortete der Fürst für alle. »Warum meinen Sie denn, daß jemand so etwas denkt, und was ... was ist das für ein seltsamer Einfall von Ihnen, etwas vorlesen zu wollen? Was haben Sie denn da, Ippolit?«

»Was ist denn los? Was ist denn wieder mit ihm passiert?« wurde ringsumher gefragt.

Alle traten heran, manche noch essend; das Kuvert mit dem roten Siegel übte auf alle eine Anziehungskraft aus wie ein Magnet.

»Das habe ich gestern selbst geschrieben, gleich nachdem ich versprochen hatte, zu Ihnen zu ziehen und bei Ihnen zu wohnen, Fürst. Ich habe gestern den ganzen Tag daran geschrieben und dann in der Nacht und bin heute morgen damit fertig geworden; in der Nacht, gegen Morgen, hatte ich einen Traum ...«

»Wäre es nicht besser, es bis morgen zu lassen?« unterbrach ihn der Fürst schüchtern.

»Morgen ›wird keine Zeit mehr sein‹«, erwiderte Ippolit mit einem krampfhaften Lächeln. »Beunruhigen Sie sich übrigens nicht; das Vorlesen wird nur vierzig Minuten dauern; na – oder eine Stunde ... Und sehen Sie nur, wie sich alle dafür interessieren; alle sind sie herbeigekommen; alle sehen sie mein Siegel an; hätte ich das Schriftstück nicht in ein Kuvert eingesiegelt, so hätte ich gar keinen Effekt damit gemacht! Haha! Da sieht man, was die Geheimniskrämerei für eine Bedeutung hat! Soll ich das Kuvert erbrechen, meine Herren, oder nicht?« rief er mit seinem seltsamen Lachen und mit blitzenden Augen. »Ein Geheimnis, ein Geheimnis! Erinnern Sie sich wohl, Fürst, wer das gesagt hat, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein wird‹? Das sagt der starke, mächtige Engel in der Offenbarung des Johannes.«

»Es ist das beste, daß die Vorlesung unterbleibt!« rief auf einmal Jewgeni Pawlowitsch; aber sein Gesicht wies dabei eine an ihm so ungewöhnliche Unruhe auf, daß es vielen sonderbar erschien.

»Lesen Sie nicht!« rief auch der Fürst und legte die Hand auf das Kuvert.

»Wozu jetzt eine Vorlesung? Jetzt ist der Imbiß an der Reihe«, bemerkte jemand.

»Es ist wohl ein Artikel für eine Zeitschrift?« erkundigte sich ein anderer.

»Vielleicht ist es langweilig«, fügte ein dritter hinzu.

»Aber was ist es denn eigentlich?« fragten die übrigen.

Durch die ängstliche Handbewegung des Fürsten schien jedoch auch Ippolit bedenklich geworden zu sein.

»Also ... soll ich es nicht vorlesen?« flüsterte er ihm zaghaft zu, und ein schiefes Lächeln spielte um seine bläulichen Lippen. »Ich soll es nicht vorlesen?« murmelte er, indem er seinen Blick über das ganze Publikum, über alle Augen und Gesichter hingleiten ließ und wieder wie vorher alle zusammenfaßte. »Fürchten Sie sich?« sagte er, wieder zu dem Fürsten gewendet.

»Wovor sollte ich mich fürchten?« fragte dieser, dessen Gesichtsausdruck sich immer mehr veränderte.

»Hat jemand ein Zwanzigkopekenstück?« rief Ippolit und sprang von seinem Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte. »Oder irgendeine andere Münze?«

»Hier!« sagte Lebedjew, ihm schnell eine Münze hinreichend.

Es huschte ihm der Gedanke durch den Kopf, ob der kranke Ippolit nicht vielleicht irrsinnig geworden sei.

»Wjera Lukjanowna!« rief Ippolit eilig. »Bitte, nehmen Sie die Münze, und werfen Sie sie auf den Tisch: Adler oder Schrift? Wenn der Adler kommt, will ich es vorlesen!«

Wjera blickte erschrocken erst das Geldstück, dann Ippolit, darauf ihren Vater an; dann den Kopf nach oben zurückbiegend, als meine sie, sie dürfe nun selbst die Münze nicht mehr ansehen, warf sie sie mit einer ungeschickten Bewegung auf den Tisch. Der Adler kam nach oben zu liegen.

»Also werde ich es vorlesen!« flüsterte Ippolit, als wäre er durch die vom Schicksal getroffene Entscheidung niedergeschmettert; er hätte nicht blasser werden können, wenn man ihm sein Todesurteil vorgelesen hätte. Nachdem er eine halbe Minute geschwiegen hatte, zuckte er plötzlich zusammen und sagte: »Was war das übrigens? Habe ich wirklich soeben das Los befragt?« Er musterte alle ringsumher mit der gleichen zudringlichen Offenherzigkeit wie vorher. »Aber das ist ja ein wunderbarer psychologischer Zug!« rief er, sich an den Fürsten wendend, plötzlich in aufrichtigem Staunen. »Das ... das ist ein unbegreiflicher Zug, Fürst!« wiederholte er; er wurde lebhafter und schien seine Gedanken zu sammeln. »Notieren Sie sich das, Fürst; merken Sie es sich; Sie sammeln ja wohl Material betreffend die Empfindungen vor der Hinrichtung ... Ich habe mir das sagen lassen, haha! O Gott, was für ein sinnloses, abgeschmacktes Benehmen!« Er setzte sich auf das Sofa, stützte die beiden Ellbogen auf den Tisch und faßte sich an den Kopf. »Da muß man sich ja geradezu schämen ...! Aber was schert mich das, daß man sich schämen muß!« rief er, den Kopf sogleich wieder in die Höhe hebend. »Meine Herren, meine Herren! Ich öffne das Kuvert!« verkündete er mit plötzlicher Entschlossenheit. »Übrigens ... ich zwinge niemand zuzuhören ...!«

Mit vor Aufregung zitternden Händen erbrach er das Kuvert, nahm mehrere mit kleiner Schrift bedeckte Bogen Briefpapier heraus, legte sie vor sich hin und strich sie glatt.

»Was ist denn das? Was ist denn da los? Was wird er vorlesen?« murmelten manche verdrießlich; andere schwiegen. Aber alle setzten sich hin und machten neugierige Gesichter. Vielleicht erwarteten sie wirklich etwas Ungewöhnliches. Wjera klammerte sich an den Stuhl ihres Vaters und weinte beinah vor Angst; fast in gleicher Angst befand sich Kolja. Lebedjew, der sich bereits hingesetzt hatte, erhob sich wieder halb, ergriff die Kerzen und zog sie näher an Ippolit heran, damit dieser mehr Licht beim Vorlesen habe.

»Meine Herren, was das hier ist, werden Sie sofort sehen«, schickte Ippolit zu irgendwelchem Zweck voraus und begann dann seine Vorlesung: »Eine notwendige Erklärung! Motto: Après moi le déluge ... Pfui! Hol's der Teufel!« rief er, als ob er sich verbrannt hätte. »Habe ich wirklich im Ernst ein solch dummes Motto hinsetzen können ...? Hören Sie, meine Herren ...! Ich versichere Ihnen, daß dies alles am Ende vielleicht schrecklich dummes Zeug ist! Es sind nur ein paar Gedanken von mir ... Wenn Sie glauben, daß das hier irgend etwas Geheimnisvolles oder ... Verbotenes ist ... mit einem Wort ...«

»Lesen Sie doch ohne weitere Vorreden!« unterbrach ihn Ganja.

»Er kneift!« fügte jemand hinzu.

»Viel unnützes Gerede!« mischte sich Rogoschin hinein, der bisher die ganze Zeit über geschwiegen hatte.

Ippolit blickte schnell nach ihm hin, und als ihre Augen sich trafen, lächelte Rogoschin bitter und grimmig und sprach langsam die seltsamen Worte:

»Diese Sache muß man anders zu Ende bringen, Junge, ganz anders ...«

Was Rogoschin damit sagen wollte, verstand natürlich niemand; aber seine Worte machten auf alle einen recht sonderbaren Eindruck: ein und derselbe Gedanke ging einem jeden durch den Kopf. Auf Ippolit übten diese Worte eine furchtbare Wirkung aus: er begann so zu zittern, daß der Fürst schon die Hand ausstrecken wollte, um ihn zu stützen, und er hätte gewiß aufgeschrien, wenn ihm nicht offenbar plötzlich die Stimme versagt hätte.

Eine ganze Minute lang war er nicht imstande, ein Wort herauszubringen, und blickte, schwer atmend, fortwährend Rogoschin an. Endlich sagte er keuchend und mit gewaltsamer Anstrengung:

»Also Sie ... Sie waren es ... Sie?«

»Was soll ich gewesen sein? Ich?« antwortete Rogoschin verständnislos.

Aber Ippolit fuhr, von plötzlicher Wut gepackt, auf und schrie mit scharfer, starker Stimme:

»Sie waren in der vorigen Woche bei mir, bei Nacht, um ein Uhr, an dem Tag, an dem ich morgens zu Ihnen gekommen war,Sie!! Gestehen Sie es ein, daß Sie es waren?«

»In der vorigen Woche, bei Nacht? Hast du den Verstand verloren? Bist du geradezu verrückt geworden, Junge?«

Der »Junge« schwieg wieder ungefähr eine Minute lang, indem er den Zeigefinger an die Stirn hielt und nachdachte; aber in seinem bleichen, immer noch von Furcht verzerrten Lächeln schimmerte plötzlich ein schlauer, ja triumphierender Ausdruck auf.

»Das waren Sie!« wiederholte er endlich flüsternd, aber im Ton festester Überzeugung. »

Sie sind zu mir gekommen und haben schweigend bei mir auf dem Stuhl am Fenster gesessen, eine volle Stunde lang; länger; zwischen zwölf und zwei Uhr nachts; dann sind Sie nach zwei Uhr aufgestanden und weggegangen ... Das waren Sie, Sie! Warum Sie mich so geängstigt haben, warum Sie gekommen sind, um mich zu quälen, das verstehe ich nicht; aber das waren Sie!«
Und obwohl aus seinem Blick der Ausdruck zitternder Angst noch nicht geschwunden war, blitzte doch in ihm plötzlich ein grenzenloser Haß auf.

»Sie werden das alles sogleich erfahren, meine Herren; ich ... ich ... hören Sie nur zu ...«

Er griff wieder in schrecklicher Hast nach seinen Blättern; sie hatten sich verschoben und waren auseinandergeglitten; er bemühte sich, sie zusammenzulegen; sie zitterten in seinen bebenden Händen; es dauerte lange, bis er damit zurechtkam.

»Er ist verrückt geworden, oder er redet im Fieber!« murmelte Rogoschin kaum hörbar.

Endlich begann die Vorlesung. Anfangs, etwa fünf Minuten lang, wurde es dem Verfasser des unerwarteten Schriftstücks noch schwer, Lust zu bekommen, und er las unzusammenhängend und ungleichmäßig; aber dann wurde seine Stimme fest und vermochte den Sinn des Gelesenen vollständig zum Ausdruck zu bringen. Nur wurde er manchmal von einem ziemlich starken Husten unterbrochen; von der Mitte des Schriftstücks an war er sehr heiser. Der gewaltige Eifer, der sich seiner, je weiter die Vorlesung fortschritt, immer mehr bemächtigte, erreichte gegen Ende den höchsten Grad, ebenso wie die peinliche Empfindung der Zuhörer. Hier ist dieses ganze Schriftstück.

»Meine notwendige Erklärung.

Après moi le déluge.

Gestern vormittag war der Fürst bei mir; unter anderm überredete er mich, nach seinem Landhaus überzusiedeln. Ich wußte, daß er unbedingt darauf bestehen werde, und war überzeugt, daß er geradezu mit der Bemerkung herausplatzen werde, es werde mir in dem Landhaus unter den Menschen und Bäumen leichter sein zu sterben, wie er sich ausdrückt. Heute jedoch sagte er nicht ›sterben‹, sondern er sagte: ›Es wird Ihnen leichter sein zu leben‹, was indessen für mich in meiner Lage beinah dasselbe ist. Ich fragte ihn, was er denn mit den Bäumen, von denen er fortwährend redet, eigentlich wolle, und warum er mir diese Bäume so aufdränge – und erfuhr von ihm zu meiner Verwunderung, daß ich selbst an jenem Abend geäußert hätte, ich sei nach Pawlowsk gekommen, um zum letztenmal Bäume zu sehen. Als ich ihm bemerkte, es sei ja doch ganz gleich, ob ich unter Bäumen stürbe oder mit dem Blick durchs Fenster auf meine Backsteinmauer, und daß es um zweier Wochen willen sich nicht lohne, besondere Umstände zu machen, stimmte er mir sogleich bei; aber er meinte, das Grün und die reine Luft würden sicherlich bei mir eine physische Veränderung hervorrufen, und meine Aufregung und meine Träume würden vielleicht einen milderen Charakter annehmen. Ich versetzte ihm lachend, er rede wie ein Materialist. Er antwortete mir mit seinem gewöhnlichen Lächeln, er sei immer ein Materialist gewesen. Da er nie lügt, so sind diese Worte bedeutungsvoll. Sein Lächeln ist gut und angenehm; ich habe ihn jetzt aufmerksamer betrachtet. Ich weiß nicht, ob ich ihn jetzt gern habe oder nicht; aber ich habe jetzt keine Zeit, mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich muß aber bemerken, daß mein fünfmonatiger Haß gegen ihn sich im letzten Monat ganz gelegt hat. Wer weiß, vielleicht bin ich nach Pawlowsk hauptsächlich, um ihn kennenzulernen, gefahren. Aber ... weshalb habe ich damals mein Zimmer verlassen? Wer zum Tod verurteilt ist, muß in seinem Winkel bleiben; und wenn ich jetzt nicht einen definitiven Entschluß gefaßt hätte, sondern die letzte Stunde abwarten wollte, so würde ich natürlich mein Zimmer um keinen Preis verlassen und seinen Vorschlag, zu ihm überzusiedeln, um in Pawlowsk zu sterben, nicht annehmen. Ich muß mich beeilen und diese ganze Erklärung unter allen Umständen bis morgen zu Ende bringen. Somit werde ich keine Zeit haben, sie noch einmal durchzulesen und zu korrigieren; ich werde sie erst morgen wieder durchlesen, wenn ich sie dem Fürsten und zwei oder drei Zeugen, die ich bei ihm vorzufinden erwarte, vorlesen werde. Da kein Wort der Lüge darin stehen wird, sondern nur die lautere Wahrheit, die letzte, feierliche Wahrheit, so bin ich im voraus neugierig, welchen Eindruck sie auf mich selbst in der Stunde und Minute machen wird, wo ich sie vorlesen werde. Übrigens war es sinnlos, die Worte ›die letzte, feierliche Wahrheit‹ herzuschreiben; für zwei Wochen lohnt es sich sowieso nicht zu lügen, weil es sich auch nicht lohnt, zwei Wochen zu leben; das ist der beste Beweis dafür, daß ich nur die lautere Wahrheit schreiben werde. (Notabene! Ich muß mir folgenden Gedanken gegenwärtig halten: bin ich nicht etwa in diesem Augenblick, das heißt zeitweilig, verrückt? Man hat mir mit Bestimmtheit gesagt, daß Schwindsüchtige im letzten Stadium mitunter zeitweilig den Verstand verlieren. Ich will das morgen bei der Vorlesung mittels des Eindrucks auf die Zuhörer kontrollieren. Diese Frage muß jedenfalls zu völlig klarer Entscheidung gebracht werden; sonst kann ich zu keiner Tat schreiten.)

Mir scheint, ich habe hier soeben eine furchtbare Dummheit niedergeschrieben; aber zum Korrigieren habe ich, wie gesagt, keine Zeit; außerdem habe ich mir absichtlich vorgenommen, in dieser Handschrift auch nicht eine Zeile zu korrigieren, auch wenn ich selbst bemerken sollte, daß ich mir alle fünf Zeilen widerspreche. Ich will ja gerade morgen beim Vorlesen feststellen, ob mein Gedankengang logisch richtig ist, ob ich meine Fehler bemerke, und ob somit alles das, was ich in diesem Zimmer im Laufe dieser sechs Monate mir in Gedanken zurechtgelegt habe, wahr oder nur Fieberphantasie ist.

Wenn ich vor zwei Monaten in die Lage gekommen wäre, wie jetzt, mein Zimmer ganz verlassen und von der Meyerschen Hausmauer Abschied nehmen zu müssen, so wäre ich (davon bin ich überzeugt) darüber traurig gewesen. Jetzt aber empfinde ich nichts Derartiges, und doch verlasse ich morgen dieses Zimmer und diese Mauer auf ewig! Also hat meine Überzeugung, daß es sich um zweier Wochen willen nicht mehr lohnt, Bedauern zu fühlen oder sich irgendwelchen derartigen Empfindungen zu überlassen, über meine Natur die Oberhand gewonnen und kann schon jetzt über alle meine Gefühle die Herrschaft ausüben. Aber ist es auch wirklich so? Ist es wahr, daß meine Natur jetzt ganz besiegt ist? Wenn man mich jetzt folterte, so würde ich sicher schreien und nicht sagen, es lohne sich nicht, zu schreien und Schmerz zu empfinden, da ich ja doch nur noch zwei Wochen zu leben hätte.

Ist es aber auch wahr, daß ich nur noch zwei Wochen zu leben habe und nicht mehr? Damals in Pawlowsk habe ich gelogen: B...n hat nichts zu mir gesagt und hat mich nie gesehen, sondern man hat vor einer Woche einen Studenten namens Kislorodow zu mir geführt; was seine Anschauungen anlangt, ist er Materialist, Atheist und Nihilist; eben deswegen hatte ich gerade ihn rufen lassen; ich wollte jemand haben, der mir endlich ohne freundliche Schonung und ohne alle Umstände die nackte Wahrheit sagte. Das tat er denn auch, und zwar nicht nur bereitwillig und ohne Umstände, sondern sogar mit sichtlichem Vergnügen (was meiner Ansicht nach nicht nötig gewesen wäre). Er sagte mir geradeheraus, ich hätte noch ungefähr einen Monat zu leben, vielleicht etwas mehr, wenn ich in günstige äußere Verhältnisse käme; möglicherweise aber würde ich auch weit früher sterben. Seiner Meinung nach könne ich auch ganz plötzlich sterben, zum Beispiel gleich am nächsten Tag; solche Fälle seien vorgekommen; erst zwei Tage vorher habe eine schwindsüchtige junge Dame in Kolomna, deren Zustand dem meinigen ähnlich gewesen sei, sich zurechtgemacht, um auf den Markt zu gehen und Lebensmittel einzukaufen, sich aber plötzlich unwohl gefühlt, sich auf das Sofa gelegt, einen Seufzer ausgestoßen und sei gestorben. Als Kislorodow mir dies alles mitteilte, machte er den Eindruck, als renommiere er ein bißchen mit seiner Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit, und als glaube er, mir eine besondere Ehre zu erweisen, indem er mir nämlich dadurch zeige, daß er auch mich für ein ebensolches, über alle Vorurteile erhabenes, höheres Wesen halte, wie er selbst eines sei; für ein Wesen, dem es selbstverständlich nichts ausmache zu sterben.

Es hat mich sehr gewundert, woher der Fürst vorhin erriet, daß ich böse Träume habe; er sagte wörtlich, meine Aufregung und meine Träume würden sich in Pawlowsk bessern. Wie kommt er auf meine Träume? Entweder ist er Mediziner, oder er besitzt tatsächlich einen ungewöhnlichen Verstand, so daß er sehr vieles zu erraten vermag. (Daß er aber im Grunde doch ein Idiot ist, daran kann kein Zweifel bestehen.) Es traf sich, daß ich gerade vor seiner Ankunft einen hübschen Traum gehabt hatte (übrigens einen von der Art, wie ich sie jetzt zu Hunderten habe). Ich war eingeschlafen – ich glaube, eine Stunde vor seiner Ankunft – und sah mich in einem Zimmer (aber nicht in dem meinigen). Das Zimmer war größer und höher als das meinige, besser möbliert und hell; darin standen ein Schrank, eine Kommode, ein Sofa und mein Bett, ein großes, breites Bett, mit einer grünseidenen Steppdecke darauf. Aber in diesem Zimmer bemerkte ich ein schreckliches Tier, eine Art Ungeheuer. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Skorpion, war aber kein Skorpion, sondern widerwärtiger und weit furchtbarer, anscheinend eben deswegen, daß es solche Tiere in der Natur nicht gibt, und daß es sich absichtlich gerade bei mir eingefunden hatte, und daß eben darin irgendein Geheimnis zu liegen schien. Ich betrachtete es sehr genau: es war ein mit einer braunen Schale bekleidetes Kriechtier, ungefähr eine Hand lang, am Kopf etwa zwei Finger dick; nach dem Schwanz zu wurde es allmählich dünner, so daß die Schwanzspitze selbst nicht dicker als ein Federkiel war. Etwa zwei Finger breit vom Kopf entfernt traten in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aus dem Rumpf zwei Pfoten heraus, auf jeder Seite eine, etwa neun Zentimeter lang, so daß das ganze Tier, von oben gesehen, die Gestalt eines Dreizacks hatte. Den Kopf konnte ich nicht deutlich erkennen; aber ich sah zwei Fühler, nicht besonders lang, in Form zweier starker Nadeln, gleichfalls von brauner Farbe. Zwei ebensolche Fühler befanden sich am Ende des Schwanzes und am Ende jeder der Pfoten, so daß es also im ganzen acht Fühler waren. Das Tier lief sehr schnell im Zimmer umher, wobei es sich auf die Pfoten und den Schwanz stützte, und wenn es lief, wanden sich der Rumpf und die Pfoten trotz der Schale mit großer Schnelligkeit wie kleine Schlangen, was sehr widerwärtig anzusehen war. Ich hatte schreckliche Angst, es könnte mich stechen; es war mir gesagt worden, es sei giftig. Ganz besonders aber quälte mich der Gedanke, wer es wohl in mein Zimmer geschickt habe, was man mir antun wolle, und worin dieses Geheimnis bestehe. Das Tier versteckte sich unter die Kommode und unter den Schrank und kroch in die Ecken. Ich setzte mich auf einen Stuhl und schlug die Beine unter den Leib. Das Tier lief schnell schräg durch das ganze Zimmer und verschwand irgendwo in der Gegend meines Stuhls. Voller Furcht blickte ich rings um mich; aber da ich mit untergeschlagenen Beinen dasaß, so hoffte ich, daß es nicht werde auf den Stuhl heraufkriechen können. Plötzlich hörte ich hinter mir, fast bei meinem Kopf, ein knisterndes Geräusch; ich drehte mich um und sah, daß das Scheusal an der Wand hinaufkroch, sich schon in gleicher Höhe mit meinem Kopf befand und sogar meine Haare mit seinem Schwanz berührte, der sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit drehte und wand. Ich sprang auf, und im gleichen Augenblick war auch das Tier verschwunden. Auf das Bett mochte ich mich nicht legen, aus Furcht, es könnte unter das Kissen kriechen. Da traten meine Mutter und ein Bekannter von ihr ins Zimmer. Sie begannen, auf das garstige Tier Jagd zu machen; aber sie waren ruhiger als ich und fürchteten sich nicht einmal. Aber sie konnten nichts finden. Auf einmal kam das Untier wieder hervorgekrochen; es kroch diesmal sehr sachte und wand sich, wie mit besonderer Absicht, nur langsam, was noch viel greulicher aussah; es nahm seinen Weg wieder schräg durch das Zimmer nach der Tür hin. Da öffnete meine Mutter die Tür und rief Norma, unsere Hündin, einen riesigen, schwarzen, zottigen Neufundländer; sie ist schon vor fünf Jahren gestorben. Norma kam ins Zimmer hereingestürzt und blieb vor dem Reptil wie angewurzelt stehen. Auch dieses machte halt, wand sich aber immer noch hin und her und kratzte mit den Enden der Pfoten und des Schwanzes auf dem Fußboden herum. Tiere sind, wenn ich nicht irre, nicht imstande, eine mystische Angst zu empfinden; aber in diesem Augenblick schien es mir doch, als ob auch in Normas Angst etwas sehr Ungewöhnliches, beinah Mystisches liege und sie somit ebenfalls, wie ich, ahne, daß in dem Tier etwas Verhängnisvolles, ein Geheimnis stecke. Sie wich langsam vor dem Reptil zurück, das sachte und vorsichtig auf sie zukroch und, wie es schien, sich plötzlich auf sie stürzen und sie stechen wollte. Aber trotz aller Angst, und obwohl sie an allen Gliedern zitterte, machte sie doch schrecklich grimmige Augen. Auf einmal fletschte sie langsam ihre furchtbaren Zähne, öffnete weit ihren gewaltigen, roten Rachen, paßte geschickt die Entfernung ab, faßte einen Entschluß und packte plötzlich das garstige Tier mit den Zähnen. Dieses machte heftige Bewegungen, um zu entschlüpfen, so daß Norma es noch einmal, jetzt im Flug, griff und es zweimal, immer im Flug, mit dem ganzen Rachen in sich hineinzog, als wollte sie es hinunterschlucken. Die Schale knackte unter ihren Zähnen; der Schwanz des Tieres und die Pfoten, die aus dem Maul herausragten, bewegten sich mit furchtbarer Geschwindigkeit. Auf einmal begann Norma kläglich zu winseln: das Reptil hatte es doch noch fertiggebracht, sie in die Zunge zu stechen. Vor Schmerz winselnd und heulend, öffnete sie das Maul, und ich sah, daß das zerbissene, quer im Maul liegende Reptil sich noch bewegte und aus seinem halbzerquetschten Körper auf Normas Zunge eine Menge weißen Saftes floß, ähnlich dem Saft einer zerdrückten schwarzen Schabe ... In diesem Augenblick wachte ich auf, und der Fürst trat herein.«

»Meine Herren«, sagte Ippolit, indem er seine Vorlesung plötzlich unterbrach und ein beschämtes Gesicht machte, »ich habe es nicht noch einmal durchgelesen; aber ich habe, wie es scheint, tatsächlich viel Überflüssiges hingeschrieben. Dieser Traum ...«

»Ja, das ist richtig«, beeilte sich Ganja einzuschieben.

»Ich muß zugeben, es ist zuviel Persönliches dabei, das heißt Dinge, die eigentlich nur auf mich Bezug haben ...«

Als Ippolit das sagte, sah er müde und erschöpft aus und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Ja, Sie interessieren sich zu sehr für sich selbst«, zischte Lebedjew.

»Meine Herren, noch einmal: ich nötige niemand; wer nicht zuhören will, kann sich entfernen.«

»Er jagt uns weg ... aus einem fremden Haus«, brummte Rogoschin kaum vernehmbar.

»Aber wie können wir denn alle auf einmal aufstehen und uns entfernen?« sagte plötzlich Ferdyschtschenko, der bis dahin nicht gewagt hatte, laut zu reden.

Ippolit schlug die Augen nieder und griff nach seinem Manuskript; aber in derselben Sekunde hob er den Kopf wieder in die Höhe und sagte mit funkelnden Augen und zwei roten Flecken auf den Backen, indem er Ferdyschtschenko gerade ins Gesicht blickte:

»Sie können mich gar nicht leiden!«

Man hörte Lachen; indes war es nicht die Mehrzahl, die lachte. Ippolit wurde dunkelrot.

»Ippolit«, sagte der Fürst, »machen Sie Ihr Manuskript zu, und geben Sie es mir, und legen Sie sich selbst hier in meinem Zimmer schlafen. Wir wollen, bevor Sie einschlafen, noch ein bißchen mit Ihnen reden und das Gespräch dann morgen fortsetzen, aber unter der Bedingung, daß Sie diese Blätter nie wieder aufschlagen. Wollen Sie das tun?«

»Ist das denn möglich?« rief Ippolit, indem er ihn mit wirklicher Verwunderung anblickte. »Meine Herren«, fuhr er, wieder in fieberhafter Lebhaftigkeit, fort, »das war ein dummer Zwischenakt, in dem ich mich nicht richtig zu benehmen verstanden habe. Ich werde in der Vorlesung nicht wieder eine Unterbrechung eintreten lassen. Wer zuhören will, mag zuhören ...«

Er trank schnell einen Schluck Wasser aus einem dastehenden Glas, stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, um sich vor den Blicken zu verbergen, und setzte das Vorlesen hartnäckig fort. Das Gefühl der Beschämung ging übrigens schnell vorüber ...

»Der Gedanke«, fuhr er fort zu lesen, »daß es nicht lohne, ein paar Wochen zu leben, kam mir in deutlicher Gestalt, wie ich meine, ungefähr vor einem Monat, als ich nur noch vier Wochen Leben vor mir zu haben glaubte; aber völlig bemächtigt hat sich dieser Gedanke meiner erst vor drei Tagen, als ich von jenem in Pawlowsk verlebten Abend heimkehrte. Der erste Augenblick, wo mich dieser Gedanke vollständig und unmittelbar durchdrang, fiel in die Zeit, als ich mich beim Fürsten in der Veranda befand, gerade in die Zeit, als ich mit dem Leben einen letzten Versuch zu machen gedachte, Menschen und Bäume sehen wollte (ich mag das auch selbst ausgesprochen haben), mich ereiferte, für Burdowskis, ›meines Nächsten‹, Recht eintrat und im stillen davon phantasierte, alle diese Menschen würden auf einmal die Arme ausbreiten und mich an ihr Herz drücken und mich wegen irgend etwas um Verzeihung bitten und ich meinerseits sie ebenfalls; kurz, ich war zu guter Letzt ein unfähiger Dummkopf. Und siehe da, in diesen Stunden flammte in mir ›die letzte Überzeugung‹ auf. Ich wundere mich jetzt, wie ich ganze sechs Monate lang ohne diese Überzeugung habe leben können! Ich wußte positiv, daß ich die Schwindsucht hatte und diese Krankheit bei mir unheilbar war; ich täuschte mich nicht und begriff die Sachlage klar. Aber je klarer ich sie begriff, um so krampfhafter begehrte ich zu leben; ich klammerte mich an das Leben; leben wollte ich, leben um jeden Preis. Ich gebe zu, daß ich damals dem dunklen, unerbittlichen Schicksal zürnte, das beschlossen hatte, mich wie eine Fliege totzuschlagen, ohne selbst zu wissen, warum; aber warum habe ich mich nicht bis zum Schluß damit begnügt, lediglich zu zürnen? Warum habe ich tatsächlich ›angefangen‹ zu leben, obwohl ich wußte, daß ich nicht mehr anfangen konnte? Warum habe ich es versucht, obwohl ich wußte, daß dazu keine Zeit mehr war? Dabei war ich aber nicht einmal imstande, ein Buch zu lesen, und hörte zu lesen auf: wozu sollte ich lesen, wozu noch Kenntnisse für sechs Monate erwerben? Dieser Gedanke brachte mich wiederholt dazu, ein Buch beiseite zu werfen.«

Ja, diese Meyersche Mauer kann vieles erzählen! Vieles habe ich in Gedanken auf sie geschrieben. Es gab keinen Fleck auf dieser Mauer, den ich nicht auswendig gewußt hätte. Verfluchte Mauer! Und doch ist sie mir teurer als alle Bäume in Pawlowsk, das heißt, sie sollte mir teurer sein als all diese Bäume, wenn mir nicht jetzt alles gleichgültig wäre.

Ich erinnere mich jetzt, mit welchem gierigen Interesse ich damals anfing, das Leben anderer Menschen zu verfolgen: ein solches Interesse war mir früher fremd gewesen. Ungeduldig und schimpfend wartete ich manchmal auf Kolja zu Zeiten, wo ich selbst so krank war, daß ich das Zimmer nicht verlassen konnte. Ich erkundigte mich so genau nach allen Kleinigkeiten und interessierte mich so für alle möglichen Gerüchte, daß ich geradezu eine Klatschschwester geworden zu sein schien. Ich konnte zum Beispiel nicht begreifen, wie diese Menschen, die ein so langes Leben zur Verfügung haben, es nicht verstehen, reich zu werden (übrigens begreife ich es auch jetzt nicht). Ich kannte einen armen Kerl, von dem man mir später erzählte, er sei Hungers gestorben, und ich erinnere mich, daß mich dies ganz außer mir brachte: hätte man diesen armen Menschen ins Leben zurückrufen können, so hätte ich ihn, glaube ich, hinrichten lassen. Es ging mir manchmal ganze Wochen lang besser, und ich konnte auf die Straße gehen; aber was ich auf der Straße sah, versetzte mich in eine so ärgerliche Stimmung, daß ich ganze Tage lang absichtlich im verschlossenen Zimmer saß, obgleich ich wie alle Leute hätte ausgehen können. Ich konnte dieses hin und her rennende, hastende, immer sorgenvolle, mürrische, aufgeregte Volk nicht vertragen, das auf dem Trottoir um mich herumwimmelte. Wozu ihre lebenslängliche Traurigkeit, ihre lebenslängliche Unruhe und Geschäftigkeit, ihre lebenslängliche mürrische Bosheit (denn sie sind boshaft, boshaft, boshaft). Wer ist schuld daran, daß sie unglücklich sind und nicht zu leben verstehen, obwohl jeder von ihnen sechzig Lebensjahre vor sich hat? Warum hat Sarnizyn es dahin kommen lassen, daß er Hungers starb, obgleich er sechzig Jahre vor sich hatte? Und jeder weist auf seine abgetragene Kleidung hin und auf seine zerarbeiteten Hände und erbost sich und schreit: ›Wir arbeiten wie die Ochsen und quälen uns ab; aber wir sind hungrig wie die Hunde und sind arm! Andere arbeiten nicht und quälen sich nicht ab und sind reich!‹ (Das ist der ewige Refrain!) Und mit ihnen zugleich läuft so ein unglücklicher Jammermensch ›aus besserer Familie‹ herum und rackert sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend ab; ich denke an Iwan Fomitsch Surikow, der in unserm Haus über uns wohnt; er hat immer zerrissene Ellbogen und durchgeriebene Knöpfe und macht für allerlei Leute Gänge und übernimmt Aufträge, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Läßt man sich mit ihm in ein Gespräch ein, dann bekommt man zu hören: ›Ich bin arm, geradezu ein Bettler; meine Frau ist mir gestorben; ich hatte kein Geld, um ihr Medizin zu kaufen; und im Winter ist mir ein kleines Kind erfroren; meine älteste Tochter lebt als Mätresse ...‹ So jammert und weint er fortwährend! Oh, ich habe kein Mitleid, nicht das geringste Mitleid mit diesen Dummköpfen; ich habe jetzt keines und habe es auch früher nicht gehabt; das sage ich mit Stolz! Warum ist er denn nicht selbst ein Rothschild? Wer ist schuld daran, daß er nicht Millionen besitzt wie Rothschild, daß er nicht einen Berg goldener Imperials und Napoleondors besitzt, einen so hohen Berg, wie man ihn in der Butterwoche in den Schaubuden sieht? Wenn er lebt, so steht das doch alles in seiner Macht! Wer ist schuld daran, daß er das nicht begreift?

Oh, jetzt ist mir schon alles gleichgültig; jetzt habe ich keine Zeit mehr, mich zu ärgern; aber damals, damals, ich wiederhole es, ärgerte ich mich und habe tatsächlich nachts vor Wut an meinem Kopfkissen genagt und meine Bettdecke zerrissen. Oh, in was für Phantasien erging ich mich damals, wie sehnlich wünschte ich, man möchte mich, den Achtzehnjährigen, kaum bekleidet, auf einmal auf die Straße jagen und mich da ganz mir selbst überlassen, ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne einen Bissen Brot, ohne Verwandte, ohne einen einzigen bekannten Menschen in der ungeheuren Stadt, hungrig, zerprügelt (um so besser!), aber gesund; und da hätte ich zeigen wollen ...

Was hätte ich zeigen wollen?

Oh, glauben Sie wirklich, daß ich nicht weiß, wie sehr ich mich ohnehin schon durch diese meine ›Erklärung‹ erniedrigt habe? Jeder wird mich ja für einen dummen Jungen halten, der das Leben nicht kennt, und wird vergessen, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin, und daß ein solches Leben zu führen, wie ich es in diesen sechs Monaten geführt habe, denselben Wert hat, wie wenn einer alt und grau wird! Aber mögen die Leute lachen und sagen, daß das lauter Märchen sind. Ich habe mir wirklich Märchen erzählt. Ganze Nächte habe ich mit ihnen ausgefüllt; ich erinnere mich jetzt an sie alle.
Aber soll ich sie denn jetzt wiedererzählen, jetzt, wo auch für mich die Zeit der Märchen schon vorbei ist? Und wem soll ich sie wiedererzählen? Ich habe mich damals an ihnen belustigt, als ich klar sah, daß es mir sogar versagt war, die griechische Grammatik zu lernen; es fiel mir zur rechten Zeit ein: ›Ehe ich noch bis zur Syntax werde gelangt sein, werde ich sterben.‹ Das bedachte ich gleich bei der ersten Seite und warf das Buch unter den Tisch. Da liegt es auch jetzt noch; ich habe unserer Magd Matrona verboten, es aufzuheben.

Mag immerhin, wer meine ›Erklärung‹ in die Hände bekommt und die Geduld hat, sie durchzulesen, mich für einen Geisteskranken halten, oder auch für einen Gymnasiasten, oder am wahrscheinlichsten für einen zum Tode Verurteilten, der natürlich der Meinung sein muß, alle Menschen außer ihm selbst wüßten den Wert des Lebens zu wenig zu schätzen, hätten sich zu sehr gewöhnt, es zu vergeuden, genössen es zu träge und zu gewissenlos und seien somit allesamt seiner unwürdig! Mag man das denken; was tut's? Ich erkläre, daß mein Leser sich irrt, und daß meine Überzeugung in keiner Weise von meinem Todesurteil abhängig ist. Man frage doch nur die Menschen, worein sie alle, vom ersten bis zum letzten, das Glück setzen. Oh, man kann sicher sein, daß Kolumbus nicht glücklich war, als er Amerika entdeckt hatte, sondern zu der Zeit, als er es entdecken wollte; man kann sicher sein, daß sein Glück den Gipfelpunkt vielleicht drei Tage vor der Entdeckung der Neuen Welt erreicht hatte, als die meuternde Schiffsmannschaft in ihrer Verzweiflung nahe daran war, das Schiff wieder nach Europa zurückzuwenden! Nicht darauf kam es an, daß die Neue Welt wirklich entdeckt wurde; die hätte ruhig untergehen können. Kolumbus starb, fast ohne sie gesehen zu haben und, was die Hauptsache ist, ohne zu wissen, was er entdeckt hatte. Es kommt auf das Leben an, einzig und allein auf das Leben, darauf, daß man ununterbrochen, lebenslänglich damit beschäftigt ist, zu entdecken, und ganz und gar nicht auf das Entdeckte selbst! Aber wozu rede ich! Ich fürchte, alles, was ich jetzt sage, hat mit den landläufigsten Redensarten eine solche Ähnlichkeit, daß man mich wahrscheinlich für einen Schüler der untersten Klasse halten wird, der einen Aufsatz über den Sonnenuntergang schreibt, oder sagen wird, ich hätte zwar etwas vorbringen wollen, beim besten Willen aber nicht verstanden, mich auszudrücken. Aber ich möchte doch hinzufügen, daß bei jedem genialen oder neuen Menschengedanken oder einfach sogar bei jedem ernsten Menschengedanken, der in jemandes Kopf entsteht, immer ein Rest übrigbleibt, den man andern Menschen nicht mitteilen kann, und wenn man ganze Bände vollschriebe und seinen Gedanken fünfunddreißig Jahre lang kommentierte; es bleibt immer ein Rest übrig, der nicht aus dem Schädel des Urhebers herausgehen will und lebenslänglich darinbleibt; und so stirbt man denn, ohne jemandem vielleicht gerade den Kernpunkt seines Gedankens mitgeteilt zu haben. Aber wenn ich auch gleichfalls nicht verstanden haben sollte, alles mitzuteilen, was mich in diesen sechs Monaten gequält hat, so werden die Leser wenigstens verstehen, daß ich meine jetzige ›letzte Überzeugung‹, zu der ich gelangt bin, vielleicht recht teuer bezahlt habe; ich habe in bestimmter Absicht für notwendig befunden, dies hier in meiner ›Erklärung‹ hervorzuheben.
Indessen, ich fahre fort.

VI

Ich will nicht lügen: das tätige Leben hat in diesen sechs Monaten auch nach mir seinen Angelhaken ausgeworfen und auf mich manchmal eine solche Anziehungskraft ausgeübt, daß ich mein Todesurteil vergaß oder, richtiger gesagt, nicht daran denken wollte und sogar anfing, tätig zu sein. Ich schiebe bei dieser Gelegenheit einige Worte über meine damalige äußere Lage ein. Als ich vor acht Monaten schon recht krank wurde, brach ich alle meine Beziehungen ab und sagte mich von all meinen bisherigen Kameraden los. Da ich von jeher ein recht mürrischer Geselle gewesen war, so vergaßen sie mich leicht; natürlich hätten sie mich auch ohne das vergessen. Auch zu Hause, das heißt in der Familie, stand ich einsam da. Vor etwa fünf Monaten schloß ich mich ein für allemal von den Meinigen ab und betrat seitdem die Zimmer der Familie gar nicht mehr. Die Meinigen gehorchten mir stets, und niemand wagte zu mir hereinzukommen, außer um zu bestimmter Stunde das Zimmer aufzuräumen und mir das Mittagessen zu bringen. Meine Mutter nahm zitternd meine Befehle entgegen und wagte nicht einmal vor meinen Ohren zu jammern, wenn ich mich mitunter entschloß, sie zu mir hereinzulassen. Die Kinder schlug sie um meinetwillen beständig, damit sie nicht Lärm machten und mich dadurch störten; denn ich beklagte mich oft über ihr Geschrei; ich kann mir denken, wie lieb sie mich jetzt haben! Den ›treuen Kolja‹, wie ich ihn benannt habe, werde ich wohl auch gehörig gequält haben. In der letzten Zeit hat auch er mich gepeinigt: das alles war ganz natürlich; die Menschen sind eben dazu geschaffen, einander zu peinigen. Aber ich merkte, daß er mein reizbares Wesen so ertrug, als hätte er sich von vornherein vorgenommen, mit mir als einem Kranken schonend umzugehen. Natürlich reizte mich das noch mehr; aber wie es schien, beabsichtigte er, dem Fürsten in christlicher Sanftmut nachzueifern, was ziemlich lächerlich herauskam. Er ist ein junger, heißblütiger Mensch und macht natürlich alles mögliche nach; aber es wollte mir manchmal scheinen, daß es für ihn an der Zeit sei, seinen eigenen Verstand zur Richtschnur zu nehmen. Ich habe ihn sehr gern. Ich habe auch Surikow gequält, der über uns wohnt und vom Morgen bis zum Abend herumläuft, um allerlei Aufträge auszuführen; ich suchte ihm fortwährend zu beweisen, daß er an seiner Armut selbst schuld sei, so daß er endlich ängstlich wurde und aufhörte, zu mir zu kommen. Er ist ein sehr sanftmütiger Mensch, das sanftmütigste Wesen, das man sich nur denken kann. (Notabene! Ich habe die Behauptung gehört, die Sanftmut sei eine gewaltige Kraft; ich muß den Fürsten danach fragen; es ist das sein eigener Ausdruck.) Aber als ich im März zu ihm nach oben gegangen war, um zu sehen, wie sie dort das kleine Kind nach seinem Ausdruck ›hatten erfrieren lassen‹, und, neben der Leiche des Kindes stehend, lächelte, weil ich diesem Surikow wieder zu beweisen anfing, daß er ›selbst daran schuld‹ sei, da begannen diesem Jammermenschen auf einmal die Lippen zu beben; er faßte mich mit der einen Hand an der Schulter, wies mit der andern nach der Tür und sagte leise, beinah flüsternd, zu mir: ›Gehen Sie weg!‹ Ich ging hinaus, und sein Benehmen gefiel mir sehr, gefiel mir gleich damals, gleich in dem Augenblick, als er mich hinauswies; aber seine Worte riefen nachher, wenn ich mich an sie erinnerte, lange Zeit bei mir das peinliche Gefühl eines seltsamen, geringschätzigen Mitleids mit ihm hervor, das ich eigentlich gar nicht empfinden wollte. Sogar im Augenblick einer solchen Kränkung (ich fühle ja, daß ich ihn gekränkt habe, obgleich das nicht in meiner Absicht lag), sogar in einem solchen Augenblick brachte dieser Mensch es nicht fertig, böse zu werden! Ich kann beschwören, daß seine Lippen damals nicht vor Zorn bebten, und als er mich am Arm faßte und sein prächtiges ›Gehen Sie weg!‹ sprach, da war er entschieden nicht zornig. Eine gewisse Würde lag darin, sogar viel Würde, eine Würde, die zu seinem ganzen Wesen gar nicht recht passen wollte (so daß sie, die Wahrheit zu sagen, einen recht komischen Anstrich hatte); aber Zorn lag nicht darin. Vielleicht hatte er einfach angefangen, mich zu verachten. Seit jener Zeit begann er auf einmal, als ich ihm ein paarmal auf der Treppe begegnete, vor mir den Hut abzunehmen, was er früher nie getan hatte; aber er blieb nicht mehr stehen wie früher, sondern lief verlegen an mir vorbei. Wenn er mich auch verachtete, so machte er das doch auf seine Weise: er ›verachtete mich sanftmütig‹. Vielleicht aber nahm er seinen Hut auch einfach aus Furcht ab, weil ich der Sohn seiner Gläubigerin war; denn er war meiner Mutter beständig Geld schuldig und nie imstande, sich aus den Schulden herauszuarbeiten. Und das ist sogar das wahrscheinlichste. Ich hätte mich gern mit ihm ausgesprochen und weiß sicher, daß er nach zehn Minuten mich um Verzeihung gebeten hätte; aber ich war doch der Meinung, daß es das beste sei, ihn in Ruhe zu lassen.

Zu derselben Zeit, das heißt um die Zeit, als Surikow sein Kind ›erfrieren ließ‹, Mitte März, besserte sich ohne sichtbaren Grund mein Befinden auf einmal erheblich, und das dauerte etwa vierzehn Tage. Ich fing an auszugehen, am häufigsten in der Abenddämmerung. Ich liebte diese Tageszeit im März, wo es anfängt, kalt zu werden und das Gas angezündet wird; ich machte manchmal weite Wege. Einmal überholte mich in der Schestilawotschnaja-Straße in der Dunkelheit ein ›den besseren Ständen angehöriger‹ Herr; ich konnte ihn nicht genauer sehen; er trug etwas in Papier Eingewickeltes und hatte einen kurzen, unschönen Paletot an, der für die Jahreszeit zu leicht war. Als er bei einer Laterne vorbeikam, die sich in einer Entfernung von ungefähr zehn Schritten vor mir befand, bemerkte ich, daß ihm etwas aus der Tasche fiel. Ich beeilte mich, es aufzuheben – und es war die höchste Zeit, da bereits ein Mann in einem langen Kaftan hinzusprang; als dieser aber den Gegenstand in meinen Händen erblickte, machte er ihn mir nicht streitig, warf nur einen eiligen Blick danach hin und schlüpfte vorbei. Dieser Gegenstand war eine große, lederne, altmodische, ganz vollgestopfte Brieftasche; aber ich vermutete, ich weiß nicht woher, gleich beim ersten Blick, daß alles mögliche darin sei, nur kein Geld. Der Passant, der die Brieftasche verloren hatte, ging bereits etwa vierzig Schritte vor mir, und ich verlor ihn in der Menge bald aus dem Gesicht. Ich fing an zu laufen und ihm nachzurufen; aber da ich nichts weiter rufen konnte als ›He!‹, so drehte er sich nicht um. Auf einmal bog er nach links in den Torweg eines Hauses ein. Als ich in den Torweg hineinlief, in dem es sehr dunkel war, war niemand mehr da. Das Haus war von gewaltiger Größe, eines jener Riesenbauwerke, wie sie von Spekulanten mit lauter kleinen Wohnungen errichtet werden; in manchen derartigen Häusern gibt es bis zu hundert Wohnungen. Als ich durch den Torweg lief, kam es mir so vor, als ob in dem hinten rechts befindlichen Winkel des riesigen Hofes ein Mensch ginge, wiewohl ich es in der Dunkelheit kaum unterscheiden konnte. Ich lief nach jenem Winkel hin und sah einen Eingang mit einer Treppe. Die Treppe war eng, sehr schmutzig und ganz ohne Beleuchtung; aber ich hörte, daß oben ein Mensch noch die Stufen hinaufstieg, und begann ebenfalls hinaufzusteigen, indem ich darauf rechnete, ihn einzuholen, während ihm irgendwo eine Tür werde geöffnet werden. So ähnlich kam es denn auch. Die Treppen waren zwar sehr kurz, aber sehr zahlreich, so daß ich furchtbar außer Atem kam; im fünften Stock wurde eine Tür geöffnet und wieder zugemacht, das merkte ich, als ich noch drei Treppen tiefer war. Während ich hinauflief, auf dem Treppenabsatz wieder Atem schöpfte und die Klingel suchte, waren mehrere Minuten vergangen. Endlich öffnete mir eine Frau, die in einer winzigen Küche einen Samowar anblies; sie hörte schweigend meine Fragen an, verstand natürlich nichts davon und öffnete mir schweigend die Tür zu dem anstoßenden Zimmer, einem ebenfalls kleinen, furchtbar niedrigen Raum; hier standen nur die notwendigsten Möbel, und zwar von sehr schlechter Art, und ein gewaltiges, breites, mit Vorhängen versehenes Bett, auf welchem ›Terentjitsch‹ (so rief ihn die Frau) lag, wie mir schien, in betrunkenem Zustand. Auf dem Tisch brannte ein Lichtstümpfchen in einem eisernen Nachtleuchter; auch stand dort eine fast geleerte Flasche Branntwein. Terentjitsch brummte, ohne aufzustehen, mir etwas zu und wies mit der Hand nach einer Tür; die Frau war weggegangen, so daß mir weiter nichts übrigblieb, als diese Tür zu öffnen. Das tat ich denn auch und trat in das folgende Zimmer.

Dieses Zimmer war noch schmaler und enger als das vorhergehende, so daß ich nicht einmal wußte, wie ich mich darin umdrehen sollte; ein schmales, einschläfriges Bett in der Ecke nahm einen großen Teil des Raumes in Anspruch; von andern Möbeln war weiter nichts vorhanden als drei einfache Stühle, die mit allerlei Lumpenkram bepackt waren, und ein ganz einfacher hölzerner Küchentisch vor einem alten Wachstuchsofa, so daß man zwischen dem Tisch und dem Bett kaum durchgehen konnte. Auf dem Tisch brannte ein Talglicht auf einem ebensolchen Leuchter wie im ersten Zimmer, und auf dem Bett quäkte ein ganz kleines Kind, nach dem Schreien zu urteilen vielleicht erst drei Wochen alt; eine kranke, blasse, anscheinend noch junge Frau in tiefem Negligé, die vielleicht nach der Entbindung eben erst wieder angefangen hatte aufzustehen, war damit beschäftigt, das Kind mit trockenen Windeln zu versehen; aber das Kind wollte sich nicht beruhigen und schrie in Erwartung der mageren Mutterbrust weiter. Auf dem Sofa schlief ein anderes Kind, ein dreijähriges Mädchen, das, wie es schien, mit einem Frack zugedeckt war. Am Tisch stand der Herr in einem sehr abgetragenen Rock (den Paletot hatte er schon ausgezogen, und dieser lag auf dem Bett) und wickelte ein blaues Papier auseinander, in welches zwei Pfund Weißbrot und zwei kleine Würste eingeschlagen waren. Auf dem Tisch stand außerdem eine Teekanne mit Tee; auch lagen dort ein paar Stücke Schwarzbrot umher. Unter dem Bett schaute ein offener Koffer hervor, desgleichen zwei Bündel mit alten Kleidern.

Kurz, es herrschte eine furchtbare Unordnung. Ich hatte auf den ersten Blick den Eindruck, daß sie beide, sowohl der Herr als die Dame, von besserem Stand, aber durch die Armut in jenen erniedrigenden Zustand versetzt waren, in dem die Unordnung schließlich jeden Versuch, gegen sie anzukämpfen, niederschlägt und es den Menschen sogar zu einem schmerzlichen Bedürfnis macht, in dieser täglich wachsenden Unordnung selbst ein gewisses bitteres und sozusagen rachsüchtiges Gefühl des Vergnügens zu finden.

Als ich eintrat, war dieser Herr, der ebenfalls erst kurz vor mir hereingekommen war und seine Lebensmittel auswickelte, mit der Frau in schnellem, lebhaftem Gespräch begriffen; obwohl diese noch mit dem Trockenlegen des Kindes beschäftigt war, hatte sie doch bereits zu jammern angefangen; denn die Nachrichten, die der Mann mitgebracht hatte, waren offenbar wie gewöhnlich schlecht gewesen. Das magere Gesicht dieses der äußeren Erscheinung nach etwa achtundzwanzigjährigen Mannes zeigte eine bräunliche Farbe und war umrahmt von einem schwarzen Backenbart mit glatt ausrasiertem Kinn; es machte mir einen recht anständigen, sogar angenehmen Eindruck; die Miene war ingrimmig, aber mit einer krankhaften Beimischung von sehr reizbarem Stolz. Als ich eintrat, spielte sich eine seltsame Szene ab.

Es gibt Leute, die in ihrer reizbaren Empfindlichkeit einen besonderen Genuß finden, namentlich wenn diese (was sich immer sehr schnell vollzieht) ihren höchsten Grad erreicht; in diesem Augenblick ist es ihnen, wie es scheint, sogar angenehmer, beleidigt zu sein, als nicht beleidigt zu sein. Diese reizbaren Menschen werden nachher immer von heftiger Reue gequält, selbstverständlich wenn sie klug genug sind, um einzusehen, daß sie sich zehnmal so empfindlich benommen haben, wie es angemessen gewesen wäre. Dieser Herr blickte mich eine Weile erstaunt an, die Frau dagegen war so erschrocken, als wäre es ein furchtbares Wunder, daß auch zu ihnen jemand kam; plötzlich aber stürzte der Herr, als ich noch kaum ein paar Worte gemurmelt hatte, mit einer wahren Wut auf mich los; aber namentlich weil er sah, daß ich anständig gekleidet war, hielt er sich wohl dadurch für schrecklich beleidigt, daß ich gewagt hatte, so ungeniert in seine elende Wohnung hereinzukommen und die ganze unordentliche Einrichtung zu betrachten, deren er sich selbst schämte. Er freute sich gewiß, daß er eine Gelegenheit gefunden hatte, an irgend jemand seinen Ärger über all seine Mißerfolge auszulassen. Einen Augenblick lang dachte ich sogar, er werde auf mich losschlagen: er wurde blaß wie eine Frau bei einem hysterischen Anfall, worüber seine Frau einen furchtbaren Schreck bekam.

›Wie können Sie es wagen, so einzutreten? Hinaus!‹ schrie er zitternd und kaum imstande, die Worte ordentlich herauszubringen. Aber plötzlich erblickte er in meiner Hand seine Brieftasche.

›Sie haben das wohl verloren?‹ sagte ich in möglichst ruhigem, trockenem Ton. (Das war übrigens das Richtige.)

Er stand ganz erschrocken vor mir da und konnte eine Weile nichts begreifen; dann griff er schnell nach seiner Seitentasche, öffnete vor Schreck den Mund und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

›O Gott! Wo haben Sie es gefunden? Wie ist das zugegangen?‹

Ich erklärte ihm in kurzen Worten und womöglich in noch trockenerem Ton als vorher, wie ich die Brieftasche aufgehoben hätte, ihm noch nachgeeilt wäre und ihm nachgerufen hätte, und wie ich endlich auf meine Vermutung hin, und beinah nur von meinem Gefühl geleitet, hinter ihm her die Treppe hinaufgelaufen wäre.

›O Gott!‹ rief er, zu seiner Frau gewendet; ›hier sind all unsere Dokumente darin und meine letzten Instrumente; hier ist alles ..., oh, mein Herr, wissen Sie, was Sie für mich getan haben? Ich wäre verloren gewesen!‹

Ich griff unterdessen nach der Türklinke, um ohne Antwort fortzugehen; aber ich selbst hatte keine Luft, und plötzlich kam meine Aufregung in einem so heftigen Hustenanfall zum Ausbruch, daß ich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Ich sah, wie der Herr nach allen Seiten umherstürzte, um für mich einen leeren Stuhl zu finden, wie er endlich die auf dem einen Stuhl liegenden Lumpen packte, sie auf den Fußboden warf, mir eilig den Stuhl reichte und mir vorsichtig behilflich war, mich darauf zu setzen. Aber mein Husten dauerte fort und beruhigte sich erst nach etwa drei Minuten. Als ich wieder zu mir kam, saß er schon neben mir auf einem anderen Stuhl, von dem er wahrscheinlich ebenfalls die Lumpen auf den Fußboden geworfen hatte, und betrachtete mich unverwandt.

›Sie scheinen leidend zu sein?‹ sagte er in dem Ton, in dem gewöhnlich die Ärzte reden, wenn sie zu einem Kranken kommen. ›Ich selbst bin Mediziner‹ (er sagte nicht: Arzt), und bei diesen Worten wies er zu irgendwelchem Zweck mit der Hand auf das Zimmer hin, wie wenn er gegen seine jetzige Lage protestierte. ›Ich sehe, daß Sie ...‹

›Ich bin schwindsüchtig‹, sagte ich möglichst kurz und stand auf.

Er sprang ebenfalls auf.

›Vielleicht sehen Sie die Sache zu schwarz an, und ... bei Anwendung geeigneter Mittel ...‹

Er war in größter Verwirrung und schien seine Fassung immer noch nicht wiedergewinnen zu können; die Brieftasche hielt er in der linken Hand.

›Oh, beunruhigen Sie sich nicht!‹ unterbrach ich ihn und griff wieder nach der Türklinke; ›in der vorigen Woche hat mich B...n untersucht‹ (ich brachte also wieder B...n hinein), ›und mein Fall liegt ganz klar. Entschuldigen Sie nur ...‹

Ich wollte wieder die Tür öffnen und meinen verlegenen, dankbaren, beschämten Arzt verlassen; aber der nichtswürdige Husten befiel mich in diesem Augenblick von neuem. Nun bestand mein Arzt darauf, daß ich wieder Platz nähme und mich erholte; er wandte sich zu seiner Frau, und diese sagte mir, ohne ihren Platz zu verlassen, ein paar dankbare, höfliche Worte. Sie wurde dabei sehr verlegen, so daß sogar eine Röte auf ihren blaßgelben, hageren Wangen spielte. Ich blieb; nahm aber dabei eine Miene an, die in jedem Augenblick zeigte, daß ich sehr fürchtete, sie zu genieren. (Das war auch das Richtige.) Mein Arzt wurde schließlich von peinlicher Reue gequält; das sah ich.

›Wenn ich ...‹, begann er, fortwährend abbrechend und in andere Konstruktion übergehend. ›Ich bin Ihnen so dankbar und habe mir so viel gegen Sie zuschulden kommen lassen ... ich ... Sie sehen ...‹, er zeigte wieder auf das Zimmer, ›ich befinde mich augenblicklich in einer solchen Lage ...‹

›Oh‹, sagte ich, ›da ist nichts dabei; das ist nichts Ungewöhnliches. Sie haben wohl Ihre Stelle verloren und sind hergekommen, um sich vor den maßgebenden Persönlichkeiten zu rechtfertigen und eine neue Stelle zu suchen?‹

›Woher ... woher wissen Sie das?‹ fragte er erstaunt.

›Das sieht man auf den ersten Blick‹, antwortete ich, unwillkürlich in spöttischem Ton. ›Es kommen viele aus der Provinz hoffnungsvoll hierher, laufen hier herum und führen ein ebensolches Leben wie Sie.‹

Er fing auf einmal an, mit zitternden Lippen lebhaft zu reden; er beklagte sich über das, was ihm widerfahren war, erzählte alles ausführlich und erregte, wie ich bekennen muß, mein Interesse; ich saß bei ihm fast eine Stunde. Er erzählte mir seine Geschichte, die übrigens von ganz gewöhnlicher Art war. Er war Arzt in der Provinz gewesen und hatte ein staatliches Amt bekleidet; aber da hatten nun Intrigen begonnen, in die auch seine Frau mit hineingezogen worden war. Er hatte seinen Stolz herausgekehrt und sich hitzköpfig benommen; bei der Gouvernementsbehörde war eine für seine Feinde günstige Personalveränderung eingetreten; sie hatten gegen ihn miniert und Beschwerden über ihn eingereicht; er hatte seine Stelle verloren und war, seine letzten Mittel zusammennehmend, nach Petersburg gekommen, um sich zu rechtfertigen; in Petersburg hatte man, nach dem bekannten Verfahren, ihm lange Zeit überhaupt kein Gehör gegeben, dann ihn angehört, dann ihn abschlägig beschieden, dann ihm lockende Versprechungen gemacht, dann ihm scharf und streng geantwortet, dann ihn aufgefordert, eine Rechtfertigungsschrift zu verfassen, dann deren Annahme verweigert, ihn aufgefordert, eine Bittschrift einzureichen – kurz, er war hier schon über vier Monate herumgelaufen und hatte all seine Mittel aufgezehrt; die letzten Sachen seiner Frau waren ins Leihhaus gewandert, und nun war das Kind geboren, und ... und ... ›heute habe ich auf die eingereichte Bittschrift endgültig einen ablehnenden Bescheid erhalten; und ich habe fast kein Brot mehr, nichts habe ich, und nun ist noch meine Frau niedergekommen. Ich ... ich ...‹

Er sprang vom Stuhl auf und wandte sich ab. Seine Frau weinte in der Ecke; das Kind begann wieder zu wimmern. Ich zog mein Notizbuch heraus und begann darin zu schreiben. Als ich damit fertig war und mich erhob, stand er vor mir und sah mich in ängstlicher Spannung an. ›Ich habe mir Ihren Namen notiert‹, sagte ich zu ihm, ›nun, und auch alles übrige: den Ort, wo Sie angestellt waren, den Namen Ihres Gouverneurs und die Daten. Ich habe einen Bekannten, noch von der Schule her, er heißt Bachmutow; dessen Onkel ist der Wirkliche Staatsrat Peter Matwejewitsch Bachmutow, der als Departementsdirektor ...‹

›Peter Matwejewitsch Bachmutow!‹ rief mein Mediziner, zitternd vor Aufregung. ›Aber das ist ja gerade der Mann, von dem fast alles abhängt!‹

Tatsächlich nahm die Geschichte meines Mediziners, an deren weiterer Entwicklung ich, durch den Zufall veranlaßt, mitwirkte, nun einen so glücklichen Gang, als ob alles dazu sorgsam vorbereitet gewesen wäre, ganz wie in einem Roman. Ich sagte diesen armen Leuten, sie sollten sich bemühen, auf mich keinerlei Hoffnungen zu setzen; ich sei selbst nur ein armer Gymnasiast (ich setzte mich selbst absichtlich herunter; ich hatte das Gymnasium schon längst absolviert und war nicht mehr Gymnasiast); es habe keinen Zweck, ihnen meinen Namen anzugeben; aber ich würde mich sofort nach der Wasili-Insel zu meinem Kameraden Bachmutow begeben, und da ich zuverlässig wisse, daß sein Onkel, der Wirkliche Staatsrat, ein kinderloser Junggeselle, an seinem Neffen, in dem er den letzten Sproß seines Geschlechts sehe, außerordentlich hänge und ihn sehr in sein Herz geschlossen habe, so ›wird mein Kamerad vielleicht imstande sein, mir zu Gefallen bei seinem Onkel etwas für Sie durchzusetzen ...‹

›Wenn mir nur gestattet würde, mich vor Seiner Exzellenz zu rechtfertigen! Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden, die Sache mündlich darzulegen!‹ rief er; er zitterte wie im Fieber, und seine Augen glänzten.

So drückte er sich aus: ›Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden!‹ Nachdem ich noch einmal wiederholt hatte, die Sache werde wahrscheinlich mißlingen und alles sich als Torheit herausstellen, fügte ich hinzu, wenn ich morgen vormittag nicht zu ihnen käme, so sei die Sache aus, und sie hätten nichts mehr zu erwarten. Sie begleiteten mich unter Verbeugungen hinaus und waren fast wie von Sinnen. Nie werde ich ihren Gesichtsausdruck vergessen.

Ich nahm mir eine Droschke und fuhr sogleich nach der Wasili-Insel.

Mit diesem Bachmutow hatte ich auf dem Gymnasium mehrere Jahre lang auf gespanntem Fuß gelebt. Er galt bei uns für einen Aristokraten; wenigstens nannte ich ihn so: er war stets elegant gekleidet und kam in eigener Equipage angefahren; indessen renommierte er nicht, sondern benahm sich stets als guter Kamerad; er war immer außerordentlich heiter und sogar manchmal recht witzig, obgleich es mit seinem Verstand nicht weit her war, trotzdem er in der Klasse immer den ersten Platz innehatte; ich dagegen war nie in irgendeinem Gegenstand der Erste. Alle Kameraden mochten ihn gern leiden, nur ich nicht. Mehrmals hatte er sich mir im Lauf jener Jahre zu nähern versucht; aber ich hatte mich jedesmal mürrisch und gereizt von ihm abgewandt. Jetzt hatte ich ihn schon seit einem Jahr nicht mehr gesehen; er besuchte die Universität. Als ich zwischen acht und neun Uhr abends zu ihm ins Zimmer trat (es war sehr zeremoniös zugegangen, indem ich erst angemeldet worden war), empfing er mich zunächst erstaunt, auch nicht einmal eigentlich freundlich; dann aber wurde er sofort heiter und lachte, mich anblickend, auf einmal laut auf. ›Wie sind Sie denn auf den Einfall gekommen, mich zu besuchen, Terentjew?‹ rief er mit seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Ungeniertheit, die manchmal etwas Dreistes, aber nie etwas Verletzendes hatte, die mir an ihm so gefiel, und um derentwillen ich ihn so haßte.

›Aber was ist das?‹ rief er erschrocken. ›Sie sehen ja so krank aus!‹

Der Husten quälte mich wieder; ich sank auf einen Stuhl und konnte mich nur mit Mühe wieder erholen.

›Beunruhigen Sie sich nicht; ich habe die Schwindsucht‹, sagte ich. ›Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen.‹

Erstaunt setzte er sich hin; ich trug ihm sofort die ganze Geschichte des Arztes vor und bemerkte, er selbst könne bei dem großen Einfluß, den er auf seinen Onkel ausübe, vielleicht für den Unglücklichen etwas bewirken.

›Das werde ich, das werde ich unbedingt tun; gleich morgen werde ich meinen Onkel in dieser Angelegenheit überfallen; ich freue mich sogar sehr; Sie haben das alles so hübsch erzählt ... Aber wie sind Sie denn eigentlich auf den Einfall gekommen, Terentjew, sich an mich zu wenden?‹

›Von Ihrem Onkel hängt hier so viel ab, und außerdem waren wir beide, Sie und ich, immer Feinde, Bachmutow, und da Sie ein anständig denkender Mensch sind, so dachte ich, daß Sie es einem Feind nicht abschlagen würden‹, fügte ich ironisch hinzu.

›Gerade wie Napoleon sich an England gewendet hat!‹ rief er lachend. ›Ich werde es tun, ich werde es tun! Ich werde sogar sofort hingehen, wenn es möglich ist!‹ fügte er eilig hinzu, als er sah, daß ich ernst und gemessen vom Stuhl aufstand.

Und wirklich nahm ganz unerwarteterweise diese unsere Sache einen solchen Verlauf, wie man sich einen besseren gar nicht denken konnte. Nach anderthalb Monaten erhielt unser Mediziner wieder eine Stelle in einem andern Gouvernement; er bekam das Umzugsgeld und sogar eine Unterstützung. Ich vermute, daß Bachmutow, der die beiden Leute häufig zu besuchen pflegte (während ich seitdem absichtlich nicht mehr zu ihnen ging und den Arzt, wenn er zu mir kam, ziemlich trocken empfing) – Bachmutow überredete, wie ich vermute, den Arzt sogar, ein Darlehen von ihm anzunehmen. Mit Bachmutow kam ich in diesen sechs Wochen zweimal zusammen, und wir trafen uns zum drittenmal, als wir von dem Arzt bei seiner Abreise Abschied nahmen. Bachmutow hatte bei sich zu Hause eine Abschiedsfeier in Form eines Mittagessens mit Champagner arrangiert; dabei war auch die Frau des Arztes zugegen; indes fuhr sie sehr bald wieder nach Hause zu ihrem Kind. Das war Anfang Mai; es war ein klarer Abend, und der gewaltige Sonnenball senkte sich in die Bucht hinab. Bachmutow begleitete mich nach Hause; wir gingen über die Nikolajewski-Brücke; der genossene Wein hatte auf uns beide seine Wirkung ausgeübt. Bachmutow sprach sein Entzücken darüber aus, daß die Sache zu einem so guten Ende gelangt war, bedankte sich bei mir für irgend etwas, sagte, eine wie angenehme Empfindung er jetzt nach dieser guten Tat habe, versicherte, daß das ganze Verdienst mir gebühre, und bemerkte, es sei ein arger Irrtum, wenn heutzutage viele lehrten und predigten, daß die gute Tat eines einzelnen keinen Wert habe. Auch mich drängte es, mich auszusprechen.

›Wer das sogenannte Einzelalmosen angreift‹, begann ich, ›der greift die Natur des Menschen an und verachtet dessen persönliche Würde. Aber die Organisation des staatlichen Almosenwesens und die Frage der persönlichen Freiheit sind zwei verschiedene Fragen und schließen sich gegenseitig nicht aus. Die gute Tat des einzelnen wird stets bestehenbleiben; denn sie ist ein Bedürfnis der Persönlichkeit, das lebendige Bedürfnis einer direkten Einwirkung der einen Persönlichkeit auf die andere. In Moskau lebte ein alter Herr mit einem deutschen Namen, ein General, das heißt ein Wirklicher Staatsrat; der ging sein ganzes Leben lang fortwährend in die Gefängnisse zu den Verbrechern; jeder Trupp von Verschickten, der nach Sibirien abging, wußte im voraus, daß der alte General ihm auf den Sperlingshügeln einen Besuch machen werde. Er verfuhr dabei mit größtem Ernst und größter Frömmigkeit; er erschien, ging durch die Reihen der Verschickten, die ihn umringten, blieb vor einem jeden stehen, erkundigte sich bei einem jeden nach seinen Bedürfnissen, hielt fast nie jemandem eine Strafpredigt und nannte sie alle Täubchen. Er gab ihnen Geld und schickte ihnen notwendige Gebrauchsgegenstände, wie Fußlappen und Leinwand; auch brachte er ihnen manchmal geistliche Büchelchen mit und beschenkte damit jeden des Lesens Kundigen in der festen Überzeugung, daß diese sie unterwegs lesen und ihren des Lesens unkundigen Schicksalsgenossen vorlesen würden. Nach den begangenen Verbrechen fragte er nur selten; indes hörte er zu, wenn der Verbrecher von selbst davon zu reden anfing. Alle Verbrecher behandelte er gleich; er machte darin keinen Unterschied. Er sprach mit ihnen wie mit Brüdern; sie selbst aber betrachteten ihn schließlich als ihren Vater. Wenn er unter den Verschickten eine Frau mit einem Kind auf dem Arm bemerkte, so trat er hinzu, liebkoste das Kind und schnipste ihm etwas mit den Fingern vor, damit es anfinge zu lachen. So verfuhr er viele Jahre lang bis zu seinem Tod; es kam so weit, daß er in ganz Rußland und in ganz Sibirien bekannt war, das heißt bei allen Verbrechern. Jemand, der in Sibirien gewesen ist, hat mir erzählt, er sei selbst Zeuge gewesen, wie die verstocktesten Verbrecher sich des Generals erinnerten; und dabei konnte der General, wenn er einen Trupp besuchte, jedem einzelnen Verschickten selten mehr als zwanzig Kopeken geben. Allerdings gedachten sie seiner nicht eigentlich mit warmer, tiefer Empfindung. Ein oder der andere dieser Unglücklichen, der vielleicht zwölf Menschen ermordet und ein halbes Dutzend Kinder lediglich zu seinem Vergnügen abgeschlachtet hatte (es heißt ja, daß es solche Menschen gibt), seufzte plötzlich aus heiler Haut und vielleicht nur einmal im Laufe seiner zwanzigjährigen Strafzeit auf und sagte: »Was mag jetzt der alte General machen? Ob er wohl noch lebt?« Dabei lächelte er vielleicht; das war alles. Aber woher wissen Sie, was für ein Samenkorn in die Seele dieses Verbrechers von diesem alten General gestreut war, den derselbe in den zwanzig Jahren nicht vergessen hatte? Woher wissen Sie, Bachmutow, welche Bedeutung diese Einverleibung einer Persönlichkeit in die andere für die Schicksale der einverleibten Persönlichkeit haben wird ...? Hierbei kommt ja das ganze Leben mit seiner zahllosen Menge uns unbekannter Verzweigungen in Betracht. Der beste Schachspieler, auch der scharfsinnigste, kann nur einige Züge vorausberechnen; von einem französischen Spieler, der zehn Züge vorausberechnen konnte, wurde in den Zeitungen wie von einem Weltwunder berichtet. Wieviele Züge aber und wieviel uns Unbekanntes gibt es in einem Menschenleben? Indem Sie Ihr Samenkorn, Ihr Almosen, Ihre gute Tat in irgendeiner Form ausstreuen, geben Sie einen Teil Ihrer Persönlichkeit weg und nehmen einen Teil einer andern in sich auf; Sie verleiben sich wechselseitig einer dem andern ein; es bedarf dann nur noch einiger Aufmerksamkeit, und Sie werden sich durch eine schöne Erkenntnis und durch ganz ungeahnte Entdeckungen belohnt sehen. Sie werden schließlich mit Sicherheit Ihre Tätigkeit wie eine Wissenschaft betrachten; diese Wissenschaft wird Ihr ganzes Leben in sich schließen und kann Ihr ganzes Leben ausfüllen. Auf der andern Seite werden all Ihre Gedanken und alle von Ihnen ausgestreuten Samenkörner, wenn Sie sie auch vielleicht längst vergessen haben, sich verkörpern und wachsen; wer sie von Ihnen empfangen hat, wird sie an einen andern weitergeben. Und wie können Sie wissen, welchen Anteil Sie dadurch an der künftigen Gestaltung der Schicksale der Menschheit haben werden? Wenn die theoretische Erkenntnis und ein ganzes dieser Arbeit gewidmetes Leben Sie schließlich dahin bringen, daß Sie imstande sind, ein gewaltiges Samenkorn auszustreuen, der Welt einen gewaltigen Gedanken als Erbe zu hinterlassen, dann ...‹ Und so weiter; ich redete damals noch viel über diesen Gegenstand.

›Und wenn man dabei daran denken muß, daß gerade Ihnen ein solches Leben nicht vergönnt ist!‹ rief Bachmutow im Ton eines erregten Vorwurfs, der sich gegen irgend jemand richtete.
In diesem Augenblick standen wir auf der Brücke, mit den Ellbogen auf das Geländer gestützt, und blickten auf die Newa hinunter. ›Wissen Sie, was mir eben durch den Kopf gegangen ist?‹ sagte ich, indem ich mich noch weiter über das Geländer bog.

›Doch nicht, sich in das Wasser zu stürzen?‹ rief Bachmutow beinah in Entsetzen. Vielleicht glaubte er, diesen Gedanken auf meinem Gesicht gelesen zu haben.

›Nein, vorläufig nur eine Erwägung, nämlich diese: ich habe jetzt noch zwei bis drei Monate zu leben, vielleicht vier; wenn ich aber zum Beispiel nur noch zwei Monate übrig hätte und große Lust bekäme, ein gutes Werk zu tun, das eine Menge Arbeit, Lauferei und Mühe erforderte, in der Art wie die Angelegenheit unseres Arztes, so müßte ich in solchem Fall aus Mangel an noch verfügbarer Zeit von dem betreffenden Werk Abstand nehmen und mir ein kleineres, meinen Mitteln entsprechendes Werk suchen (wenn es mich nun einmal so nach guten Werken gelüstet). Geben Sie zu, daß das ein amüsanter Gedanke ist!‹

Der arme Bachmutow war um mich sehr beunruhigt; er begleitete mich ganz bis zu mir nach Hause und war so zartfühlend, daß er sich gar nicht auf Tröstungsversuche einließ und fast immer schwieg. Als er von mir Abschied nahm, drückte er mir warm die Hand und bat mich um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete ihm, wenn er als ›Tröster‹ zu mir kommen wolle (und auch sein Schweigen würde diesen selben Sinn haben; ich machte ihm das klar), so werde er mich ja dadurch jedesmal erst recht an den Tod erinnern. Er zuckte die Schultern, gab mir aber recht; wir schieden recht höflich voneinander, was ich gar nicht erwartet hatte.

Aber an diesem Abend und in dieser Nacht wurde das erste Samenkorn meiner ›letzten Überzeugung‹ gesät. Eifrig erfaßte ich diesen neuen Gedanken; eifrig durchdachte ich ihn in allen Einzelheiten und Möglichkeiten (ich schlief die ganze Nacht nicht), und je mehr ich mich in ihn vertiefte, je mehr ich ihn in meine Seele aufnahm, um so größer wurde meine Angst. Sie wuchs schließlich zu furchtbarer Größe heran und wich auch an den folgenden Tagen nicht von mir. Manchmal, wenn ich an diese beständige Angst dachte, überlief es mich eiskalt infolge einer neuen Angst: aus dieser Angst konnte ich ja schließen, daß meine ›letzte Überzeugung‹ in mir sehr fest Wurzel gefaßt hatte und mich jedenfalls zur Ausführung drängen werde. Aber zur Ausführung fehlte es mir an Entschlossenheit. Nach drei Wochen war dies alles zum Ende gelangt, und die Entschlossenheit hatte sich eingestellt, aber infolge eines sehr merkwürdigen Umstandes.

Ich verzeichne hier in meiner Erklärung all diese Zeitangaben. Mir kann das natürlich gleichgültig sein; aber jetzt (und vielleicht erst in diesem Augenblick) hege ich den Wunsch, es möchten diejenigen, die über meine Handlung ein Urteil fällen werden, klar erkennen, aus welcher Kette logischer Schlüsse meine ›letzte Überzeugung‹ hervorging. Ich habe im obigen soeben die Bemerkung hergeschrieben, daß die endgültige Entschlossenheit, an der es mir zur Ausführung meiner ›letzten Überzeugung‹ gemangelt hatte, bei mir anscheinend gar nicht aus einem logischen Schluß hervorging, sondern aus einem sonderbaren äußeren Anstoß, aus einem sonderbaren, mit dem Gang der Sache selbst vielleicht gar nicht in Zusammenhang stehenden Umstand. Vor zehn Tagen kam Rogoschin zu mir, und zwar in einer ihn betreffenden Angelegenheit, auf die hier näher einzugehen ich für überflüssig halte. Ich hatte Rogoschin früher nie gesehen, aber sehr viel von ihm gehört. Ich gab ihm alle nötigen Auskünfte, und er ging bald wieder weg; und da er nur um dieser Auskünfte willen gekommen war, so hätte unser Verkehr damit beendet sein können. Aber er hatte in hohem Grade mein Interesse erregt, und ich befand mich diesen ganzen Tag über im Bann sonderbarer Gedanken, so daß ich beschloß, am andern Tag zu ihm zu gehen und seinen Besuch zu erwidern. Rogoschin war über mein Kommen offenbar nicht erfreut und deutete sogar ›zart‹ an, wir hätten eigentlich keinen Anlaß, unsere Bekanntschaft fortzusetzen; aber trotzdem verbrachte ich eine sehr interessante Stunde, und wahrscheinlich auch er. Es war zwischen uns ein solcher Gegensatz, daß er uns beiden notwendigerweise auffallen mußte, namentlich mir: ich war ein Mensch, der schon die ihm noch übrigen Lebenstage zählte, er aber überließ sich dem vollen, unmittelbaren Lebensgenuß, dem Genuß des gegenwärtigen Augenblicks ohne alle Sorge um die ›letzten‹ Ergebnisse, um zeitliche Daten oder um irgend etwas, was nicht mit dem Gegenstand seiner ... seiner ... nun meinetwegen seiner Verrücktheit zusammenhing; möge mir Herr Rogoschin diesen Ausdruck verzeihen, meinetwegen als einem schlechten Stilisten, der seine Gedanken nicht recht auszudrücken versteht. Trotz all seiner Unliebenswürdigkeit schien es mir, daß er ein Mensch von gutem Verstand sei und vieles begreifen könne, obgleich er für das, was ihn nicht unmittelbar angeht, wenig Interesse hat. Ich machte ihm keine Andeutungen über meine ›letzte Überzeugung‹; aber ich hatte aus einem nicht recht verständlichen Grund den Eindruck, daß er sie erriet, indem er mir zuhörte. Er schwieg meist; er ist sehr schweigsam. Beim Fortgehen deutete ich ihm an, daß trotz aller zwischen uns bestehenden Verschiedenheit und trotz aller Gegensätzlichkeit doch les extrêmités se touchent (ich erklärte es ihm auf russisch), so daß vielleicht auch er selbst von meiner ›letzten Überzeugung‹ gar nicht so weit entfernt sei, wie es scheine. Hierauf antwortete er mir mit einer sehr mürrischen, sauren Grimasse, stand auf, suchte mir meine Mütze, tat so, als ob ich von selbst hätte weggehen wollen, und führte mich unter dem Anschein, mir höflich das Geleit zu geben, ganz einfach aus seinem finsteren Haus hinaus. Sein Haus überraschte mich; es hat Ähnlichkeit mit einem Kirchhof; ihm aber scheint es zu gefallen, was übrigens begreiflich ist: ein so volles, unmittelbares Leben, wie er es führt, ist an sich schon zu voll, als daß es einer besonderen Umgebung bedürfte.

Dieser Besuch bei Rogoschin hatte mich sehr ermüdet. Außerdem hatte ich mich schon vom Morgen an nicht wohl gefühlt; gegen Abend wurde ich sehr schwach und legte mich zu Bett; zeitweilig verspürte ich eine starke Hitze und redete in manchen Augenblicken sogar irre. Kolja blieb bis nach zehn Uhr bei mir. Ich erinnere mich jedoch an alles, worüber wir miteinander sprachen. Aber wenn mir für einige Minuten die Lider zufielen, stand mir sofort Iwan Fomitsch vor Augen, der in den Besitz mehrerer Millionen Rubel gelangt war. Er wußte gar nicht, wo er damit bleiben sollte, zerbrach sich darüber den Kopf, zitterte vor Angst, das Geld könnte ihm gestohlen werden, und beschloß endlich, es in der Erde zu vergraben. Ich riet ihm nun, statt einen so großen Haufen Gold nutzlos in die Erde zu legen, möchte er aus der ganzen Masse einen kleinen Sarg für das erfrorene Kind gießen lassen und zu diesem Zweck das Kind wieder ausgraben. Diesen meinen Spott nahm Surikow mit Tränen der Dankbarkeit auf und schritt sogleich zur Ausführung des Planes. Angeekelt spuckte ich aus und ging von ihm weg. Als ich wieder ganz zur Besinnung gekommen war, sagte mir Kolja, ich hätte gar nicht geschlafen und die ganze Zeit über mit ihm von Surikow gesprochen. Zeitweilig befand ich mich in außerordentlicher Angst und Verwirrung, so daß Kolja in großer Unruhe fortging. Als ich selbst aufstand, um hinter ihm die Tür zuzuschließen, fiel mir plötzlich ein Gemälde ein, das ich vorher bei Rogoschin in einem der düstersten Säle seines Hauses über der Tür gesehen hatte. Er selbst hatte es mir im Vorbeigehen gezeigt, und ich hatte ungefähr fünf Minuten lang davorgestanden. In künstlerischer Hinsicht war an ihm nichts Hervorragendes; aber es hatte in mir eine eigentümliche Unruhe hervorgerufen.

Auf diesem Bild ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich glaube, die Maler pflegen Christus sowohl am Kreuz als auch nach der Abnahme von demselben immer noch mit außerordentlich schönem Gesicht darzustellen; diese Schönheit suchen sie ihm sogar bei den furchtbarsten Leiden zu bewahren. Auf Rogoschins Bild aber kann von Schönheit nicht die Rede sein; dies ist in jeder Hinsicht der Leichnam eines Menschen, der schon vor der Kreuzigung, während er das Kreuz auf seinen Schultern trug und unter ihm zusammensank, grenzenlose Qualen erlitten hat, Verwundungen, Martern, Schläge von seiten der Wache und des Volkes, und dann schließlich die sechsstündige Kreuzesqual (solange dauerte sie nach meiner Berechnung mindestens). Das ist allerdings wirklich das Gesicht eines soeben vom Kreuz abgenommenen Menschen; das heißt, es bewahrt noch sehr viel Lebenswärme, es ist an ihm noch nichts erstarrt, so daß auf dem Gesicht des Toten noch immer ein Ausdruck des Schmerzes liegt, wie wenn er ihn noch jetzt empfände (dies hat der Künstler sehr gut erfaßt); aber dafür ist das Gesicht auch ohne jede Schonung dargestellt, durchaus naturgetreu; so mußte in Wahrheit der Leichnam eines Menschen, wer dieser auch sein mochte, nach solchen Qualen aussehen. Ich weiß, daß die christliche Kirche schon in den ersten Jahrhunderten als Dogma festgestellt hat, daß Christus nicht figürlich, sondern tatsächlich gelitten habe, und daß folglich sein Körper am Kreuz dem Naturgesetz voll und ganz unterworfen gewesen sei. Auf dem Bild ist dieses Gesicht furchtbar von Stockhieben zerschlagen, verschwollen, von schrecklichen, blutunterlaufenen, blauen Flecken bedeckt; die Augen stehen weit offen; die Pupillen schielen; die großen, offen sichtbaren Augäpfel haben einen toten, gläsernen Glanz. Aber es ist seltsam: betrachtet man diesen Leichnam eines gepeinigten Menschen, so drängt sich einem eine eigenartige, interessante Frage auf: wenn alle seine Jünger, die seine wichtigsten Apostel werden sollten, und die Weiber, die ihm nachgefolgt waren und an seinem Kreuz gestanden hatten, und alle, die an ihn glaubten und ihn für den Sohn Gottes hielten, wenn diese alle einen genau solchen Leichnam sahen (und er mußte unbedingt genau so aussehen): wie konnten sie dann trotzdem glauben, daß dieser Märtyrer auferstehen werde? Hier kommt einem unwillkürlich der Gedanke: wenn der Tod so furchtbar und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie kann man sie überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte, der zu seinen Lebzeiten der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte, derjenige, der da rief: ›Talitha kumi!‹, und das Mägdelein stand auf, oder: ›Lazarus, komm heraus!‹, und der Tote kam heraus? Wenn man dieses Gemälde anschaut, so erscheint die Natur als eine riesige, unerbittliche, stumme Bestie oder, um es richtiger, weit richtiger, wiewohl etwas sonderbar auszudrücken, als eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses herrliche, unschätzbare Wesen ergriff, zermalmte und verschlang, dieses Wesen, das allein so viel wert war wie die ganze Natur und all ihre Gesetze und der ganze Erdball, der vielleicht einzig und allein zu dem Zweck geschaffen wurde, damit dieses Wesen auf ihm erschiene! Gerade diese Vorstellung von einer dunklen, brutalen, sinnlosen Macht, der alles gehorcht, wird durch dieses Bild zum Ausdruck gebracht und teilt sich dem Beschauer unwillkürlich mit. Diese Menschen, die den Toten umgaben, und von denen hier keiner auf dem Gemälde dargestellt ist, mußten an diesem Abend, der mit einem Schlag all ihre Hoffnungen und beinah ihren Glauben vernichtete, die entsetzlichste Angst und Bestürzung empfinden. Sie mußten in der schrecklichsten Furcht auseinandergehen, obgleich ein jeder von ihnen eine gewaltige Idee in sich trug, die ihnen nie wieder entrissen werden konnte. Und wenn der Herr und Meister selbst am Tag vor der Hinrichtung sein eigenes Bild hätte sehen können, hätte er dann wohl so, wie es jetzt wirklich geschehen ist, sich kreuzigen lassen und den Tod erlitten? Auch diese Frage steigt einem bei Betrachtung dieses Gemäldes unwillkürlich auf.

Alles dies schwebte auch mir ganze anderthalb Stunden lang, nachdem Kolja weggegangen war, bruchstückweise vor, vielleicht tatsächlich im Fieberwahn, manchmal aber auch in klarer Gestalt. Kann einem denn das in klarer Gestalt vorschweben, was überhaupt keine Gestalt hat? Aber es schien mir zeitweilig, als sähe ich diese grenzenlose Macht, dieses taube, dunkle, stumme Wesen in einer seltsamen, unglaublichen Form vor mir. Ich erinnere mich, daß es mir vorkam, als leite mich jemand, der eine Kerze hielt, an der Hand und zeige mir eine riesige, widerliche Tarantel und versichere mir, das sei eben jenes dunkle, taube, allmächtige Wesen, und lache über meine Empörung. In meinem Zimmer wird vor dem Heiligenbild immer für die Nacht das Lämpchen angezündet, das zwar nur ein schwaches, trübes Licht gibt, indes kann man doch alles erkennen und dicht bei ihm sogar lesen. Ich glaube, es war schon Mitternacht vorüber; ich war völlig wach und lag mit offenen Augen da; plötzlich wurde die Tür meines Zimmers geöffnet, und Rogoschin trat herein.

Er trat herein, machte die Tür wieder zu, sah mich schweigend an und ging leise in die Ecke zu dem Stuhl, der dicht unter dem Heiligenlämpchen steht. Ich war sehr erstaunt und blickte erwartungsvoll hin; Rogoschin stützte sich mit dem Ellbogen auf ein Tischchen und begann, mich schweigend anzuschauen. So vergingen zwei bis drei Minuten, und ich erinnere mich, daß sein Stillschweigen mich sehr verletzte und ärgerte. Warum wollte er denn nicht reden? Daß er so spät kam, schien mir allerdings sonderbar; aber ich erinnere mich, daß ich gerade darüber eigentlich nicht erstaunt war. Im Gegenteil: ich hatte ihm zwar am Morgen meinen Gedanken nicht deutlich ausgesprochen; aber ich wußte, daß er ihn verstanden hatte; und dieser Gedanke war von der Art, daß Rogoschin aus Anlaß desselben allerdings herkommen konnte, um nochmals darüber zu reden, selbst zu so später Stunde. Ich meinte auch, daß er deswegen gekommen sei. Wir hatten uns am Vormittag in einigermaßen feindseliger Stimmung getrennt, und ich erinnere mich sogar, daß er mich ein paarmal sehr spöttisch angesehen hatte. Und nun las ich in seinem Blick diesen selben Spott, und der war eben das, was mich beleidigte. Daran, daß dies wirklich Rogoschin selbst war und nicht eine Erscheinung, ein Fieberwahn, daran zweifelte ich anfangs nicht im geringsten. Ein solcher Gedanke kam mir überhaupt gar nicht in den Kopf.
Unterdessen saß er noch immer und schaute mich mit demselben Lächeln an. Ich drehte mich zornig im Bett herum, stützte mich ebenfalls mit dem Ellbogen auf das Kopfkissen und beschloß absichtlich, auch meinerseits zu schweigen, und wenn wir noch so lange so dasitzen sollten. Aus irgendeinem Grund wollte ich durchaus, daß er zuerst anfangen sollte zu reden. Ich glaube, so vergingen etwa zwanzig Minuten. Plötzlich kam mir der Gedanke: wie, wenn das nicht Rogoschin ist, sondern eine Erscheinung?

Weder in meiner Krankheit noch sonst je in der vorhergehenden Zeit hatte ich eine Erscheinung gesehen; aber ich hatte immer, schon seit meiner Knabenzeit, gemeint, und das meinte ich auch jetzt, das heißt noch vor kurzem, wenn ich auch nur ein einziges Mal eine Erscheinung sähe, so würde ich auf der Stelle sterben; und zwar meinte ich das, obwohl ich an keine Erscheinungen glaube. Aber als mir der Gedanke kam, daß dies nicht Rogoschin, sondern nur eine Erscheinung sei, so erschrak ich, wie ich mich erinnere, gar nicht darüber. Noch mehr: ich wurde darüber sogar zornig. Sonderbar war auch das, daß die Beantwortung der Frage, ob das eine Erscheinung sei oder Rogoschin selbst, mich eigentlich gar nicht so beschäftigte und beunruhigte, wie das in der Natur der Sache zu liegen schien; ich glaube, daß ich damals an etwas ganz anderes dachte. Es interessierte mich zum Beispiel weit mehr, warum Rogoschin, der vorhin in Schlafrock und Pantoffeln gewesen war, jetzt einen Frack, eine weiße Weste und eine weiße Krawatte trug. Es tauchte in meinem Kopf auch der Gedanke auf: wenn das eine Erscheinung war und ich mich nicht vor ihr fürchtete, warum sollte ich dann nicht aufstehen und zu ihr hingehen und mich selbst vergewissern? Vielleicht wagte ich es übrigens auch nicht und fürchtete mich doch. Aber sowie ich auf den Gedanken gekommen war, daß ich mich fürchtete, war es mir, als ob man mir mit einem Stück Eis über den ganzen Körper führe; ich fühlte eine Kälte im Rücken, und die Knie zitterten mir. Gerade in diesem Augenblick ließ Rogoschin, wie wenn er erraten hätte, daß ich mich fürchtete, den Arm, mit dem er sich aufgestützt hatte, sinken, richtete sich gerade und öffnete den Mund, wie wenn er loslachen wollte; dabei sah er mich starr an. Mich ergriff eine solche Wut, daß ich mich wirklich auf ihn stürzen wollte; aber da ich mir fest vorgenommen hatte, daß ich nicht zuerst anfangen wollte zu reden, so blieb ich im Bett, um so mehr, da ich immer noch nicht im klaren darüber war, ob es Rogoschin selbst sei oder nicht.

Ich erinnere mich nicht genau, wie lange das dauerte; auch habe ich keine sichere Erinnerung daran, ob ich manchmal auf einige Minuten das Bewußtsein verlor oder nicht. Endlich jedoch stand Rogoschin auf, musterte mich ebenso langsam und aufmerksam wie vorher, als er hereinkam, lächelte aber nicht mehr und ging leise, beinah auf den Zehen, zur Tür, öffnete sie und ging hinaus. Ich stand nicht vom Bett auf; ich erinnere mich nicht, wie lange ich noch mit offenen Augen dalag und nachdachte; Gott weiß, worüber ich nachdachte; ebensowenig erinnere ich mich, wie mir das Bewußtsein schwand und ich einschlief. Am andern Morgen erwachte ich, als nach neun Uhr an meine Tür geklopft wurde. Ich hatte ein für allemal die Anordnung getroffen, wenn ich nicht selbst bis neun Uhr die Tür öffnete und nach Tee riefe, so solle Matrona bei mir anklopfen. Als ich ihr die Tür aufmachte, kam mir sofort der Gedanke: wie hat er nur hereinkommen können, da doch die Tür verschlossen war? Ich erkundigte mich und überzeugte mich, daß es für den wirklichen Rogoschin unmöglich gewesen war, hereinzukommen, da all unsere Türen zur Nacht zugeschlossen werden.

Dieses eigenartige Erlebnis, das ich so ausführlich erzählt habe, war nun auch die Ursache, weshalb ich mich endgültig entschloß. Diesen endgültigen Entschluß führte also nicht die Logik, nicht eine logische Überzeugung herbei, sondern der Ekel. Es war mir unmöglich, in einem Leben zu verharren, welches so seltsame, für mich beleidigende Formen annahm. Diese Gespenstererscheinung hatte mich erniedrigt. Ich konnte mich nicht einer dunklen Macht unterordnen, die die Gestalt einer Tarantel annahm. Und erst dann, als ich (die Dämmerung war schon hereingebrochen) zum festen endgültigen Entschluß gelangt war, erst dann wurde mir leichter ums Herz. Dies war nur das erste Moment; um das zweite Moment zu erlangen, fuhr ich nach Pawlowsk; aber das ist bereits hinreichend klargestellt.

VII

Ich besaß eine kleine Taschenpistole, die ich mir noch als Kind angeschafft hatte, in jenem komischen Lebensalter, wo man auf einmal anfängt, an Geschichten von Duellen und räuberischen Überfällen Gefallen zu finden, und wo ich mir ausmalte, wie ich zum Duell herausgefordert werden und mit welchem edlen Anstand ich vor der Pistole des Gegners dastehen würde. Vor einem Monat habe ich sie mir wieder angesehen und in Bereitschaft gesetzt. In dem Kasten, in dem sie lag, fanden sich zwei Kugeln und im Pulverhorn Pulver für drei Schüsse. Die Pistole ist ein elendes Ding; sie schießt seitwärts und trägt nur auf fünfzehn Schritt; aber sie kann doch wohl einen Schädel zerschmettern, wenn man sie dicht an die Schläfe setzt.

Ich beschloß, in Pawlowsk bei Sonnenaufgang zu sterben und dazu in den Park zu gehen, um die Bewohner der Landhäuser nicht zu stören. Meine ›Erklärung‹ wird der Polizei die ganze Sache hinreichend klarlegen. Freunde der Psychologie, und wer sonst Lust hat, mögen aus ihr alle ihnen beliebigen Schlüsse ziehen. Ich würde jedoch nicht wünschen, daß dieses Manuskript der Öffentlichkeit übergeben würde. Ich bitte den Fürsten, ein Exemplar für sich zu behalten und ein zweites Aglaja Iwanowna Jepantschina zu geben. Dies ist mein Wille. Ich vermache mein Skelett der medizinischen Akademie zum Besten der Wissenschaft.

Ich erkenne keine Richter über mir an und weiß, daß ich jetzt außerhalb des Machtbereichs eines jeden Gerichtes stehe. Erst neulich noch belustigte mich folgende Vorstellung: wenn es mir jetzt auf einmal in den Sinn käme, einen beliebigen Menschen zu töten, meinetwegen zehn Menschen zugleich, oder sonst eine Handlung zu begehen, die in dieser Welt für besonders schrecklich gilt, in welche Verlegenheit würde dann das Gericht mir gegenüber kommen in Anbetracht dessen, daß ich nur noch zwei bis drei Monate zu leben habe und die Folter und die körperlichen Mißhandlungen abgeschafft sind? Ich würde behaglich in einem Krankenhaus sterben, in einem warmen Zimmer und unter der Obhut eines aufmerksamen Arztes, und es vielleicht weit behaglicher und wärmer haben als bei mir zu Hause. Ich verstehe nicht, warum Leuten, die sich in gleicher Lage befinden wie ich, nicht derselbe Gedanke in den Kopf kommt, wenn auch nur zum Scherz. Vielleicht kommt er ihnen übrigens auch in den Kopf; heitere Leute gibt es ja auch bei uns viele.

Aber wenn ich auch kein Gericht über mir anerkenne, so weiß ich doch, daß man mich richten wird, wenn ich bereits ein tauber und stummer Angeklagter sein werde. Ich will nicht aus der Welt gehen, ohne ein Wort der Entgegnung zurückzulassen, ein freies Wort, ein Wort, das mir nicht abgenötigt ist; nicht zu meiner Entschuldigung, o nein! ich brauche niemand um Verzeihung zu bitten und für nichts; sondern einfach, weil ich es so wünsche.

Ich setze zunächst einen sonderbaren Gedanken hierher: wer könnte mir jetzt unter Berufung auf irgendein Recht oder irgendein inneres Gefühl das Recht bestreiten wollen, über diese zwei, drei Wochen, die ich noch Frist habe, nach meinem Belieben zu verfügen? Welches Gericht hat sich darum zu kümmern? Wer hat ein Interesse daran, daß ich nicht nur zum Tode veurteilt bin, sondern auch wohlgesittet den Hinrichtungstermin abwarte? Kann das wirklich jemand verlangen? Etwa um der Moral willen? Wenn ich mir in der Blüte der Gesundheit und Kraft das Leben nehmen wollte, das ›meinem Nächsten noch nützlich sein könnte‹ und so weiter, dann würde ich es noch verstehen, daß moralisch denkende Leute auf Grund der alten Anschauung es als tadelnswert ansähen, daß ich über mein Leben, ohne jemand um Erlaubnis zu fragen, Verfügung träfe, oder was sie sonst noch vorbringen möchten. Aber jetzt, jetzt, wo mir der Hinrichtungstermin bereits verkündigt ist? Welche Moral kann denn außer dem Leben des Todeskandidaten auch noch das letzte Röcheln beanspruchen, mit dem er den letzten Lebenshauch von sich gibt, während er die Trostworte des Fürsten anhört, der in seinen christlichen Beweisen sich sicher zu dem glücklichen Gedanken versteigen wird, daß es im Grunde für den Betreffenden sogar das beste ist, wenn er stirbt. (Christen von seinem Schlag versteigen sich immer zu diesem Gedanken; das ist ihr liebstes Steckenpferd.) Und was wollen diese Menschen immer mit ihren lächerlichen ›Bäumen von Pawlowsk‹? Mir die letzten Lebensstunden versüßen? Können sie denn nicht begreifen, daß sie mich um so unglücklicher machen, je mehr ich meine Lage vergesse, je mehr ich mich diesem letzten Trugbild von Leben und Liebe hingebe, mit dem sie mir meine Meyersche Mauer und alles, was ich so offenherzig und schlicht darauf geschrieben habe, verdecken wollen? Was helfen mir eure freie Natur, euer Pawlowsker Park, eure Sonnenauf- und -untergänge, euer blauer Himmel und eure zufriedenen Gesichter, wenn dieser ganze Festschmaus, der kein Ende nimmt, damit angefangen hat, daß ich allein als überflüssiger Gast fortgewiesen werde? Was soll ich inmitten all dieser Schönheit, wenn ich in jeder Minute, in jeder Sekunde denken muß, daß sogar diese winzige Fliege, die jetzt im Sonnenstrahl um mich herumsummt, an diesem ganzen Festschmaus und Festchor teilnimmt, ihren Platz in ihm kennt und liebt und glücklich ist, während ich allein ein Ausgestoßener bin und nur infolge meiner Schwachmütigkeit das bisher nicht habe begreifen wollen? Oh, ich weiß ja, wie gern der Fürst und all diese Leute mich dahin bringen möchten, daß auch ich statt all dieser ›grimmigen, boshaften‹ Reden sittsam zum Triumph der Moral in Millevoyes berühmte klassische Strophe einstimmte:

O, puissent voir votre beauté sacrée
Tant d'amis, sourds à mes adieux!
Qu'ils meurent pleins de jours, que leur mort soit pleurée,
Qu'un ami leur ferme les yeux!

Aber glaubt es nur, glaubt es nur, ihr harmlosen Leute, daß auch in dieser wohlgesitteten Strophe, in diesem akademischen Segen, den der Dichter der Welt in seinen französischen Versen erteilt, so viel heimliche Galle, so viel unversöhnlicher, sich selbst an den Reimen erquickender Groll steckt, daß vielleicht sogar der Dichter selbst sich hat täuschen lassen und diesen Groll für Tränen der Rührung gehalten hat und in diesem Glauben gestorben ist; Friede seiner Asche! Wisset, daß es in dem Bewußtsein der eigenen Richtigkeit und Schwäche eine Grenze der Schande gibt, über die der Mensch nicht mehr hinausgehen kann, und bei der er anfängt, in seiner Schande selbst einen großen Genuß zu empfinden ... Nun, gewiß, die Sanftmut ist eine gewaltige Kraft in diesem Sinne; das gebe ich zu, wiewohl nicht in dem Sinne, in welchem die Religion die Sanftmut für eine Kraft hält.

Die Religion! Daß es ein ewiges Leben gibt, gebe ich zu und habe ich vielleicht immer zugegeben. Nehmen wir an, mein Bewußtsein sei nach dem Willen einer höheren Macht aufgeflammt; nehmen wir an, dieses mit Bewußtsein begabte Wesen habe sich in der Welt umgeschaut und gesagt: ›Ich bin!‹, und nehmen wir an, diese höhere Macht schreibe ihm plötzlich vor, wieder zu verschwinden, weil das zu irgendeinem Zweck, der ihm nicht einmal erklärt wird, notwendig sei – dies alles zugegeben, so erhebt sich doch immer wieder die stete Frage: wozu ist unter solchen Umständen von meiner Seite Sanftmut erforderlich? Kann ich denn nicht einfach aufgefressen werden, ohne daß man von mir ein Loblied auf dasjenige verlangt, was mich auffrißt? Trete ich wirklich jemandem damit zu nahe, daß ich nicht noch zwei Wochen warten will? Ich kann das nicht glauben; weit richtiger dürfte die Annahme sein, daß mein nichtiges Leben, das Leben eines Atoms, einfach erforderlich war, um irgendwelche allgemeine Harmonie im Weltall zu vervollständigen, um irgendein Plus oder Minus herbeizuführen, irgendeinen Kontrast herzustellen und so weiter und so weiter, gerade so wie täglich der Opfertod vieler Millionen von Wesen erfordert wird, ohne den die übrige Welt nicht existieren kann (wiewohl dazu bemerkt werden muß, daß diese Einrichtung an und für sich nicht sehr edelmütig ist). Aber nehmen wir dies an! Ich will zugeben, daß es unmöglich war, die Welt auf andere Weise einzurichten, das heißt ohne ein fortwährendes gegenseitiges Auffressen; ich will sogar zugeben, daß ich von dieser Einrichtung nichts verstehe; aber dafür weiß ich etwas anderes mit Bestimmtheit: wenn mir auch das Bewußtsein meines Ichs verliehen ist, so ist es doch nicht meine Sache, daß die Welt fehlerhaft eingerichtet ist und nicht anders bestehen kann. Wer wird unter solchen Umständen über mich zu Gericht sitzen und weswegen? Man mag sagen, was man will, das alles erscheint unmöglich und ungerecht.

Und doch habe ich niemals, sogar trotz meines lebhaften Wunsches nicht, mir vorstellen können, daß es kein zukünftiges Leben und keine Vorsehung gebe. Am wahrscheinlichsten ist wohl, daß dies alles existiert, daß wir aber vom zukünftigen Leben und seinen Gesetzen nichts begreifen. Aber wenn es so schwer, ja ganz unmöglich ist, dies zu begreifen, kann ich denn dann dafür verantwortlich gemacht werden, daß ich nicht imstande gewesen bin, das Unfaßbare zu ergründen? Allerdings sagen nun die Menschen, und natürlich der Fürst mit ihnen, hier sei eben Gehorsam vonnöten; man müsse gehorchen, ohne zu räsonieren, einzig und allein infolge guter Gesittung, und ich würde mit Sicherheit in jener Welt für meine Sanftmut belohnt werden. Wir erniedrigen die Vorsehung zu sehr, wenn wir aus Ärger darüber, daß wir sie nicht begreifen können, ihr unsere eigenen Anschauungen zuschreiben. Aber ich wiederhole noch einmal: wenn es unmöglich ist, sie zu begreifen, dann kann der Mensch auch schwer für das verantwortlich gemacht werden, was zu begreifen ihm nicht vergönnt ist. Aber wenn dem so ist, wie kann ich dann dafür verurteilt werden, daß ich den wahren Willen und die wahren Gesetze der Vorsehung nicht habe begreifen können? Nein, das beste ist schon, die Religion aus dem Spiel zu lassen.

Nun genug! Wenn ich bis zu diesen Zeilen gelangt sein werde, wird gewiß die Sonne schon aufgehen und ›am Himmel ertönen‹, und eine gewaltige, unberechenbare Kraft wird sich über die ganze von ihr beschienene Erde ergießen. Sei es denn! Ich werde sterben, indem ich auf die Quelle der Kraft und des Lebens gerade hinblicke, und dieses Leben verschmähen! Hätte es in meiner Macht gestanden, nicht geboren zu werden, so würde ich ein an so höhnische Bedingungen geknüpftes Dasein gewiß nicht angenommen haben. Aber es steht noch in meiner Macht zu sterben, obgleich ich nur einen kargen, zählbaren Rest hingebe. Das ist keine große Machtäußerung und auch keine große Auflehnung gegen das Schicksal.

Eine letzte Erklärung: »ich sterbe ganz und gar nicht deswegen, weil ich nicht imstande wäre, diese drei Wochen noch zu ertragen; oh, meine Kraft würde schon dazu ausreichen, und wenn ich wollte, würde ich schon an dem bloßen Bewußtsein des mir angetanen Unrechts einen ausreichenden Trost haben; aber ich bin kein französischer Dichter und mag solchen Trost nicht. Endlich noch etwas, was mich vielleicht lockt: die Natur hat dadurch, daß sie mir bis zu meiner Hinrichtung nur drei Wochen Frist gegeben hat, meine Tätigkeit dermaßen eingeschränkt, daß vielleicht der Selbstmord die einzige Handlung ist, die nach eigenem Willen anzufangen und zu beenden ich noch Zeit habe. Nun, vielleicht will ich die letzte Möglichkeit, etwas zu tun, benutzen? Auch ein Protest ist manchmal keine kleine Tat ...«

Die »Erklärung« war zu Ende. Ippolit hielt endlich inne ...

Es gibt in extremen Fällen einen höchsten Grad zynischer Offenherzigkeit, bei welchem ein nervöser Mensch, der auf das äußerste gereizt und ganz außer sich geraten ist, nichts mehr fürchtet und zu jedem Skandal bereit ist, ja sogar mit Freuden einen solchen hervorruft; er fällt über andere Menschen her, indem er dabei die unklare, aber feste Absicht hat, sich im nächsten Augenblick unbedingt von einem Kirchturm herabzustürzen und dadurch mit einem Schlag alle etwa entstandenen Mißverständnisse zu beseitigen. Ein Merkmal dieses Zustandes ist gewöhnlich auch die herannahende Erschöpfung der physischen Kräfte. Die außerordentliche, fast unnatürliche Anspannung, infolge deren Ippolit sich bis dahin aufrechterhalten hatte, war nun bis auf diesen höchsten Grad gelangt. An sich erschien dieser achtzehnjährige, von der Krankheit erschöpfte junge Mensch schwach wie ein vom Baum abgerissenes, zitterndes Blättchen; aber sobald er Zeit fand, einen Blick über seine Zuhörer gleiten zu lassen (was er jetzt zum erstenmal seit einer ganzen Stunde tat), prägte sich sofort der hochmütigste, verächtlichste, beleidigendste Widerwille in seinem Blick und in seinem Lächeln aus. Er beeilte sich mit dieser Herausforderung. Aber auch die Zuhörer befanden sich in voller Entrüstung. Alle erhoben sich geräuschvoll und ärgerlich vom Tisch. Die Müdigkeit, der Wein, die Anspannung steigerten noch den Wirrwarr und, wenn man sich so ausdrücken kann, die Unreinlichkeit der Empfindungen.

Plötzlich sprang Ippolit schnell vom Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte.

»Die Sonne ist aufgegangen!« rief er, indem er nach den leuchtenden Baumwipfeln hinblickte und, zum Fürsten gewendet, mit der Hand auf sie wie auf ein Wunder hinwies. »Sie ist aufgegangen!«

»Haben Sie denn gedacht, sie würde nicht aufgehen?« bemerkte Ferdyschtschenko.

»Das verspricht wieder Hitze für den ganzen Tag«, murmelte Ganja lässig und ärgerlich; er hielt den Hut in der Hand, reckte sich und gähnte. »Die Trockenheit scheint den ganzen Monat anzuhalten ...! Wollen wir gehen, Ptizyn?«

Ippolit wurde, als er ihn so reden hörte, fast starr vor Staunen; auf einmal erbleichte er furchtbar und begann am ganzen Leib zu zittern.

»Sie bringen die Gleichgültigkeit, mit der Sie mich kränken wollen, in recht ungeschickter Weise zum Ausdruck«, wandte er sich an Ganja und sah ihn dabei starr an. »Sie sind ein Nichtswürdiger!«

»Na, weiß der Teufel, was das vorstellen soll, sich so aufzuknöpfen!« schrie Ferdyschtschenko. »Was ist das für eine unerhörte Schwachmütigkeit!«

»Er ist einfach ein Narr«, sagte Ganja.

Ippolit hatte wieder ein wenig Kraft gesammelt.

»Ich verstehe das, meine Herren«, begann er, immer noch wie vorher zitternd und bei jedem Wort stockend, »daß ich Ihre persönliche Rache verdient habe, und ... ich bedaure, Sie mit diesen Fieberphantasien« (er wies auf das Manuskript) »halbtot gequält zu haben. Übrigens bedaure ich, daß es mir nicht gelungen ist, Sie ganz totzuquälen ...« (Er lächelte einfältig.) »Habe ich Sie totgequält, Jewgeni Pawlowitsch?« fragte er diesen, sich plötzlich zu ihm herumwendend. »Habe ich Sie totgequält oder nicht? Antworten Sie!«

»Es war etwas zu weit ausgesponnen; aber im übrigen ...«

»Sagen Sie alles! Lügen Sie wenigstens ein einziges Mal in Ihrem Leben nicht!« rief Ippolit zitternd in befehlendem Ton.

»Oh, mir ist die Sache ganz gleichgültig! Bitte, tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich in Ruhe!« erwiderte Jewgeni Pawlowitsch und wandte sich geringschätzig ab.

»Gute Nacht, Fürst!« sagte Ptizyn, zu diesem herantretend.

»Aber er wird sich gleich erschießen! Was machen Sie denn! Sehen Sie ihn doch nur an!« rief Wjera, stürzte in größter Angst zu Ippolit hin und faßte ihn sogar an den Armen. »Er hat ja gesagt, bei Sonnenaufgang wolle er sich erschießen! Was machen Sie denn!«

»Er wird sich nicht erschießen!« murmelten einige spöttisch, darunter auch Ganja.

»Meine Herren, nehmen Sie sich in acht!« rief Kolja und faßte Ippolit ebenfalls beim Arm. »Sehen Sie ihn nur an! Fürst! Fürst, warum tun Sie denn nichts?«

Um Ippolit drängten sich Wjera, Kolja, Keller und Burdowski; alle vier hatten ihn an den Armen gepackt.

»Er hat ein Recht ... ein Recht ...«, murmelte Burdowski, der übrigens ebenfalls ganz fassungslos war.

»Erlauben Sie, Fürst, was wollen Sie nun anordnen?« fragte Lebedjew hinzutretend; er war betrunken und bis zur Frechheit erbost.

»Was ich anordnen will?«

»Nein, erlauben Sie; ich bin der Hausherr, obgleich ich es an Achtung Ihnen gegenüber nicht fehlen lassen will ... Allerdings sind auch Sie hier Hausherr; aber ich will nicht, daß so etwas in meinem eigenen Haus ... Jawohl.«

»Er wird sich nicht erschießen; der Junge treibt nur Possen!« rief ganz unerwartet General Iwolgin entrüstet und mit großartiger Würde.

»Der General hat's getroffen!« stimmte Ferdyschtschenko bei.

»Das weiß ich, daß er sich nicht erschießen wird, General, hochverehrter General; aber doch ... denn ich bin der Hausherr.«

»Hören Sie mal, Herr Terentjew«, sagte auf einmal Ptizyn, nachdem er sich von dem Fürsten verabschiedet hatte, und streckte Ippolit seine Hand hin; »Sie reden ja wohl in Ihrem Heft von Ihrem Skelett und vermachen es der Akademie? Meinen Sie damit Ihr eigenes Skelett? Vermachen Sie also der Akademie Ihre eigenen Knochen?«

»Ja, meine Knochen ...«

»Soso. Sonst wäre nämlich ein Mißverständnis möglich. Man sagt, ein solcher Fall sei bereits vorgekommen.«

»Warum hänseln Sie ihn?« rief der Fürst.

»Die Tränen kommen ihm schon«, fügte Ferdyschtschenko hinzu.

Aber Ippolit weinte ganz und gar nicht. Er wollte sich von seinem Platz rühren; aber die vier Personen, die ihn umringten, griffen gleichzeitig nach seinen Armen. Man hörte Lachen.

»Das hat er ja gerade gewollt, daß man ihn bei den Armen halten sollte; dazu hat er ja sein Heft vorgelesen«, bemerkte Rogoschin. »Lebe wohl, Fürst! Ach, ich habe zu lange gesessen; die Knochen tun mir weh.«

»Wenn Sie sich wirklich haben erschießen wollen, Terentjew«, sagte Jewgeni Pawlowitsch lachend, »so würde ich an Ihrer Stelle nach all den Komplimenten, die man Ihnen gemacht hat, mich nun gerade nicht erschießen, um die Leute zu foppen.«

»Diese Menschen möchten alle furchtbar gern sehen, wie ich mich erschieße!« warf ihm Ippolit entgegen.

Er sprach, als wollte er auf alle losfahren.

»Und sie ärgern sich darüber, daß sie es nicht zu sehen bekommen.«

»Also glauben auch Sie nicht, daß ich es tun werde?«

»Ich will Sie nicht anstacheln; ich halte es im Gegenteil für gut möglich, daß Sie sich erschießen werden. Vor allen Dingen werden Sie nicht böse ...!« sagte Jewgeni Pawlowitsch langsam, indem er die Worte in gönnerhafter Weise dehnte.

»Ich sehe erst jetzt, was für einen ungeheuren Fehler ich damit begangen habe, daß ich Ihnen dieses Heft vorgelesen habe!« erwiderte Ippolit und blickte Jewgeni Pawlowitsch auf einmal mit so vertrauensvoller Miene an, als ob er einen Freund um einen freundschaftlichen Rat bäte.

»Es ist eine komische Situation für Sie; aber ... ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen raten soll«, antwortete Jewgeni Pawlowitsch lächelnd.

Ippolit sah ihn mit unverwandten Augen ernst und starr an und schwieg. Man konnte denken, daß er für eine Weile völlig geistesabwesend war.

»Nein, erlauben Sie, was ist denn das für eine Art!« ereiferte sich Lebedjew. »›Ich will mich im Park erschießen‹ sagt er, ›um niemanden zu stören!‹ Er denkt wohl, daß er niemand stört, wenn er die Stufen hinuntersteigt und drei Schritte weit in den Garten geht.«

»Meine Herren ...«, begann der Fürst.

»Nein, erlauben Sie, hochverehrter Fürst«, unterbrach ihn Lebedjew wütend, »da Sie selbst sehen, daß das kein Scherz ist, und da mindestens die Hälfte Ihrer Gäste der gleichen Meinung und der bestimmten Überzeugung ist, daß er jetzt, nach allem hier Gesprochenen, um der Ehre willen sich unter allen Umständen erschießen muß, so erkläre ich als der Hausherr in Gegenwart dieser Zeugen, daß ich Sie auffordere, mir behilflich zu sein!«

»Was sollen wir denn tun, Lebedjew? Ich bin gern bereit, Ihnen zu helfen.«

»Was geschehen muß, ist dies: erstens soll er sofort die Pistole ausliefern, mit der er uns etwas vorgeprahlt hat, sowie das sämtliche Zubehör. Wenn er das tut, so will ich in Anbetracht seines krankhaften Zustandes damit einverstanden sein, daß er diese Nacht im Haus bleibt, natürlich unter der Bedingung, daß er von mir beaufsichtigt wird. Morgen aber muß er unter allen Umständen fort; da mag er gehen, wohin es ihm beliebt; nehmen Sie es nicht übel, Fürst! Wenn er aber seine Waffe nicht ausliefert, so werde ich ihn unverzüglich an den Armen packen, ich am einen, der General am andern, und ich werde sofort zur Polizei schicken und sie benachrichtigen; die wird dann schon das Weitere veranlassen. Herr Ferdyschtschenko wird, als ein guter Bekannter von mir, so freundlich sein hinzugehen.«

Ein großer Lärm erhob sich. Lebedjew war in eine Hitze geraten, die bereits über alles Maß ging; Ferdyschtschenko machte sich fertig, um zur Polizei zu gehen; Ganja verblieb ärgerlich bei seiner Behauptung, es werde sich niemand erschießen. Jewgeni Pawlowitsch schwieg.

»Fürst, sind Sie einmal von einem Kirchturm hinabgestürzt?« flüsterte Ippolit ihm plötzlich zu.

»N-nein ...«, antwortete der Fürst naiv.

»Haben Sie etwa geglaubt, ich hätte diesen ganzen Haß nicht vorhergesehen?« flüsterte Ippolit wieder und sah den Fürsten mit funkelnden Augen an, als erwarte er tatsächlich von ihm eine Antwort. »Nun genug!« rief er, indem er sich an alle Anwesenden wandte. »Ich bin daran schuld ... in höherem Grade als Sie alle! Lebedjew, da ist der Schlüssel« (er zog sein Portemonnaie heraus und entnahm ihm einen Stahlring mit drei oder vier kleinen Schlüsseln); »dieser ist es, der vorletzte ... Kolja wird es Ihnen zeigen ... Kolja! Wo ist Kolja?« rief er; er starrte Kolja an, ohne ihn zu sehen. »Ja ... er wird es Ihnen zeigen; er hat vorhin mit mir zusammen meinen Koffer gepackt. Führen Sie ihn hin, Kolja; mein Koffer steht ... im Zimmer des Fürsten unter dem Tisch ... mit diesem Schlüssel ... Unten im Koffer ... liegt meine Pistole und das Pulverhorn. Er selbst hat diese Sachen vorhin eingepackt, Herr Lebedjew; er wird sie Ihnen zeigen; aber unter der Bedingung, daß Sie mir morgen früh, wenn ich nach Petersburg fahre, die Pistole zurückgeben. Hören Sie wohl? Ich tue das mit Rücksicht auf den Fürsten, nicht um Ihretwillen.«

»So ist es recht!« rief Lebedjew, griff nach dem Schlüssel und lief, spöttisch lächelnd, nach dem anstoßenden Zimmer.

Kolja blieb stehen; er schien etwas sagen zu wollen, aber Lebedjew zog ihn hinter sich her.

Ippolit blickte die lachenden Gäste an. Der Fürst bemerkte, daß seine Zähne wie im stärksten Fieberschauer aufeinanderklapperten.

»Was sind das hier alles für nichtswürdige Menschen!« flüsterte Ippolit, ganz außer sich, dem Fürsten wieder zu. Wenn er mit dem Fürsten sprach, bog er sich immer zu ihm hin und flüsterte.

»Lassen Sie sie doch; Sie sind sehr schwach ...«

»Gleich, gleich ... gleich werde ich fortgehen.«

Plötzlich umarmte er den Fürsten.

»Sie finden vielleicht, daß ich verrückt bin?« fragte er, indem er ihn, seltsam auflachend, ansah.

»Nein, aber Sie ...«

»Gleich, gleich, seien Sie still; reden Sie nicht; bleiben Sie stehen ... ich will Ihnen in die Augen sehen ... Bleiben Sie so stehen; ich will Sie ansehen. Ich will von einem Menschen Abschied nehmen.«

Er stand und blickte, ohne sich zu rühren, den Fürsten schweigend etwa zehn Sekunden lang an. Er war sehr blaß, seine Schläfen waren feucht von Schweiß. Er hielt den Fürsten in sonderbarer Weise an der Schulter gefaßt, als fürchtete er sich, ihn loszulassen.

»Ippolit, Ippolit, was ist Ihnen?« rief der Fürst.

»Sogleich ... es ist genug ... ich werde mich hinlegen. Ich will einen Schluck auf die Gesundheit der Sonne trinken ... Ich will es, ich will es, lassen Sie mich!«

Er ergriff schnell ein Glas vom Tisch, stürzte davon und stand im nächsten Augenblick am Ausgang der Veranda. Der Fürst wollte ihm nachlaufen; aber es traf sich, daß gerade in diesem Moment Jewgeni Pawlowitsch ihm die Hand hinstreckte, um ihm Lebewohl zu sagen. Es verging eine Sekunde, und plötzlich erscholl ein allgemeiner Aufschrei in der Veranda. Dann folgte ein Augenblick ärgster Verwirrung.

Was sich ereignet hatte, war folgendes:

Als Ippolit ganz nahe an den Ausgang der Veranda gelangt war, blieb er stehen; in der linken Hand hielt er das Glas, die rechte hatte er in die rechte Seitentasche seines Paletots gesteckt. Keller versicherte nachher, Ippolit habe schon vorher diese Hand immer in der rechten Tasche gehabt, schon als er mit dem Fürsten gesprochen und ihn mit der linken Hand an die Schulter und an den Kragen gefaßt habe, und diese rechte Hand in der Tasche habe schon damals seinen, Kellers, ersten Verdacht erregt. Wie dem nun auch sein mochte, jedenfalls veranlaßte ihn eine gewisse Unruhe, Ippolit ebenfalls nachzulaufen. Aber auch er kam zu spät. Er sah nur, wie auf einmal in Ippolits rechter Hand etwas schimmerte, und wie in derselben Sekunde die kleine Taschenpistole sich dicht an seiner Schläfe befand. Keller stürzte hinzu, um ihn am Arm zu packen; aber im selben Augenblick drückte Ippolit ab. Es ertönte das scharfe, trockene Knacken des Hahnes; aber ein Schuß erfolgte nicht. Als Keller Ippolit umfaßte, sank ihm dieser wie bewußtlos in die Arme, vielleicht wirklich in der Vorstellung, daß er schon tot sei. Die Pistole befand sich in Kellers Händen. Man ergriff Ippolit, stellte ihm einen Stuhl hin, setzte ihn darauf, und alle umdrängten ihn, alle schrien, alle fragten. Alle hatten das Knacken des Hahnes gehört und erblickten nun einen Menschen, der lebte und nicht die geringste Verletzung aufwies. Ippolit selbst saß da, ohne zu begreifen, was vorging, und ließ wie geistesabwesend seinen Blick über alle Umstehenden hingleiten. Lebedjew und Kolja kamen in diesem Augenblick wieder hereingelaufen.

»Hat die Pistole versagt?« fragten mehrere.

»Vielleicht war sie gar nicht geladen?« vermuteten andere.

»Geladen ist sie!« rief Keller, der die Pistole untersuchte.

»Aber ...«

»Also hat sie versagt?«

»Es war gar kein Zündhütchen darauf«, meldete Keller. Es ist schwer, die nun folgende klägliche Szene zu schildern. Der ursprüngliche allgemeine Schreck wurde schnell von heiterem Gelächter abgelöst.

Manche wollten sich sogar vor Lachen ausschütten und fanden darin ein schadenfrohes Vergnügen. Ippolit schluchzte krampfhaft, rang die Hände, stürzte zu allen hin, sogar zu Ferdyschtschenko, faßte ihn mit beiden Händen an und schwur ihm, er habe vergessen, »ganz zufällig, nicht absichtlich vergessen«, ein Zündhütchen aufzusetzen; die Zündhütchen befänden sich alle, zehn Stück an der Zahl, in seiner Westentasche (er zeigte sie allen ringsherum); er habe vorher keines aufgesetzt aus Besorgnis, der Schuß könne durch Zufall in der Tasche losgehen; er habe damit gerechnet, daß er dazu auch später noch Zeit haben werde, sobald es nötig sei, und habe es nun auf einmal vergessen. Er stürzte zum Fürsten und zu Jewgeni Pawlowitsch hin und flehte Keller an, ihm die Pistole zurückzugeben; er werde allen sofort beweisen, daß er »Ehre im Leibe habe ...«, er sei jetzt »lebenslänglich entehrt«!

Schließlich fiel er bewußtlos hin. Man trug ihn in das Zimmer des Fürsten, und Lebedjew, der nun wieder ganz nüchtern geworden war, schickte ohne Verzug zu einem Arzt; er selbst aber sowie seine Tochter, sein Sohn, Burdowski und der General blieben am Bett des Kranken. Als der bewußtlose Ippolit hinausgetragen war, stellte sich Keller mitten in der Veranda hin und verkündete, so daß alle es hörten, in wirklicher Begeisterung, indem er jedes Wort einzeln und deutlich aussprach:

»Meine Herren, wenn jemand von Ihnen noch einmal laut in meiner Gegenwart einen Zweifel daran äußern sollte, daß das Zündhütchen nur zufällig vergessen war, und behaupten sollte, der unglückliche junge Mensch habe nur Komödie gespielt, so wird der Betreffende es mit mir zu tun haben.«

Aber es antwortete ihm niemand. Die Gäste entfernten sich endlich in einzelnen Trupps. Ptizyn, Ganja und Rogoschin gingen zusammen.

Der Fürst war sehr erstaunt darüber, daß Jewgeni Pawlowitsch seine Absicht geändert hatte und, ohne sich mit ihm ausgesprochen zu haben, fortgehen wollte.

»Sie wollten doch mit mir sprechen, sobald alle fortgegangen wären?« fragte er ihn.

»Ganz richtig«, erwiderte Jewgeni Pawlowitsch, setzte sich auf einen Stuhl und veranlaßte den Fürsten, sich neben ihn zu setzen; »aber ich habe meine Absicht jetzt vorläufig geändert. Ich muß Ihnen bekennen, daß ich etwas verwirrt bin, und Ihnen wird es wohl ebenso gehen. Meine Gedanken sind mir ganz in Unordnung gekommen; zudem ist der Gegenstand, über den ich mit Ihnen sprechen wollte, für mich sehr wichtig, und auch für Sie. Sehen Sie, Fürst, ich möchte wenigstens einmal in meinem Leben ganz ehrlich handeln, das heißt ganz ohne Hintergedanken; nun, ich glaube aber, daß ich jetzt, in diesem Augenblick, einer ganz ehrlichen Handlung nicht fähig bin, und Sie vielleicht auch nicht ... ja ... und ... nun, wir wollen uns also später miteinander aussprechen. Vielleicht gewinnt auch die Sache sowohl für mich als auch für Sie an Klarheit, wenn wir noch die drei Tage warten, während deren ich jetzt in Petersburg sein werde.«

Darauf stand er wieder vom Stuhl auf, so daß es nicht recht verständlich war, warum er sich überhaupt hingesetzt hatte. Der Fürst hatte auch den Eindruck, als ob Jewgeni Pawlowitsch unzufrieden und gereizt sei und ihn feindselig ansehe, und daß in seinem Blick etwas ganz anderes liege als vorher.

»Apropos, Sie gehen jetzt zu dem Kranken?«

»Ja ... ich bin um ihn besorgt«, erwiderte der Fürst.

»Seien Sie unbesorgt; er wird gewiß noch sechs Wochen leben und sich vielleicht hier noch ganz erholen. Aber das beste wäre, wenn Sie ihn morgen wegjagten.«

»Ich habe ihn vielleicht wirklich dadurch verletzt, daß ich nichts gesagt habe; er hat schließlich gedacht, ich zweifelte daran, daß er sich erschießen werde. Wie denken Sie darüber, Jewgeni Pawlowitsch?«

»Nein, nein. Sie sind zu gutherzig, daß Sie sich um ihn noch Sorge machen. Ich habe wohl sagen hören, aber nie in natura gesehen, daß sich jemand absichtlich deswegen erschießt, um gelobt zu werden, oder aus Ärger darüber, daß man ihn deswegen nicht lobt. Vor allen Dingen hätte ich eine solche offene Kundgebung der eigenen Schwachmütigkeit nicht für möglich gehalten! Aber ich möchte Ihnen doch raten, ihn morgen wegzujagen.«

»Sie glauben, daß er noch einmal auf sich schießen wird?«

»Nein, jetzt wird er sich nicht mehr erschießen. Aber nehmen Sie sich vor diesen einheimischen Lacenaires in acht! Ich wiederhole Ihnen: diese talentlose, ungeduldige, begehrliche Nichtigkeit nimmt sehr gewöhnlich ihre Zuflucht zum Verbrechen.«

»Ist er etwa ein Lacenaire?«

»Dem eigentlichen Wesen nach ja, wiewohl die theatralischen Rollen vielleicht verschieden sind. Achten Sie einmal darauf, ob dieser Herr nicht imstande ist, ein Dutzend Menschen abzuschlachten, bloß um einen auffallenden Streich zu begehen, genau so, wie er uns das selbst vorhin in seiner Erklärung vorgelesen hat. Jetzt werden mich diese Worte am Einschlafen hindern.«

»Sie beunruhigen sich vielleicht zu sehr.«

»Ich muß mich über Sie wundern, Fürst; glauben Sie nicht, daß er imstande ist, jetzt ein Dutzend Menschen zu töten?«

»Ich scheue mich, Ihnen darauf zu antworten; all dies ist so seltsam, aber ...«

»Nun, wie Sie wollen, wie Sie wollen!« schloß Jewgeni Pawlowitsch gereizt. »Überdies sind Sie ja ein so tapferer Mann; nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie nicht selbst einer von diesem Dutzend werden.«

»Das Wahrscheinlichste ist, daß er niemand töten wird«, sagte der Fürst, indem er Jewgeni Pawlowitsch nachdenklich anblickte.

Dieser lachte ärgerlich.

»Auf Wiedersehen! Es wird Zeit, daß ich gehe! Haben Sie wohl beachtet, daß er eine Abschrift seiner Beichte Aglaja Iwanowna vermacht hat?«

»Ja, es ist mir aufgefallen, und ... ich denke darüber nach.«

»Denken Sie darüber nach, wenn es zu dem Dutzend Morde kommen sollte«, antwortete Jewgeni Pawlowitsch, von neuem lachend, und ging weg.

Eine Stunde darauf (es war schon drei Uhr vorüber) ging der Fürst in den Park hinunter. Er hatte in seiner Wohnung zu schlafen versucht, es aber vor starkem Herzklopfen nicht vermocht. Im Haus war übrigens alles angemessen eingerichtet worden, und man hatte sich wieder einigermaßen beruhigt; der Kranke war eingeschlafen, und der Arzt, der gekommen war, hatte erklärt, es bestehe keinerlei besondere Gefahr. Lebedjew, Kolja und Burdowski hatten sich im Zimmer des Kranken hingelegt, um einander in der Nachtwache abzulösen; es war also kein Grund, sich Sorgen zu machen.

Aber die Unruhe des Fürsten wuchs von Minute zu Minute. Er schweifte, zerstreut um sich blickend, im Park umher und blieb erstaunt stehen, als er zu dem freien Platz vor dem Bahnhof gelangte und die Reihen leerer Bänke und die Pulte für die Musiker erblickte. Dieser Ort machte einen überraschenden Eindruck auf ihn und kam ihm aus unklarem Grund furchtbar häßlich vor. Er kehrte wieder um und gelangte auf eben dem Weg, auf dem er tags zuvor mit Jepantschins zum Bahnhof gegangen war, zu der grünen Bank, die ihm für das Rendezvous bezeichnet war, setzte sich darauf und lachte plötzlich laut auf, worüber er sofort in starke Entrüstung geriet. Seine traurige Stimmung hielt immer noch an; er wäre am liebsten irgendwohin davongegangen, er wußte nur nicht, wohin. Über ihn auf einem Baum sang ein Vögelchen, und er begann es mit den Augen im Laubwerk zu suchen; plötzlich flatterte das Vögelchen von dem Baum fort, und in demselben Augenblick mußte er unwillkürlich an jene Fliege im warmen Sonnenstrahl denken, von welcher Ippolit in seiner Erklärung gesagt hatte, sie kenne ihren Platz in dem allgemeinen Festchor und nehme an diesem teil, während er allein ein Ausgestoßener sei. Dieser Gedanke hatte schon vorhin auf ihn einen starken Eindruck gemacht, und er erinnerte sich jetzt daran. Längst Vergessenes wurde jetzt in ihm rege und trat ihm plötzlich klar vor die Seele.

Das war in der Schweiz gewesen, im ersten Jahr seiner Kur, sogar in den ersten Monaten. Er war damals noch ganz wie ein Idiot, konnte nicht einmal ordentlich sprechen und war manchmal nicht imstande, zu verstehen, was man von ihm verlangte. Er war einmal an einem klaren, sonnigen Tag in die Berge gegangen und wanderte dort, mit einem qualvollen Gedanken beschäftigt, der aber durchaus keine deutliche Gestalt annehmen wollte, lange umher. Über ihm war der leuchtende Himmel, unten der See, ringsum der helle Horizont in weiter, weiter Entfernung. Er schaute dies alles lange an und wurde dabei von einem schmerzlichen Gefühl gepeinigt. Er erinnerte sich jetzt, daß er damals seine Hände nach dieser hellen, endlosen Bläue ausstreckte und weinte. Es war ihm eine Qual, daß er alldem ganz fremd gegenüberstand. Was war denn dies für ein Festschmaus, was war denn dies für ein steter, endloser, großer Feiertag, zu dem es ihn schon lange, schon immer, schon seit seiner Kindheit hinzog, und zu dem er doch nie gelangen konnte? Jeden Morgen ging dieselbe helle Sonne auf; jeden Morgen stand über dem Wasserfall ein Regenbogen; jeden Abend flammte der höchste, schneebedeckte Berg dort in der Ferne am Rande des Himmels in purpurner Glut auf; jede kleine Fliege, die im warmen Sonnenstrahl um ihn herumsummte, nahm an diesem ganzen Festchor teil, kannte ihren Platz, liebte ihn und war glücklich; jedes Gräschen wuchs und war glücklich! Und alles hatte seinen gewiesenen Weg, und alles kannte seinen Weg und kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts, weder die Menschen noch die Töne; er stand allem fremd gegenüber; er war ein Ausgestoßener. Er konnte seinen Gedanken damals natürlich nicht mit diesen Worten aussprechen und ausdrücken; er quälte sich taub und stumm; aber jetzt schien es ihm, als habe er all dies schon damals gesagt, all diese selben Worte, und als habe Ippolit das über die Fliege Gesagte von ihm selbst, aus seinen damaligen Worten und Tränen, herübergenommen. Er war davon überzeugt, und das Herz begann ihm bei diesem Gedanken heftig zu klopfen ...

Er schlief auf der Bank ein; aber seine Unruhe setzte sich auch im Schlaf fort. Unmittelbar vor dem Einschlafen erinnerte er sich an die Befürchtung, daß Ippolit ein Dutzend Menschen ermorden werde, und mußte über das Absurde dieser Vorstellung lächeln. Um ihn herum herrschte eine schöne, reine Stille; nur die Blätter rauschten leise, und davon schien es ringsumher noch stiller und einsamer zu werden. Er träumte sehr viel, und es waren lauter unruhige Träume, infolge deren er alle Augenblicke zusammenschrak. Schließlich träumte er, es käme eine Frau zu ihm; er kannte sie, kannte sie mit Schmerzen; er konnte einem jeden ihren Namen nennen, sie einem jeden zeigen; aber seltsam: sie hatte jetzt ein ganz anderes Gesicht als dasjenige, das er immer gekannt hatte, und er gab sich mit innerer Qual alle mögliche Mühe, sie nicht als jene Frau wiederzuerkennen. In diesem Gesicht lag so viel Reue und Angst, daß es schien, sie sei eine furchtbare Verbrecherin und habe soeben eine schreckliche Tat begangen. Eine Träne zitterte auf ihrer blassen Wange; sie winkte ihm mit der Hand und legte den Finger an die Lippen, wie wenn sie ihn auffordern wollte, ihr leise zu folgen. Das Herz stand ihm still; um keinen Preis, um keinen Preis wollte er sie für eine Verbrecherin halten; aber er fühlte, daß sogleich etwas Schreckliches vorgehen werde, durch das sein ganzes Leben werde beeinflußt werden. Sie schien ihm etwas zeigen zu wollen, ganz in der Nähe, im Park. Er erhob sich, um ihr nachzugehen, und auf einmal hörte er, wie neben ihm jemand frisch und fröhlich lachte; eine Hand befand sich in der seinigen; er erfaßte diese Hand, drückte sie kräftig und erwachte. Vor ihm stand laut lachend Aglaja.

VIII

Sie lachte; aber sie war zugleich unwillig.

»Er schläft! Sie haben geschlafen!« rief sie verwundert und geringschätzig.

»Sie sind es!« murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte.

»Ach ja! Das Rendezvous ...! Ich habe hier geschlafen.«

»Das habe ich gesehen.«

»Hat mich außer Ihnen niemand geweckt? War außer Ihnen niemand hier? Ich glaubte, es sei ... eine andere Frau hier gewesen.«

»Eine andere Frau sollte hier gewesen sein?«

Endlich hatte er seine Gedanken wieder vollständig gesammelt.

»Es war nur ein Traum«, sagte er nachdenklich. »Sonderbar, daß mir in einem solchen Augenblick so etwas träumte ... Setzen Sie sich!«

Er faßte sie bei der Hand und veranlaßte sie, sich auf die Bank zu setzen; er selbst setzte sich neben sie und überließ sich seinen Gedanken. Aglaja begann das Gespräch nicht, sondern blickte den neben ihr Sitzenden nur unverwandt an. Er schaute sie ebenfalls an, aber manchmal so, als ob er sie überhaupt nicht vor sich sähe. Sie errötete.

»Ach ja!« sagte der Fürst zusammenfahrend. »Ippolit hat sich erschossen!«

»Wann? In Ihrer Wohnung?« fragte sie, aber ohne großes Erstaunen. »Gestern abend lebte er ja doch wohl noch? Wie konnten Sie denn nach einem solchen Vorfall hier schlafen?« rief sie, plötzlich lebhaft werdend.

»Aber er ist ja nicht tot; die Pistole versagte.«

Auf Aglajas dringendes Verlangen mußte der Fürst sogleich und in aller Ausführlichkeit alle Ereignisse der vergangenen Nacht erzählen. Sie trieb ihn während der Erzählung alle Augenblicke zur Eile, unterbrach ihn aber selbst fortwährend mit Fragen, und zwar betrafen diese fast immer nebensächliche Dinge. Unter anderm hörte sie mit großem Interesse an, was Jewgeni Pawlowitsch gesagt hatte, und stellte einige Male sogar Fragen darüber.

»Nun aber genug! Wir müssen uns beeilen«, schloß sie, nachdem sie alles gehört hatte. »Wir können hier nur eine Stunde bleiben, bis acht Uhr, weil ich um acht Uhr unter allen Umständen zu Hause sein muß, damit die andern nicht erfahren, daß ich hier gesessen habe. Ich bin aber in einer ernsten Angelegenheit hergekommen und habe Ihnen vieles mitzuteilen. Nur haben Sie mich jetzt ganz aus dem Konzept gebracht. Was Ippolit betrifft, so meine ich, es war das Richtige, daß seine Pistole versagte; das paßt zu seiner Persönlichkeit am besten. Aber sind Sie überzeugt, daß er sich tatsächlich erschießen wollte und es nicht bloß Humbug war?«

»Es war bestimmt kein Humbug.«

»Das ist das Wahrscheinlichste. Er hat also auch geschrieben, Sie sollten mir seine Beichte bringen? Warum haben Sie sie mir nicht gebracht?«

»Aber er ist ja nicht gestorben. Ich werde ihn fragen, ob ich es unter diesen Umständen tun soll.«

»Bringen Sie sie mir auf jeden Fall; Sie brauchen gar nicht erst zu fragen. Es wird ihm vielleicht sehr angenehm sein, weil er vielleicht mit der Absicht auf sich geschossen hat, daß ich dann seine Beichte lesen sollte. Bitte, lachen Sie nicht über meine Worte, Ljow Nikolajewitsch; es ist wohl möglich, daß es sich so verhält.«

»Ich lache nicht; denn ich bin selbst davon überzeugt, daß dies teilweise sehr wohl möglich ist.«

»Sie sind davon überzeugt? Sie glauben das wirklich auch?« fragte Aglaja höchst erstaunt. Sie stellte ihre Fragen schnell und redete hastig, geriet aber manchmal in Verwirrung und brachte die Sätze oft nicht zu Ende. Alle Augenblicke kündigte sie ihm eilig etwas Bevorstehendes an; überhaupt befand sie sich in außerordentlicher Unruhe, und obwohl sie eine sehr tapfere, herausfordernde Miene annahm, war sie vielleicht doch etwas feige. Sie trug ein ganz einfaches Alltagskleid, das ihr sehr gut stand. Sie zuckte oft zusammen, errötete und saß nur auf dem Rand der Bank. Die Zustimmung des Fürsten zu ihrer Ansicht, daß Ippolit sich erschossen habe, damit sie seine Beichte läse, versetzte sie in großes Erstaunen.

»Gewiß wünschte er«, erklärte der Fürst, »daß außer Ihnen auch wir alle ihn loben möchten ...«

»Wieso loben?«

»Das heißt, es ist ... Wie soll ich Ihnen das deutlich machen? Es ist sehr schwer zu sagen. Aber er wünschte gewiß, alle möchten ihn umringen und zu ihm sagen, daß sie ihn sehr liebten und achteten, und alle möchten ihn dringend bitten, am Leben zu bleiben. Gut möglich, daß er dabei Sie mehr als alle andern im Auge hatte, weil er sich Ihrer in einem solchen Augenblick erinnerte ... wiewohl er vielleicht selbst nicht wußte, daß er Sie im Auge hatte.«

»Das ist mir ganz unverständlich: er hatte jemand im Auge und wußte nicht, daß er ihn im Auge hatte. Übrigens habe ich für seine Handlungsweise wohl Verständnis: wissen Sie, daß ich selbst gegen dreißigmal, von der Zeit an, als ich noch ein dreizehnjähriges Mädchen war, daran dachte, mich zu vergiften, und das alles in einem Brief an meine Eltern niederschrieb und mir sogar überlegte, wie ich im Sarg liegen würde, und wie alle um mich herumstehen und weinen und sich anklagen würden, weil sie so hart gegen mich gewesen seien ... Warum lächeln Sie wieder?« fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen schnell hinzu. »Woran denken Sie denn immer im stillen, wenn Sie so ganz für sich allein sich Ihren Träumereien überlassen? Vielleicht stellen Sie sich vor, Sie seien Feldmarschall und schlügen Napoleon.«

»Wahrhaftig, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, daran denke ich, besonders beim Einschlafen«, antwortete der Fürst lachend. »Nur schlage ich nicht Napoleon, sondern immer die Österreicher.«

»Ich habe gar keine Lust, mit Ihnen zu scherzen, Ljow Nikolajewitsch. Mit Ippolit will ich selbst sprechen und bitte Sie, ihm das mitzuteilen. Aber was Sie betrifft, so mißfällt mir Ihre Handlungsweise sehr; denn es ist sehr roh, eine Menschenseele in der Weise zu untersuchen und zu kritisieren, wie Sie es mit Ippolits Seele machen. Es fehlt Ihnen an Zärtlichkeit; die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.«

Der Fürst dachte nach.

»Mir scheint, daß Sie gegen mich ungerecht sind«, sagte er dann. »Ich finde nichts Schlechtes daran, daß er so gedacht hat; denn es neigen ja alle Menschen dazu, so zu denken; zudem hat er vielleicht überhaupt nicht so gedacht, sondern nur einen Wunsch gehabt ... er wünschte zum letztenmal mit Menschen zusammen zu sein und ihre Achtung und Liebe zu verdienen; das sind doch sehr gute Gefühle; nur daß die Sache einen ganz andern Ausgang nahm; das kam von seiner Krankheit und noch aus einem andern Grund her! Manche Menschen haben eben immer in allem Glück, während andern alles mißlingt ...«

»Das haben Sie gewiß mit Bezug auf sich selbst hinzugefügt?« bemerkte Aglaja.

»Allerdings«, antwortete der Fürst, ohne die in der Frage liegende Schadenfreude zu beachten.

»Aber an Ihrer Stelle wäre ich hier doch nicht eingeschlafen. Aber wohin Sie nur kommen, da schlafen Sie auch gleich ein; das ist gar nicht hübsch von Ihnen.«

»Ich habe ja die ganze Nacht nicht geschlafen, und dann bin ich immerzu umhergewandert; ich war auf dem Musikplatz.«

»Auf welchem Musikplatz?«

»Da, wo gestern konzertiert wurde; und dann bin ich hierhergekommen, habe mich hingesetzt, vielerlei überlegt und bin eingeschlafen.«

»Ah, so ist das! Das ändert die Sache zu Ihren Gunsten ... Aber warum sind Sie nach dem Musikplatz gegangen?«

»Das weiß ich nicht; ich hatte dabei keine besondere Absicht ...«

»Gut, gut, davon ein andermal; Sie unterbrechen mich immer, und was geht es mich an, daß Sie nach dem Musikplatz gegangen sind? Von was für einer Frau haben Sie denn geträumt?«

»Von ... von ... Sie haben sie gesehen ...«

»Ich verstehe ... verstehe sehr wohl. Sie haben sie also sehr ... Wie haben Sie sie denn im Traum gesehen, in welcher Gestalt? Übrigens will ich es gar nicht wissen«, fügte sie, plötzlich abbrechend, in ärgerlichem Ton hinzu. »Unterbrechen Sie mich nicht ...«

Sie wartete ein wenig, wie wenn sie sich ein Herz fassen wollte oder ihren Ärger zu überwinden suchte.

»Der Grund, weswegen ich Sie herbestellt habe, ist der: ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, mein Freund zu sein. Warum sehen Sie mich auf einmal so starr an?« fügte sie beinahe zornig hinzu.
Der Fürst blickte sie in diesem Augenblick tatsächlich sehr aufmerksam an, da er bemerkte, daß sie wieder anfing, furchtbar rot zu werden. Sie schien in solchen Fällen, je mehr sie errötete, sich um so mehr über sich zu ärgern, was in ihren blitzenden Augen deutlich zum Ausdruck kam; gewöhnlich übertrug sie dann unmittelbar darauf ihren Zorn auf denjenigen, mit dem sie sprach, mochte diesen nun eine Schuld treffen oder nicht, und fing an, sich mit ihm zu streiten. Da sie ihr scheues Wesen kannte und wußte, wie leicht sie sich schämte, so beteiligte sie sich gewöhnlich an dem Gespräch nur wenig und war schweigsamer als ihre Schwestern, mitunter sogar im Übermaß. Wenn sie, besonders in heiklen Fällen, schlechterdings nicht umhin konnte zu reden, so tat sie das zunächst in sehr hochmütiger und gewissermaßen herausfordernder Weise. Sie fühlte es immer vorher, wenn sie anfangen wollte zu erröten.

»Sie wollen meinen Vorschlag vielleicht nicht annehmen?« fragte sie und blickte dabei den Fürsten hochmütig an.

»O doch, ich will ihn annehmen; nur ist das gar nicht erforderlich ... ich meine, ich habe nie geglaubt, daß man einen solchen Vorschlag zu machen brauchte«, erwiderte der Fürst verlegen.

»Aber was haben Sie denn eigentlich gedacht, weswegen ich Sie hierherbestellt hätte? Was machen Sie sich denn für Vorstellungen? Sie halten mich vielleicht für eine kleine Närrin, wie sie das bei mir zu Hause alle tun?«

»Ich habe nicht gewußt, daß man Sie für eine Närrin hält; ich ... ich halte Sie nicht dafür.«

»Sie halten mich nicht dafür? Das ist sehr verständig von Ihnen. Und namentlich ist es sehr verständig von Ihnen, daß Sie es sagen.«

»Meiner Ansicht nach sind Sie sogar vielleicht mitunter sehr verständig«, fuhr der Fürst fort. »Sie haben vorhin einen sehr verständigen Gedanken ausgesprochen. Sie sagten in bezug auf meine zweifelnde Beurteilung Ippolits: ›Die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.‹ Das hat sich mir eingeprägt, und darüber denke ich nach.«
Aglaja wurde auf einmal dunkelrot vor Freude. Alle Gefühlsveränderungen vollzogen sich bei ihr mit großer Offenheit und außerordentlicher Schnelligkeit. Der Fürst freute sich ebenfalls und lachte sogar vor Vergnügen, indem er sie anblickte.

»So hören Sie denn«, begann sie wieder, »ich habe lange auf Sie gewartet, um Ihnen das alles zu erzählen, gleich von der Zeit an, wo Sie mir von dort den Brief geschrieben hatten, und sogar schon früher

... Die Hälfte haben Sie von mir schon gestern gehört: ich halte Sie für den ehrlichsten und wahrheitsliebendsten Menschen; Sie sind ehrlicher und wahrheitsliebender als alle anderen, und wenn man von Ihnen sagt, daß Ihr Verstand ... das heißt, daß Ihr Verstand mitunter nicht ganz gesund ist, so ist das ungerecht; das ist meine entschiedene Überzeugung, die ich auch verfochten habe; denn wenn Ihr Verstand auch wirklich nicht ganz gesund sein sollte (Sie werden mir das ja gewiß nicht übelnehmen; ich rede von einem höheren Gesichtspunkt aus), so ist dafür Ihr Hauptverstand besser als bei ihnen allen, sogar so gut, wie sie es sich gar nicht träumen lassen. Denn es gibt zwei Arten von Verstand, einen Hauptverstand und einen Nebenverstand. Nicht wahr? So ist es doch?«

»Vielleicht ist es so«, sagte der Fürst kaum vernehmbar; das Herz zitterte und klopfte ihm gewaltig.

»Ich wußte, daß Sie es verstehen würden«, fuhr sie mit wichtiger Miene fort: »Fürst Schtsch. und Jewgeni Pawlowitsch verstehen von diesen beiden Arten von Verstand nichts und Alexandra ebensowenig; aber denken Sie sich: Mama verstand es!«

»Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Lisaweta Prokofjewna.«

»Wieso? Wirklich?« fragte Aglaja erstaunt.

»Wahrhaft, das ist meine Ansicht.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich freue mich sehr, daß ich mit Mama Ähnlichkeit habe. Sie schätzen sie also wohl sehr hoch?« fügte sie hinzu, ohne die Naivität der Frage gewahr zu werden.

»Sehr hoch, sehr hoch, und ich freue mich, daß Sie das so ohne weiteres herausgefühlt haben.«

»Ich freue mich ebenfalls; denn ich habe bemerkt, daß man sich manchmal ... über sie lustig macht. Aber nun hören Sie die Hauptsache: ich habe es lange überlegt und schließlich Sie ausgewählt. Ich will nicht, daß man sich zu Hause über mich lustig macht; ich will nicht, daß man mich für eine kleine Närrin hält; ich will nicht, daß man mich aufzieht ... Ich habe das alles durchschaut und habe Jewgeni Pawlowitsch mit aller Entschiedenheit abgewiesen, weil ich nicht will, daß man mich ununterbrochen unter die Haube zu bringen sucht! Ich will ... ich will ... nun, ich will von zu Hause weglaufen, und ich habe Sie dazu ausgewählt, mir zu helfen.«

»Von zu Hause weglaufen!?« rief der Fürst.

»Ja, ja, ja, von zu Hause weglaufen!« rief sie plötzlich, in heftigem Zorn aufflammend. »Ich will nicht, ich will nicht, daß sie mich dort fortwährend zwingen zu erröten. Ich will nicht vor ihnen erröten, auch nicht vor dem Fürsten Schtsch., auch nicht vor Jewgeni Pawlowitsch und vor keinem Menschen, und darum habe ich Sie ausgewählt. Mit Ihnen will ich alles, alles besprechen, sobald ich nur Lust habe, sogar das Wichtigste; und Sie dürfen mir Ihrerseits auch nichts verbergen. Ich will wenigstens mit einem Menschen über alles so reden können wie mit mir selbst. Die Meinigen haben auf einmal angefangen so zu reden, als ob ich auf Sie wartete und Sie liebte. Das ging schon so vor Ihrer Ankunft, und ich hatte ihnen Ihren Brief doch gar nicht gezeigt; aber jetzt reden sie nun schon alle davon. Ich will kühn sein und mich vor nichts fürchten. Ich will nicht auf ihre Bälle gehen; ich will Nutzen bringen. Ich habe schon längst davongehen wollen. Ich habe zwanzig Jahre lang bei ihnen wie in einem Käfig gesessen, und immer wollen sie mich unter die Haube bringen. Schon als ich vierzehn Jahre alt war, dachte ich daran davonzulaufen, obwohl ich damals noch dumm war. Jetzt aber habe ich mir schon alles gut überlegt und habe auf Sie gewartet, um Sie gründlich über das Ausland zu befragen. Ich habe noch nie einen gotischen Dom gesehen; ich will in Rom sein; ich will alle wissenschaftlichen Sammlungen ansehen; ich will in Paris studieren; ich habe mich das ganze letzte Jahr über vorbereitet und studiert und sehr viele Bücher gelesen; ich habe auch alle möglichen verbotenen Bücher gelesen. Alexandra und Adelaida lesen allerlei Bücher; sie dürfen das. Aber mir werden nicht alle in die Hände gegeben; ich stehe unter Aufsicht. Ich will mich mit meinen Schwestern nicht herumstreiten; aber meiner Mutter und meinem Vater habe ich schon längst erklärt, daß ich meine soziale Stellung vollständig verändern will. Ich beabsichtige erzieherisch tätig zu sein und habe dabei auf Sie gerechnet, weil Sie gesagt haben, Sie hätten Kinder gern. Können wir zusammen eine erzieherische Tätigkeit ausüben, wenn nicht sogleich, so doch in zukünftiger Zeit? Wir werden vereint Nutzen stiften; ich will kein Generalstöchterchen sein ... Sagen Sie, Sie sind wohl ein sehr gelehrter Mann?«

»Oh, durchaus nicht!«

»Das ist schade; ich hatte es geglaubt ...; wie bin ich nur dazu gekommen, es zu glauben? Aber Sie werden dabei doch mein Leiter sein; denn ich habe Sie ausgewählt.«

»Das ist eine Torheit, Aglaja Iwanowna.«

»Ich will von zu Hause weglaufen, ich will es!« rief sie, und ihre Augen funkelten wieder auf. »Wenn Sie mir Ihre Beihilfe versagen, so heirate ich Gawrila Ardalionowitsch. Ich will nicht, daß man mich zu Hause für ein abscheuliches Frauenzimmer hält und mir für Gott weiß was alles die Schuld gibt.«

»Sind Sie bei Sinnen!?« rief der Fürst und sprang beinah von der Bank in die Höhe. »Wer beschuldigt sie? Wer tut so etwas?«

»Alle bei uns zu Hause, meine Mutter, meine Schwestern, mein Vater, Fürst Schtsch., sogar Ihr abscheulicher Kolja! Und wenn sie es nicht geradeheraus sagen, so denken Sie es wenigstens. Ich habe es ihnen allen ins Gesicht gesagt, sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater. Mama war infolgedessen einen ganzen Tag krank, und am andern Tag sagten mir Alexandra und Papa, ich wüßte selbst nicht, was ich zusammenphantasierte, und was für Ausdrücke ich gebrauchte. Aber ich habe ihnen sehr entschieden geantwortet, ich verstände schon alles, alle Ausdrücke, und ich wäre kein kleines Kind mehr, und ich hätte schon vor zwei Jahren absichtlich zwei Romane von Paul de Kock gelesen, um alles zu erfahren. Als Mama das hörte, fiel sie beinahe in Ohnmacht.«
Dem Fürsten ging plötzlich ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Er blickte Aglaja prüfend an und lächelte.

Er konnte gar nicht glauben, daß dasselbe hochmütige Mädchen vor ihm saß, das ihm früher einmal mit so stolzer, hochfahrender Miene Gawrila Ardalionowitschs Brief zum Lesen gegeben hatte. Er vermochte nicht zu begreifen, wie in diesem hochmütigen, abweisenden schönen Mädchen ein solches Kind stecken konnte, ein Kind, das vielleicht in Wirklichkeit auch jetzt noch nicht »alle Ausdrücke« verstand.

»Haben Sie immer nur im Elternhaus gelebt, Aglaja Iwanowna?« fragte er. »Ich meine, sind Sie nie in einer Schule gewesen, haben Sie nie ein Unterrichtsinstitut besucht?«

»Nein, niemals; ich habe immer wie in einer verkorkten Flasche zu Hause gesessen und werde direkt aus der Flasche heiraten; warum lächeln Sie wieder? Ich mache die Wahrnehmung, daß anscheinend auch Sie sich über mich lustig machen und sich zur Gegenpartei halten«, fügte sie, finster die Stirn runzelnd, hinzu. »Machen Sie mich nicht ärgerlich; ich weiß sowieso schon nicht, was in meinem Kopf vorgeht ... Ich bin überzeugt, Sie sind in dem festen Glauben hierhergekommen, daß ich in Sie verliebt wäre und Sie zu einem Rendezvous bestellt hätte«, sagte sie in gereiztem Ton.

»Ich habe das gestern wirklich befürchtet«, versetzte der Fürst in unbedachtsamer Offenherzigkeit (er war sehr verwirrt). »Aber heute bin ich überzeugt, daß Sie ...«

»Wie!« rief Aglaja, und ihre Unterlippe fing auf einmal an zu zittern. »Sie haben befürchtet, daß ich ... Sie haben zu denken gewagt, daß ich ... O Gott! Sie haben vielleicht geargwöhnt, ich hätte Sie mit der Absicht hierher bestellt, Sie in meine Netze zu locken, damit man uns dann hier zusammen überraschte und Sie nötigte, mich zu heiraten ...«

»Aglaja Iwanowna! Schämen Sie sich denn nicht? Wie konnte nur ein so unreiner Gedanke in Ihrem reinen, unschuldigen Herzen entstehen? Ich möchte darauf wetten, daß Sie selbst kein Wort von dem, was Sie eben sagten, für wahr halten ... Sie wissen selbst nicht, was Sie reden!«

Aglaja saß mit beharrlich gesenktem Kopf da, wie wenn sie selbst über das, was sie gesagt hatte, einen Schreck bekommen hätte.

»Ich schäme mich ganz und gar nicht«, murmelte sie.

»Woher wissen Sie, daß ich ein unschuldiges Herz habe? Wie konnten Sie wagen, mir damals den Liebesbrief zu schicken?«

»Einen Liebesbrief? Mein Brief ein Liebesbrief! Das war ein höchst respektvoller Brief; was in diesem Brief stand, das war meinem Herzen in der schwersten Stunde meines Lebens entquollen! Ich erinnerte mich damals Ihrer wie einer Lichtgestalt ... ich ...«

»Nun gut, gut«, unterbrach sie ihn, aber in ganz verändertem Ton, aus welchem man tiefe Reue und Angst heraushörte; sie bog sich sogar zu ihm hin, wobei sie es aber immer noch vermied, ihn gerade anzusehen, und war nahe daran, ihn an der Schulter zu berühren, um ihre Bitte, daß er ihr nicht böse sein möge, noch eindringlicher zu machen. »Gut«, fügte sie, sich furchtbar schämend, hinzu, »ich fühle, daß ich mich eines schrecklich dummen Ausdrucks bedient habe. Ich habe das gesagt ... um Sie zu prüfen. Nehmen Sie an, ich hätte es nicht gesagt! Und wenn ich Sie gekränkt habe, so verzeihen Sie mir! Bitte, sehen Sie mich nicht gerade an; wenden Sie sich ab! Sie sagten, das sei ein sehr unreiner Gedanke: ich habe es absichtlich gesagt, um Sie zu verletzen. Manchmal bekomme ich selbst einen Schreck über das, was ich sagen möchte; aber auf einmal sage ich es doch. Sie sagten soeben, Sie hätten diesen Brief in der schwersten Stunde Ihres Lebens geschrieben ... Ich weiß, was das für eine Stunde war«, sagte sie leise und blickte wieder zur Erde.

»Oh, wenn Sie alles wissen könnten!«

»Ich weiß alles!« rief sie in erneuter Erregung. »Sie lebten damals einen ganzen Monat lang in ein und derselben Wohnung mit dieser abscheulichen Frau, mit der Sie davongegangen waren ...«

Sie errötete jetzt nicht mehr, während sie das sagte, sondern wurde blaß; auf einmal stand sie wie geistesabwesend von der Bank auf, setzte sich aber, zur Besinnung kommend, sogleich wieder hin; ihre Lippe zuckte noch lange weiter. Das Schweigen dauerte etwa eine Minute lang.

Der Fürst war über diese plötzliche Heftigkeit sehr überrascht und wußte nicht, worauf er sie zurückführen sollte.

»Ich liebe Sie durchaus nicht«, sagte sie plötzlich kurz und scharf.

Der Fürst antwortete nicht; sie schwiegen wieder ungefähr eine Minute lang.

»Ich liebe Gawrila Ardalionowitsch ...«, sagte sie hastig, aber kaum hörbar und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

»Das ist nicht wahr«, erwiderte der Fürst, ebenfalls beinah flüsternd.

»Dann lüge ich also? Es ist doch wahr, ich habe ihm mein Wort gegeben, vorgestern, auf dieser selben Bank.«

Der Fürst erschrak und dachte einen Augenblick nach.

»Das ist nicht wahr«, sagte er noch einmal in entschiedenem Ton. »Sie haben sich das alles nur ausgedacht.«

»Sehr höflich von Ihnen! Wissen Sie, er hat sich gebessert; er liebt mich mehr als sein Leben. Er hat vor meinen Augen seine Hand verbrannt, nur um mir zu beweisen, daß er mich mehr liebt als sein Leben.«

»Er hat seine Hand verbrannt?«

»Jawohl, seine Hand. Sie mögen es glauben oder nicht, das ist mir ganz gleich.«

Der Fürst schwieg wieder. Aglajas Worte klangen nicht scherzhaft; sie war ärgerlich.

»Wie? Hat er denn eine Kerze hierher mitgebracht, wenn das hier vorgegangen ist? Anders kann ich mir die Sache nicht vorstellen ...«

»Jawohl ... eine Kerze. Was ist daran unwahrscheinlich?«

»Eine bloße ganze Kerze oder eine auf einem Leuchter?«

»Nun ja ... nein ... eine halbe Kerze ... ein Stümpfchen ... eine ganze Kerze ..., das ist ja ganz egal; lassen Sie doch das Gerede ...! Meinetwegen kann er auch Zündhölzer mitgebracht haben! Er zündete die Kerze an und hielt eine ganze halbe Stunde lang den Finger in die Flamme; ist das etwa nicht möglich?«

»Ich habe ihn gestern gesehen; seine Finger sind ganz heil.«

Aglaja brach nun auf einmal ganz wie ein Kind in ein prustendes Gelächter aus.

»Wissen Sie, warum ich eben gelogen habe?« wandte sie sich dann mit der kindlichen Zutraulichkeit an den Fürsten; ihre Lippen zitterten immer noch vor Lachen. »Deswegen: wenn man lügt und dabei in geschickter Weise etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches einflicht, wissen Sie, etwas, was sehr selten ist oder überhaupt nicht vorkommt, dann erscheint die Lüge weit glaubhafter. Das habe ich früher beobachtet. Es ist mir nur deshalb mißglückt, weil ich es nicht richtig verstanden habe ...« Auf einmal machte sie wieder ein finsteres Gesicht, wie wenn ihr etwas einfiele.

»Wenn ich damals«, sagte sie, indem sie sich zu dem Fürsten hinwandte und ihn mit ernster, ja trauriger Miene ansah, »wenn ich Ihnen damals das Gedicht vom ›armen Ritter‹ deklamiert habe, so wollte ich Sie damit zwar für einiges loben, zugleich aber wollte ich auch Ihr Benehmen in gewisser Hinsicht als Torheit hinstellen und Ihnen beweisen, daß ich alles wußte ...«

»Sie sind sehr ungerecht gegen mich und gegen jene unglückliche Frau, von der Sie soeben einen so schrecklichen Ausdruck gebrauchten, Aglaja.«

»Ich habe den Ausdruck deswegen gebraucht, weil ich alles weiß! Ich weiß, daß Sie vor einem halben Jahr vor aller Ohren ihr Ihre Hand antrugen. Unterbrechen Sie mich nicht; Sie sehen, ich führe nur Tatsachen an, ohne eine Kritik daran zu knüpfen. Darauf ist sie mit Rogoschin davongelaufen; dann haben Sie mit ihr in irgendeinem Dorf oder in irgendeiner Stadt zusammen gelebt, und sie ist von Ihnen weggegangen und hat sich zu irgendeinem andern begeben.« (Aglaja errötete stark.) »Dann ist sie wieder zu Rogoschin zurückgekehrt, der sie wie ... wie ein Wahnsinniger liebte. Darauf sind Sie, der Sie ebenfalls ein sehr verständiger Mensch sind, ihr jetzt schleunigst hierher nachgereist, sowie Sie erfahren hatten, daß sie nach Petersburg zurückgekehrt war. Gestern abend haben Sie sich zu ihrem Verteidiger aufgeworfen, und jetzt eben haben Sie von ihr geträumt ... Sie sehen, daß ich alles weiß; Sie sind ja doch um ihretwillen hierher gereist, nicht wahr, um ihretwillen?«

»Ja, um ihretwillen«, antwortete der Fürst leise; er ließ traurig und nachdenklich den Kopf sinken und ahnte nicht, mit was für einem funkelnden Blick Aglaja ihn betrachtete. »Um ihretwillen, nur um zu erfahren ... Ich glaube nicht an ihr Glück mit Rogoschin, obgleich ... kurz, ich weiß nicht, was ich hier für sie tun, wie ich ihr helfen könnte; aber ich bin trotzdem hergekommen.«

Er zuckte zusammen und sah Aglaja an; diese hörte ihm voll Haß zu.

»Wenn Sie hergereist sind, ohne zu wissen, wozu, so lieben Sie sie sehr«, sagte sie schließlich.

»Nein«, versetzte der Fürst, »nein, ich liebe sie nicht. Oh, wenn Sie wüßten, mit welchem Entsetzen ich an jene Zeit zurückdenke, die ich mit ihr verlebte!«

Ein Schauder überlief bei diesen Worten seinen Körper.

»Erzählen Sie mir alles!« sagte Aglaja.

»Es ist nichts darunter, was Sie nicht anhören könnten. Warum ich den Wunsch hegte, gerade Ihnen all dies zu erzählen und einzig und allein Ihnen, das weiß ich nicht; vielleicht weil ich Sie tatsächlich sehr liebte. Diese unglückliche Frau ist fest überzeugt, daß sie das am tiefsten gesunkene, lasterhafteste Wesen der ganzen Welt ist. Oh, reden Sie nicht Übles von ihr, werfen Sie keinen Stein auf sie! Sie hat sich schon selbst mit dem Bewußtsein ihrer unverdienten Schande nur zu sehr gequält! Und was trifft sie denn für eine Schuld, o mein Gott? Oh, alle Augenblicke ruft sie ingrimmig aus, sie bekenne sich nicht schuldig; sie sei das Opfer andrer Leute, das Opfer eines Wüstlings und Bösewichts; aber obgleich sie so redet, ist sie doch die erste, es nicht zu glauben, und ist vielmehr in tiefster Seele davon überzeugt, daß sie selbst daran schuld ist. Sobald ich versuchte, diese ihre düstere Auffassung zu bekämpfen, stieg ihre Seelenpein dermaßen, daß mein Herz, solange ich an diese schreckliche Zeit zurückdenken werde, nie wieder recht fröhlich sein wird. Es ist mir, als hätte ich einen Stich ins Herz bekommen, der nicht aufhört zu bluten. Sie lief von mir weg; wissen Sie, warum? In Wirklichkeit nur, um mir zu beweisen, daß sie ein gemeines Weib sei. Aber das Schrecklichste dabei ist dies: sie wußte vielleicht selbst nicht, daß sie nichts weiter wollte als mir das beweisen, sondern lief weg, weil sie sich innerlich getrieben fühlte, eine schändliche Handlung zu begehen, um sich dann selbst sagen zu können: ›Siehst du, du hast eine neue Schandtat begangen; also bist du ein gemeines Geschöpf!‹ Oh, vielleicht verstehen Sie das nicht, Aglaja! Wissen Sie wohl, daß in diesem steten Bewußtsein der Schande für sie vielleicht ein schrecklicher, unnatürlicher Genuß liegt, eine Art von Rache, die sie an jemand nimmt? Mitunter brachte ich sie dahin, daß sie wieder Licht um sich zu sehen glaubte; aber sofort regte sie sich dann wieder von neuem auf, und das ging so weit, daß sie mich voll Bitterkeit beschuldigte, ich dächte hoch über ihr zu stehen (obgleich mir das nie in den Sinn gekommen war), und mir schließlich, als ich ihr die Ehe anbot, geradezu erklärte, sie verlange von niemand ein hochmütiges Mitleid oder irgendwelche Hilfe oder ein ›zu sich Hinaufheben‹. Sie haben sie gestern gesehen; glauben Sie wirklich, daß sie sich in dieser Gesellschaft glücklich fühlt, daß sie in diesen Kreis hineinpaßt? Sie wissen nicht, wie hochgebildet sie ist, und was sie alles begreifen kann! Sie hat mich manchmal geradezu in Erstaunen versetzt!«

»Haben Sie ihr dort auch solche ... Predigten gehalten?«

»O nein«, fuhr der Fürst nachdenklich fort, ohne den Ton der Frage zu beachten; »ich habe fast immer geschwiegen. Ich wollte oft reden; aber ich wußte manchmal wirklich nicht, was ich sagen sollte.

Wissen Sie, in manchen Fällen ist es das beste, wenn man gar nichts sagt. Oh, ich liebte sie; ich liebte sie sehr ... aber dann ... dann ... dann hat sie alles erraten.«

»Was hat sie erraten?«

»Daß ich nur Mitleid mit ihr habe, und daß ich ... sie nicht mehr liebe.«

»Woher wissen Sie, ob sie sich nicht wirklich in jenen ... Gutsbesitzer verliebt hatte, mit dem sie davonging?«

»Nein, das war nicht der Fall; ich weiß alles: sie machte sich nur über ihn lustig.«

»Und hat sie sich niemals über Sie lustig gemacht?«

»N-nein. Sie hat vor Ärger über mich gelacht; oh, sie hat mir damals im Zorn schreckliche Vorwürfe gemacht – und hat selbst furchtbar dabei gelitten! Aber ... dann ... oh, erinnern Sie mich nicht daran, erinnern Sie mich nicht daran!«

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Wissen Sie wohl, daß sie fast täglich an mich Briefe schreibt?«

»Also das ist wahr!« rief der Fürst in starker Aufregung.

»Ich hatte es gehört, wollte es aber immer noch nicht glauben.«

»Von wem hatten Sie es gehört?« fragte Aglaja, erschrocken zusammenfahrend.

»Rogoschin sagte es mir gestern, nur nicht sehr deutlich.«

»Gestern? Gestern morgen? Wann gestern? Vor dem Konzert oder nachher?«

»Nachher, am Abend, kurz vor Mitternacht.«

»Ah so! Nun, wenn es Rogoschin war ... Aber wissen Sie, was sie mir in diesen Briefen schreibt?«

»Ich werde mich über nichts wundern; sie ist geisteskrank.«

»Da sind die Briefe.« Aglaja zog drei in Kuverts steckende Briefe aus der Tasche und warf sie vor den Fürsten hin. »Schon eine ganze Woche lang redet sie mir zu, bittet und beschwört mich, ich möchte Sie heiraten. Sie ... nun ja, sie ist klug, obwohl sie geisteskrank ist, und Sie sagen ganz richtig, daß sie viel klüger ist als ich ... sie schreibt mir, sie habe sich in mich verliebt; sie suche täglich eine Gelegenheit, mich zu sehen, wenn auch nur von weitem. Sie schreibt mir, Sie liebten mich; sie wisse das, sie habe es schon längst bemerkt, und Sie hätten mit ihr dort von mir gesprochen. Sie will Sie glücklich sehen; sie ist überzeugt, daß nur ich Sie glücklich machen kann ... Sie schreibt so wild ... so sonderbar ... Ich habe die Briefe niemandem gezeigt; ich habe damit auf Sie gewartet; wissen Sie vielleicht, was das alles zu bedeuten hat? Haben Sie keine Vermutung?«

»Das ist Irrsinn, ein Beweis ihrer Geisteskrankheit«, sagte der Fürst, und seine Lippen bebten.

»Sie weinen doch nicht?«

»Nein, Aglaja, nein, ich weine nicht«, erwiderte der Fürst, sie anblickend.

»Was soll ich denn dabei tun? Wozu raten Sie mir? Ich darf doch solche Briefe nicht länger annehmen!«

»Oh, unternehmen Sie nichts gegen diese Frau, ich flehe Sie an!« rief der Fürst. »Was haben Sie mit dieser geistigen Dunkelheit zu tun; ich werde alles aufbieten, damit sie nicht mehr an Sie schreibt.«

»Wenn es so steht, dann sind Sie ein herzloser Mensch!« rief Aglaja. »Sehen Sie denn nicht, daß sie nicht in mich verliebt ist, sondern daß sie Sie liebt, einzig und allein Sie? Haben Sie wirklich alle Empfindungen ihrer Seele erkennen können und nur dieses Gefühl nicht bemerkt? Wissen Sie, was hier vorliegt, was diese Briefe bedeuten? Das ist Eifersucht; das ist mehr als Eifersucht! Diese Frau ... glauben Sie etwa, daß sie wirklich Rogoschin heiraten wird, wie sie hier in den Briefen schreibt? Wenn wir uns trauen lassen, wird sie sich am nächsten Tag das Leben nehmen!«

Der Fürst fuhr zusammen; das Herz wollte ihm stillstehen. Aber er blickte Aglaja erstaunt an: es war für ihn eine sonderbare Empfindung zu erkennen, daß dieses Kind schon längst ein Weib war.

»Gott weiß es, Aglaja, daß ich mein Leben opfern würde, um ihr die Ruhe der Seele wiederzugeben und sie glücklich zu machen; aber ... ich kann sie nicht mehr lieben, und sie weiß das!«

»So bringen Sie sich doch zum Opfer; das steht Ihnen ja so gut! Sie sind ja ein so großer Wohltäter. Und sagen Sie nicht ›Aglaja‹, zu mir; Sie haben auch vorhin schon einfach ›Aglaja‹ zu mir gesagt ... Sie müssen ihr zu einem neuen Leben behilflich sein, Sie sind dazu verpflichtet; Sie müssen mit ihr wieder wegreisen, um ihrem Herzen Frieden und Ruhe wiederzugeben. Und Sie lieben sie ja auch!«

»Ich konnte mich nicht in dieser Weise zum Opfer bringen, obgleich ich es einmal gewollt habe und ... vielleicht auch jetzt möchte. Aber ich weiß bestimmt, daß sie mit mir zugrundegehen würde, und deshalb verlasse ich sie. Ich sollte heute um sieben Uhr zu ihr kommen; aber ich werde jetzt vielleicht nicht hingehen. In ihrem Stolz würde sie mir meine Liebe nie verzeihen, und wir würden beide zugrundegehen! Das ist ja unnatürlich; aber hierbei ist eben alles unnatürlich. Sie sagen, daß sie mich liebt; aber ist denn das wirklich Liebe? Kann man denn, wenn man bedenkt, was ich schon gelitten habe, das für wahre Liebe halten? Nein, das ist etwas anderes, aber nicht Liebe!«

»Wie blaß Sie geworden sind!« rief Aglaja erschrocken.

»Das macht nichts; ich habe nur wenig geschlafen; da bin ich schwach geworden, ich ... Wir haben damals in der Tat von Ihnen gesprochen, Aglaja ...«

»Also, das ist wahr? Sie haben es wirklich fertiggebracht, mit ihr von mir zu sprechen? Und ... und wie war es nur möglich, daß Sie mich liebgewonnen hatten, da Sie mich doch erst ein einziges Mal gesehen hatten?«

»Ich weiß nicht, wie es hat geschehen können. In meinem damaligen verdüsterten Seelenzustand träumte mir, ahnte mir vielleicht etwas von einer neuen Morgenröte. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß Sie die erste waren, auf die sich meine Gedanken richteten. Wenn ich Ihnen damals schrieb, ich wisse nicht, wie es zugegangen sei, so war das die Wahrheit. All das war nur ein Hoffnungstraum, der mir infolge meines damaligen Angstzustandes kam ... Ich habe dann angefangen, mich zu beschäftigen, und würde in drei Jahren nicht wieder hergereist sein ...«

»Also sind Sie um ihretwillen hergereist?«

Aglajas Stimme hatte einen zitternden Klang.

»Ja, um ihretwillen.«

Es vergingen etwa zwei Minuten in finsterem Schweigen von beiden Seiten. Aglaja stand von der Bank auf.

»Wenn Sie sagen«, begann sie mit unsicherer Stimme, »wenn Sie selbst glauben, daß diese ... daß diese Frau ... irrsinnig ist, dann gehen mich ihre irrsinnigen Phantasien nichts an ... Ich bitte Sie, Ljow Nikolajewitsch, diese drei Briefe an sich zu nehmen und sie ihr in meinem Namen wieder zuzustellen! Und sagen Sie ihr«, rief Aglaja plötzlich mit erhobener Stimme, »wenn sie sich erdreisten sollte, mir noch einmal auch nur eine Zeile zu schicken, so würde ich mich bei meinem Vater beschweren, und sie würde ins Arbeitshaus gebracht werden ...«

Der Fürst sprang auf und sah Aglaja, ganz erschrocken über ihre plötzliche Wut, an; und auf einmal schien sich ein Nebel vor seinen Augen zu zerteilen ...

»Sie können nicht so fühlen ... das ist nicht wahr!« murmelte er.

»Es ist doch wahr! Es ist doch wahr!« schrie Aglaja, die kaum von sich selbst wußte.

»Was ist wahr? Was soll wahr sein?« ertönte neben ihnen eine ängstliche Stimme.

Vor ihnen stand Lisaweta Prokofjewna.

»Es ist wahr, daß ich Gawrila Ardalionowitsch heiraten werde! Daß ich Gawrila Ardalionowitsch liebe und mit ihm gleich morgen von zu Hause davonlaufen werde!« rief Aglaja ihr heftig zu. »Haben Sie es gehört? Ist Ihre Neugier nun befriedigt? Sind Sie damit einverstanden?« Und sie lief nach Hause.

Lisaweta Prokofjewna hielt den Fürsten zurück. »Nein, lieber Freund«, sagte sie, »geh jetzt nicht weg; tu mir den Gefallen und komm zu mir nach Hause, um mir Aufklärung zu geben ...! Was ist das nur wieder für eine neue Qual! Ich habe auch so schon die ganze Nacht nicht geschlafen.«

Der Fürst ging mit ihr nach Hause.

IX

Als Lisaweta Prokofjewna in ihre Wohnung kam, blieb sie gleich im ersten Zimmer; sie war außerstande weiterzugehen und ließ sich ganz kraftlos auf eine Chaiselongue niedersinken, wobei sie sogar vergaß, den Fürsten zum Platznehmen aufzufordern. Es war dies ein ziemlich großer Saal, mit einem runden Tisch in der Mitte, mit einem Kamin, mit einer Menge Blumen auf Gestellen an den Fenstern, und in der Hinterwand mit einer zweiten Glastür, die nach dem Garten führte. Sogleich kamen Adelaida und Alexandra herein und blickten den Fürsten und ihre Mutter fragend und erstaunt an.

Die jungen Mädchen standen in der Sommerfrische gewöhnlich gegen neun Uhr auf; nur Aglaja hatte es sich in den letzten zwei, drei Tagen angewöhnt, etwas früher aufzustehen und im Garten spazierenzugehen, aber nicht um sieben Uhr, sondern um acht oder noch später. Lisaweta Prokofjewna, die in der Nacht wirklich vor allerlei Sorgen nicht geschlafen hatte, war gegen acht Uhr aufgestanden in der Absicht, Aglaja im Garten aufzusuchen, da sie annahm, daß diese bereits auf sei, hatte sie aber weder im Garten noch in ihrem Schlafzimmer gefunden. Da war sie unruhig geworden und hatte ihre Töchter geweckt. Von dem Dienstmädchen hatten sie dann erfahren, Aglaja Iwanowna sei schon vor sieben Uhr in den Park gegangen. Die jungen Mädchen hatten über die neue Laune ihres romantisch veranlagten Schwesterchens gelächelt und der Mama bemerkt, Aglaja werde es am Ende noch übelnehmen, wenn diese in den Park ginge, um sie zu suchen; sie sitze jetzt gewiß mit einem Buch auf der grünen Bank, von der sie noch vor drei Tagen gesprochen und um derentwillen sie sich beinah mit dem Fürsten Schtsch. gezankt habe, weil dieser an der Lage der Bank nichts Besonderes habe finden können. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und Aglaja bei dem Rendezvous getroffen und die sonderbaren Worte der letzteren gehört hatte, war sie aus diesen Ursachen sehr erschrocken gewesen; aber als sie nun den Fürsten mit nach Hause genommen hatte, tat es ihr in einer Anwandlung von Feigheit leid, daß sie die Sache angefangen hatte; was war denn dabei, wenn Aglaja den Fürsten im Park traf und sich mit ihm unterhielt, selbst wenn es ein vorher verabredetes Rendezvous war?

»Glaube nicht, lieber Freund«, begann sie endlich, Mut fassend, »daß ich dich hierher geschleppt habe, um dich einem Verhör zu unterwerfen ... Nach dem gestrigen Abend hatte ich vielleicht überhaupt für lange Zeit nicht den Wunsch, mit dir zusammenzukommen, mein Bester ...«

Sie stockte ein wenig.

»Aber doch möchten Sie gern wissen, wie es zugegangen ist, daß ich jetzt mit Aglaja Iwanowna zusammen war?« sprach der Fürst ihren Gedanken sehr ruhig zu Ende.

»Nun ja, gewiß möchte ich das gern!« versetzte Lisaweta Prokofjewna auffahrend. »Ich fürchte mich nicht, offen zu reden; denn ich kränke niemand und beabsichtige niemand zu kränken ...«

»Aber ich bitte Sie, von Kränkung kann ja nicht die Rede sein; es ist ja sehr natürlich, daß Sie als Mutter das zu erfahren wünschen. Ich habe mich heute morgen mit Aglaja Iwanowna bei der grünen Bank Punkt sieben Uhr getroffen, und zwar infolge einer gestrigen Aufforderung von ihrer Seite. Sie ließ mich gestern abend durch ein Billett wissen, daß sie mit mir zusammenkommen und mit mir über eine wichtige Angelegenheit sprechen müsse. Wir haben uns demzufolge getroffen und eine ganze Stunde lang über Dinge gesprochen, die ausschließlich Aglaja Iwanowna angehen. Das ist alles.«

»Natürlich wird das alles sein, lieber Freund, ohne allen Zweifel«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna mit würdevoller Miene.

»Sehr gut, Fürst!« sagte Aglaja, die plötzlich ins Zimmer trat. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür, daß Sie auch mich für unfähig gehalten haben, mich durch eine Lüge zu erniedrigen. Haben Sie nun genug gehört, Mama, oder beabsichtigen Sie, das Verhör noch weiter fortzusetzen?«

»Du weißt, daß ich bisher noch nie vor dir habe zu erröten brauchen, obwohl du dich vielleicht darüber freuen würdest«, antwortete Lisaweta Prokofjewna tadelnd. »Lebe wohl, Fürst; verzeih, daß ich dir Umstände gemacht habe! Ich hoffe, du bist nach wie vor von meiner unveränderlichen Hochachtung gegen dich überzeugt.«

Der Fürst verbeugte sich sofort nach beiden Seiten und entfernte sich schweigend. Alexandra und Adelaida lächelten und flüsterten miteinander. Lisaweta Prokofjewna warf ihnen einen strengen Blick zu.

»Wir amüsieren uns nur darüber, Mama«, sagte Adelaida lachend, »daß der Fürst so wundervolle Verbeugungen machte; manchmal ist er plump wie ein Sack und nun auf einmal so gewandt wie ... wie Jewgeni Pawlowitsch.«

»Zartgefühl und Würde lehrt uns das Herz und nicht der Tanzmeister«, versetzte Lisaweta Prokofjewna in Form einer allgemeinen Sentenz, beendete damit das Gespräch und ging in ihr Zimmer hinauf, ohne Aglaja auch nur anzusehen.

Als der Fürst in seine Wohnung zurückkehrte (es war schon gegen neun Uhr), fand er in der Veranda Wjera Lukjanowna und das Dienstmädchen vor. Beide räumten zusammen auf und fegten nach der gestrigen Unordnung aus.

»Gott sei Dank! Wir sind noch gerade vor Ihrer Rückkehr fertig geworden!« sagte Wjera erfreut.

»Guten Morgen; mir ist ein wenig schwindlig; ich habe schlecht geschlafen; ich möchte es jetzt noch ein bißchen nachholen.«

»Hier in der Veranda, wie gestern? Schön! Ich werde allen sagen, daß sie Sie nicht wecken sollen. Papa ist weggegangen.«

Das Dienstmädchen ging hinaus; Wjera war schon im Begriff ihr zu folgen, wendete sich aber noch einmal um und trat mit besorgter Miene an den Fürsten heran.

»Fürst, haben Sie Mitleid mit diesem ... mit diesem Unglücklichen; jagen Sie ihn nicht heute weg!«

»Um keinen Preis werde ich ihn wegjagen; er kann so lange bleiben, wie er selbst will.«

»Er wird jetzt nichts anrichten, und ... verfahren Sie nicht zu streng mit ihm!«

»O nein! Warum sollte ich das tun?«

»Und ... lachen Sie ihn nicht aus; das ist das Allerwichtigste.«

»O, durchaus nicht!«

»Ich bin dumm, daß ich einem Mann wie Sie das erst noch sage«, sagte Wjera errötend. »Aber obwohl Sie müde sind«, fügte sie lachend hinzu, indem sie sich bald umwandte, um fortzugehen, »haben Sie doch in diesem Augenblick so prächtige Augen ... so glückliche Augen.«

»Wirklich glückliche?« fragte der Fürst lebhaft und lachte fröhlich auf.

Aber Wjera, die sonst natürlich und ungeniert wie ein Knabe war, wurde auf einmal verlegen, errötete noch stärker und ging, immer weiterlachend, schnell hinaus.

»Was für ein prächtiges Mädchen ...«, dachte der Fürst, vergaß sie aber im nächsten Augenblick wieder. Er ging in eine Ecke der Veranda, wo eine Chaiselongue mit einem Tischchen davor stand, setzte sich hin, bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß so etwa zehn Minuten lang; dann fuhr er auf einmal eilig und unruhig mit der Hand in die Seitentasche und zog die drei Briefe heraus. Aber die Tür öffnete sich von neuem, und Kolja kam herein. Der Fürst freute sich ordentlich, daß er die Briefe wieder in die Tasche stecken und die Lektüre verschieben mußte.

»Na, das war heute nacht eine tolle Geschichte!« sagte Kolja, indem er sich auf die Chaiselongue setzte und wie alle Menschen seines Schlages ohne weiteres zur Sache kam. »Was haben Sie jetzt für ein Urteil über Ippolit? Versagen Sie ihm Ihre Achtung?«

»Warum sollte ich das tun ...? Aber, Kolja, ich bin müde ... Außerdem ist es gar zu traurig, davon wieder anzufangen ... Was macht er aber jetzt?«

»Er schläft und wird noch zwei Stunden fortschlafen. Ich verstehe: Sie haben zu Hause nicht geschlafen, sondern sind im Park umhergewandert ... natürlich, die Aufregung ... wie wäre es auch anders möglich?«

»Woher wissen Sie, daß ich im Park umhergewandert bin und zu Hause nicht geschlafen habe?«

»Wjera hat es mir soeben gesagt. Sie sagte, ich sollte jetzt nicht zu Ihnen hereingehen; aber ich konnte es doch nicht unterlassen; ich bin nur auf ein Augenblickchen gekommen. Ich habe die letzten zwei Stunden am Bett Wache gehalten; jetzt hat mich Kostja Lebedjew abgelöst. Burdowski ist weggegangen. Also legen Sie sich nur hin, Fürst! Gute Nacht ... na, oder guten Tag! Aber wissen Sie, ich bin doch sehr ergriffen!«

»Gewiß ... dieser ganze Vorgang ...«

»Nein, Fürst, nein; was mich so ergriffen hat, war die ›Beichte‹. Namentlich die Stelle, wo er von der Vorsehung und von dem zukünftigen Leben sprach. Das war ein gi-gan-tischer Gedanke!«

Der Fürst sah Kolja freundlich an, der natürlich nur gekommen war, um möglichst bald über den gigantischen Gedanken sprechen zu können.

»Aber die Hauptsache, die Hauptsache ist nicht der Gedanke selbst, sondern daß er unter solchen Umständen geäußert wurde! Hätte das Voltaire oder Rousseau oder Proudhon geschrieben, so würde ich es gelesen und mir eingeprägt haben; aber es hätte mir nicht in dem Grade imponiert. Aber wenn ein Mensch, der bestimmt weiß, daß er nur noch zehn Minuten zu leben hat, wenn ein solcher Mensch so redet, das ist doch etwas Großartiges! Das ist doch die höchste Unabhängigkeit der eigenen Würde; das stellt doch eine direkte Herausforderung dar ... Nein, das ist eine gigantische Geisteskraft! Bei solcher Lage der Dinge zu behaupten, er hätte absichtlich unterlassen, ein Zündhütchen aufzusetzen, das ist eine Gemeinheit, eine Absurdität! Aber wissen Sie, er hat gestern eine listige Täuschung begangen: ich habe nie mit ihm seinen Koffer gepackt und die Pistole nie gesehen; er hat alles selbst gepackt, so daß ich bei seiner Behauptung zunächst ganz verblüfft war. Wjera sagt, Sie würden ihn hierbehalten; ich stehe dafür, daß keinerlei Gefahr droht, um so weniger, da wir alle bei ihm unausgesetzt Wache halten.«

»Wer von Ihnen ist denn in der Nacht bei ihm gewesen?«

»Ich, Kostja Lebedjew und Burdowski. Keller war eine Weile da und ist dann zu Lebedjew gegangen, um bei dem zu schlafen, weil bei uns nichts war, worauf er hätte liegen können. Ferdyschtschenko hat ebenfalls bei Lebedjew geschlafen und ist um sieben Uhr weggegangen. Der General wohnt dauernd bei Lebedjew; jetzt ist er ebenfalls weggegangen ... Lebedjew wird vielleicht gleich zu Ihnen kommen; er sucht Sie, ich weiß nicht weswegen, und hat schon zweimal nach Ihnen gefragt. Sollen wir ihn hereinlassen oder nicht, wenn Sie sich jetzt schlafen legen wollen? Ich will mich auch hinlegen und schlafen. Ach ja, eines wollte ich Ihnen noch erzählen: ich habe mich vorhin über den General gewundert. Burdowski weckte mich zwischen sechs und sieben oder genauer kurz nach sechs, damit ich die Wache übernähme. Ich ging für einen Augenblick hinaus und stieß plötzlich auf den General, der noch so betrunken war, daß er mich nicht erkannte; er stand wie ein Holzpfahl vor mir. Als er dann seine Gedanken einigermaßen gesammelt hatte, fuhr er ordentlich auf mich los mit der Frage: ›Was macht der Kranke? Ich bin hergekommen, um mich nach dem Kranken zu erkundigen ...‹ Ich berichtete ihm dies und das. ›Das ist ja schön‹, sagte er; ›aber ich bin hauptsächlich hergekommen und deswegen aufgestanden, um dich zu warnen; ich habe Grund zu der Vermutung, daß man in Herrn Ferdyschtschenkos Gegenwart nicht alles sagen darf und ... sich vor ihm hüten muß.‹ Können Sie das verstehen, Fürst?«

»Eigentümlich; übrigens kann es uns ja ganz gleichgültig sein.«

»Ja, zweifellos kann es uns ganz gleichgültig sein; wir sind ja keine Freimaurer! Aber ich habe mich höchlichst darüber gewundert, daß der General deswegen in der Nacht hinkam und mich wecken wollte.«

»Sie sagen, Ferdyschtschenko ist weggegangen?«

»Ja, um sieben Uhr; er kam noch für einen Augenblick zu mir heran; ich hatte die Wache. Er sagte, er wolle zu Wilkin gehen und bei dem weiterschlafen; das ist ein arger Trunkenbold, dieser Wilkin. Na, nun will ich gehen! Da kommt auch Lukjan Timofejewitsch ... Der Fürst will schlafen, Lukjan Timofejewitsch; also kehrt, marsch!«

»Nur auf eine Minute, hochverehrter Fürst, in einer meiner Ansicht nach wichtigen Angelegenheit«, sagte der eintretende Lebedjew halblaut in ernstem Ton und verbeugte sich würdevoll.

Er war eben erst zurückgekehrt und noch nicht einmal in seine Wohnung gegangen, so daß er den Hut noch in der Hand hielt.

Sein Gesicht war sorgenvoll und trug einen besonderen, ungewöhnlichen Ausdruck von selbstbewußter Würde.

Der Fürst forderte ihn auf, Platz zu nehmen.

»Sie haben schon zweimal nach mir gefragt? Sie beunruhigen sich vielleicht immer noch wegen des gestrigen Vorfalls?«

»Sie meinen in bezug auf den Jungen, der uns gestern in Erregung versetzte, Fürst? O nein, nein; gestern waren mir meine Gedanken in Unordnung geraten ... aber heute habe ich nicht mehr vor, Ihre Anordnungen irgendwie zu konterkarieren.«

»Konterka ... Wie sagten Sie?«

»Ich sagte: konterkarieren; ein französisches Wort, wie viele andere, das in den russischen Sprachschatz aufgenommen worden ist; aber ich will es nicht sonderlich verteidigen.«

»Sie benehmen sich ja heute so würdevoll und zeremoniös, Lebedjew, und reden so bedächtig«, sagte der Fürst lächelnd.

»Nikolai Ardalionowitsch!« wandte sich Lebedjew an Kolja in einem Ton, der beinah gerührt klang; »ich habe dem Fürsten eine besondere Sache mitzuteilen: sie betrifft eigentlich ...«

»Nun, ja, selbstverständlich, selbstverständlich; was geht es mich an? Auf Wiedersehen, Fürst!« sagte Kolja und entfernte sich sogleich.

»Ich habe den Knaben wegen seiner schnellen Auffassung gern«, bemerkte Lebedjew, indem er ihm nachsah.

»Ein gewandter Junge, nur etwas zudringlich. Es ist mir ein außerordentliches Unglück widerfahren, hochgeehrter Fürst: gestern abend oder heute frühmorgens ... ich bin noch nicht imstande, die Zeit genau anzugeben ...«

»Was ist denn geschehen?«

»Es sind mir vierhundert Rubel aus der Seitentasche abhanden gekommen, hochgeehrter Fürst; eine nette Geschichte!« fügte Lebedjew mit einem sauren Lächeln hinzu.

»Sie haben vierhundert Rubel verloren? Das ist sehr bedauerlich.«

»Und besonders, wo es einen armen Menschen betroffen hat, der ehrenhaft von seiner Arbeit lebt.«

»Gewiß, gewiß; aber wie ist denn das zugegangen?«

»Es ist eine Folge des Weingenusses. Ich wende mich an Sie wie an die Vorsehung, hochgeehrter Fürst. Ich empfing gestern um fünf Uhr nachmittags eine Summe von vierhundert Rubeln von einem Schuldner und kehrte mit dem Zug hierher zurück. Die Brieftasche mit dem Geld hatte ich in der Tasche. Als ich die Uniform mit einem Zivilrock vertauschte, steckte ich das Geld in den Zivilrock, da ich es am Leib behalten wollte, weil ich darauf rechnete, daß ich es noch am selben Abend einer an mich gerichteten Bitte zufolge würde auszuzahlen haben ... Ich erwartete einen Vermittler.«

»Apropos, Lukjan Timofejewitsch, ist das wahr, daß Sie in den Zeitungen annoncieren, Sie gäben Geld gegen Verpfändung von Gold- und Silbersachen?«

»Durch einen Vermittler; mein eigener Name wird dabei nicht genannt, auch meine Adresse nicht angegeben ... Da ich nur ein geringfügiges Kapital besitze und auf das Heranwachsen meiner Familie Rücksicht nehmen muß, so werden Sie selbst zugeben müssen, daß ein ehrlicher Prozentsatz ...«

»Nun ja, nun ja; ich wollte mich ja auch nur danach erkundigen; entschuldigen Sie die Unterbrechung.«

»Der Vermittler erschien nicht. Unterdessen wurde dieser Unglückliche hergebracht; ich befand mich schon nach dem Mittagessen in animierter Stimmung; nun kamen diese Gäste; wir tranken ... Tee, und ... ich heiterte mich zu meinem Verderben an. Dann (es war schon spät geworden) kam dieser Keller und brachte die Nachricht von Ihrem Geburtstag und von Ihrer Anordnung in betreff des Champagners; da ich nun, teurer und hochgeehrter Fürst, ein Herz besitze (was Sie gewiß schon bemerkt haben; denn ich verdiene es), da ich ein Herz besitze, ich will nicht sagen ein empfindsames, aber ein dankbares, worauf ich stolz bin, so kam ich zu mehrerer Feierlichkeit des verbreiteten Zusammenseins und in der Erwartung, daß ich Ihnen meine Glückwünsche würde persönlich aussprechen dürfen, auf den Einfall, meinen alten Hausrock wieder mit der Uniform zu vertauschen, die ich bei meiner Heimkehr abgelegt hatte; dies tat ich denn auch, wie Sie, Fürst, wahrscheinlich bemerkt haben, da Sie mich den ganzen Abend über in Uniform gesehen haben. Bei diesem Kleiderwechsel vergaß ich in dem Zivilrock die Brieftasche ... Es ist eine alte Wahrheit: wen Gott bestrafen will, dem nimmt er zuerst den Verstand. Und erst heute, als ich aufwachte (es war schon halb acht), sprang ich wie halbverrückt auf und griff vor allen Dingen nach dem Zivilrock: die Tasche war leer! Die Brieftasche war spurlos verschwunden!«

»Oh, das ist unangenehm!«

»Ja, es ist wirklich unangenehm; und Sie haben mit richtigem Taktgefühl sofort den zutreffenden Ausdruck gefunden«, bemerkte Lebedjew nicht ohne eine gewisse Tücke.

»Gewiß ist es unangenehm, aber ...«, sagte der Fürst, der ein wenig nachgedacht hatte und nun in Aufregung geriet, »die Sache hat doch ihre ernste Seite.«

»Ja, sie hat wirklich ihre ernste Seite; da haben Sie wieder einen sehr passenden Ausdruck gefunden, Fürst, zur Bezeichnung ...«

»Ach, hören Sie doch auf, Lukjan Timofejewitsch; was ist denn da zu finden? Die Ausdrücke sind hierbei nicht von Wichtigkeit ... Halten Sie für möglich, daß Sie die Brieftasche im Zustand der Trunkenheit aus der Tasche verloren haben?«

»Möglich ist es; im Zustand der Trunkenheit, wie Sie sich mit aller Offenheit ausgedrückt haben, ist alles möglich, hochgeehrter Fürst! Aber ich bitte Sie, Folgendes zu erwägen: wenn ich die Brieftasche beim Rockwechsel hätte aus der Tasche fallen lassen, so müßte der herausgefallene Gegenstand dort auf dem Fußboden liegen. Wo ist aber dieser Gegenstand?«

»Haben Sie die Brieftasche nicht vielleicht in die Kommode oder in einen Tischkasten gelegt?«

»Ich habe alles durchsucht, alles durchwühlt, obgleich ich mich genau erinnere, sie nirgends verwahrt und kein Schubfach geöffnet zu haben.«

»Haben Sie im Schränkchen nachgesehen?«

»Gleich zuerst, und sogar mehrere Male ... Aber wie hätte ich auch dazu kommen sollen, sie in das Schränkchen zu legen, aufrichtig verehrter Fürst?«

»Ich muß bekennen, Lebedjew, daß mich die Sache aufregt. Also muß es jemand auf dem Fußboden gefunden haben?«

»Oder aus der Tasche entwendet! Das sind zwei Möglichkeiten.«

»Die Sache regt mich sehr auf; denn wer könnte eigentlich ... Das ist die Frage!«

»Ohne allen Zweifel ist das die Hauptfrage! Sie finden mit bewundernswerter Sicherheit die richtigen Gedanken und Ausdrücke und präzisieren die Situation vortrefflich, durchlauchtigster Fürst.«

»Ach, Lukjan Timofejewitsch, lassen Sie doch die Spöttereien; hier ...«

»Spöttereien!« rief Lebedjew und schlug die Hände zusammen.

»Nun, nun, schon gut, ich bin nicht weiter böse; aber hier handelt es sich um etwas ganz anderes ... Ich fürchte für die Menschen. Wen haben Sie denn im Verdacht?«

»Das ist eine schwierige Frage und ... eine sehr verwickelte Frage! Das Dienstmädchen kann ich nicht im Verdacht haben; die hat sich die ganze Zeit über in ihrer Küche aufgehalten. Meine eigenen Kinder ebenfalls nicht.«

»Am Ende gar!«

»Also müßte es einer der Gäste gewesen sein.«

»Aber ist das möglich?«

»Das ist völlig unmöglich, ganz und gar unmöglich; aber es muß doch unter allen Umständen der Fall sein. Ich will jedoch zugeben und bin sogar davon überzeugt, daß, wenn ein Diebstahl stattgefunden hat, er nicht am Abend ausgeführt ist, als alle zusammen waren, sondern erst in der Nacht oder gar erst gegen Morgen, von einem der hier Übernachtenden.«

»Ach, mein Gott!«

»Burdowski und Nikolai Ardalionowitsch nehme ich natürlich aus; die sind überhaupt nicht zu mir hereingekommen.«

»Am Ende gar! Und selbst wenn sie hereingekommen wären! Wer hat bei Ihnen übernachtet?«

»Mich mitgezählt, waren wir unser vier Personen, die in zwei nebeneinander liegenden Zimmern übernachteten: ich, der General, Keller und Herr Ferdyschtschenko. Also muß es einer von uns vieren gewesen sein!«

»Das heißt, einer von den dreien; aber wer denn?«

»Um der Gerechtigkeit und guten Ordnung willen habe ich auch mich selbst mitgezählt; aber Sie werden zugeben müssen, Fürst, daß ich mich nicht wohl selbst bestehlen konnte, obgleich solche Fälle allerdings in der Welt schon vorgekommen sind ...«

»Ach, Lebedjew, wie langweilig das ist!« rief der Fürst ungeduldig. »Kommen Sie doch zur Sache, und ziehen Sie die Vorreden nicht in die Länge ...«

»Es bleiben also drei Personen übrig. Da ist erstens Herr Keller, ein Mensch ohne festen Wohnsitz, ein trunksüchtiger Mensch und in manchen Dingen fortschrittlich gesinnt, das heißt, wo es darauf ankommt, aus anderer Leute Tasche zu leben; im übrigen aber sind seine Neigungen sozusagen mehr altritterlicher als fortschrittlicher Art. Er übernachtete anfangs im Zimmer des Kranken und kam erst in der Nacht zu uns herüber, mit der Begründung, es sei ihm nicht möglich, auf dem harten Fußboden zu schlafen.«

»Haben Sie ihn im Verdacht?«

»Ich hatte ihn allerdings im Verdacht. Als ich zwischen sieben und acht Uhr morgens wie ein Halbverrückter aufsprang und mich vor die Stirn schlug, da weckte ich sogleich den General, der den Schlaf der

Unschuld schlief. Nachdem wir über Ferdyschtschenkos sonderbares Verschwinden unsere Betrachtungen angestellt hatten, ein Umstand, der schon an und für sich unsern Verdacht erweckte, entschieden wir beide uns sofort dafür, Keller zu visitieren, der wie ... wie ... beinah wie ein Holzklotz dalag. Wir visitierten ihn vollständig: in den Taschen fand sich kein Groschen, und nicht eine einzige Tasche war ohne Löcher. Inhalt: ein baumwollenes, blaukariertes Taschentuch in unanständigem Zustand; ferner ein Liebesbrief von einem Stubenmädchen, enthaltend Geldforderungen und Drohungen, und Fetzen des Ihnen bekannten Feuilletons. Der General gab sein Urteil dahin ab, daß Keller unschuldig sei. Zum Zweck völliger Vergewisserung weckten wir ihn selbst, was uns nur mit Mühe durch viele Püffe gelang; er begriff nur schwer, um was es sich handelte, und sperrte erstaunt den Mund auf. Das betrunkene Aussehen, der alberne, unschuldige, ja dumme Gesichtsausdruck – er war es nicht gewesen!«

»Nun, da freue ich mich!« rief der Fürst, freudig aufatmend. »Ich hatte schon für ihn gefürchtet!«

»Gefürchtet? Also hatten Sie schon einen Grund dazu?« fragte Lebedjew, die Augen zusammenkneifend.

»O nein, ich redete das nur so hin!« erwiderte der Fürst hastig. »Ich habe mich furchtbar dumm ausgedrückt, wenn ich sagte, ich hätte für ihn gefürchtet. Tun Sie mir den Gefallen, Lebedjew, und sagen Sie das niemandem weiter!«

»Aber Fürst, Fürst! Ihre Worte ruhen in meinem Herzen ... in der Tiefe meines Herzens ... wie in einem Grab!« rief Lebedjew pathetisch und drückte den Hut gegen sein Herz.

»Schon gut, schon gut ... Also dann war es Ferdyschtschenko? Das heißt, ich meine, Sie haben Ferdyschtschenko im Verdacht?«

»Wen sonst?« sagte Lebedjew leise, indem er den Fürsten prüfend ansah.

»Nun ja, selbstverständlich ... wen denn sonst ... das heißt, was haben Sie für Beweise dafür?«

»Beweise habe ich schon. Erstens das Verschwinden um sieben Uhr oder sogar noch vor sieben Uhr morgens.«

»Ich weiß, Kolja hat mir gesagt, daß er zu ihm herangekommen sei und gesagt habe, er gehe weg, um den Rest der Nacht bei seinem Freund zuzubringen ... ich habe den Namen vergessen.«

»Wilkin heißt er. Also Nikolai Ardalionowitsch hat Ihnen das bereits gesagt?«

»Von dem Diebstahl hat er mir nichts gesagt.«

»Davon weiß er auch noch nichts; denn ich habe die Sache bis jetzt geheimgehalten. Also er ist zu Wilkin gegangen; man könnte nun meinen: was ist denn Wunderbares dabei, daß ein Trunkenbold zu einem ebensolchen Trunkenbold, wie er, geht, wenn es auch am frühen Morgen und ohne allen Anlaß geschieht? Aber hier kann man doch eine Spur entdecken: er hat beim Weggehen seine Adresse zurückgelassen ... Achten Sie jetzt wohl auf die Frage, die dabei entsteht, Fürst: warum hat er seine Adresse zurückgelassen ...? Warum geht er zu Nikolai Ardalionowitsch, wozu er einen Umweg machen muß, und teilt ihm mit: ›Ich gehe, um den Rest der Nacht bei Wilkin zuzubringen‹? Wer kann sich denn dafür interessieren, daß er weggeht, und daß er gerade zu Wilkin geht? Was hat es für Zweck, das hier mitzuteilen? Nein, das ist eine Schlauheit, die Schlauheit eines Diebes! Das bedeutet: ›Seht ihr wohl? Ich verberge meine Spuren absichtlich nicht; wie kann ich denn dann ein Dieb sein? Würde etwa ein Dieb Mitteilung davon machen, wohin er geht?‹ Er sucht da mit besonderer Sorgfalt den Verdacht von sich abzulenken und sozusagen seine Spuren im Sand zu verwischen ... Haben Sie mich auch verstanden, hochgeehrter Fürst?«

»Verstanden habe ich Sie; sehr gut habe ich Sie verstanden; aber das reicht doch noch nicht aus.«

»Zweiter Beweis: die Spur erweist sich als gefälscht, und die angegebene Adresse stimmt nicht. Eine Stunde darauf, das heißt um acht Uhr, klopfte ich schon bei Wilkin; er wohnt da in der Pjataja-Straße, und ich bin sogar mit ihm bekannt. Aber da war kein Ferdyschtschenko vorhanden. Zwar erfuhr ich von dem sehr schwerhörigen Dienstmädchen, daß vor einer Stunde tatsächlich jemand geläutet habe, und zwar so stark, daß der Klingelzug abgerissen sei. Aber das Mädchen hatte nicht geöffnet, da sie Herrn Wilkin nicht hatte wecken mögen und vielleicht auch selbst keine Lust gehabt hatte aufzustehen. Das kommt schon vor.«

»Und das sind all Ihre Beweise? Das ist wenig.«

»Aber, Fürst, bedenken Sie: wen könnte man denn sonst noch im Verdacht haben?« erwiderte Lebedjew in gerührtem Ton; aber aus seinem Lächeln schaute eine gewisse Listigkeit heraus.

»Sie sollten noch einmal in allen Zimmern und Schubfächern nachsehen!« sagte der Fürst nach einigem Nachdenken mit sorgenvoller Miene.

»Das habe ich ja getan!« versetzte Lebedjew mit noch größerer Rührung und seufzte dabei.

»Hm ...! Warum mußten Sie auch den Zivilrock mit der Uniform vertauschen?!« rief der Fürst und schlug ärgerlich auf den Tisch.

»Das ist eine Frage aus einem alten Lustspiel. Aber, großmütigster Fürst, Sie nehmen sich mein Unglück zu sehr zu Herzen! Ich bin so vieler Teilnahme gar nicht wert. Das heißt, ich allein würde nicht wert sein, daß Sie sich so beunruhigen; aber Sie leiden ja auch um des Verbrechers willen ... um dieses unbedeutenden Herrn Ferdyschtschenko willen!«

»Nun ja, ja, Sie haben mich wirklich in Unruhe versetzt«, unterbrach ihn der Fürst zerstreut und mißvergnügt. »Also was beabsichtigen Sie denn nun eigentlich zu tun ... wenn Sie so fest davon überzeugt sind, daß es Ferdyschtschenko gewesen ist?«

»Fürst, hochgeehrter Fürst, wer könnte es denn sonst gewesen sein?« erwiderte Lebedjew, mit immer wachsender Rührung sich hin und her windend. »Das Fehlen eines andern, an den man denken könnte, und sozusagen die absolute Unmöglichkeit, auf jemand außer Herrn Ferdyschtschenko Verdacht zu haben, das ist ja sozusagen noch ein Beweis gegen Herrn Ferdyschtschenko, schon der dritte Beweis! Denn ich frage noch einmal: wer könnte es sonst gewesen sein? Ich kann doch nicht Herrn Burdowski verdächtigen, hehehe!«

»Was für ein Unsinn!«

»Oder schließlich den General, hehehe?«

»Was für dummes Zeug!« rief der Fürst, beinah zornig, und drehte sich ungeduldig auf seinem Platz hin und her.

»Natürlich ist das dummes Zeug! Hehehe! Dieser Mensch, ich wollte sagen der General, hat mich ordentlich zum Lachen gebracht! Ich ging mit ihm vorhin auf der warmen Fährte zu Wilkin ... ich muß Ihnen noch bemerken, daß der General noch mehr, wie ich selbst, bestürzt war, als ich nach Entdeckung des Verlusts zuallererst ihn weckte, dermaßen bestürzt, daß er die Farbe wechselte und bald rot, bald blaß wurde und schließlich in eine so empörte, edle Aufregung geriet, wie ich sie in solchem Maß gar nicht von ihm erwartet hatte. Ein höchst edeldenkender Mensch! Er lügt zwar fortwährend, aus Schwäche, ist aber von den erhabensten Gefühlen erfüllt; und dabei ist er ein Mann von geringer geistiger Begabung, der durch seine Harmlosigkeit das größte Vertrauen einflößt. Ich habe Ihnen schon gesagt, hochgeehrter Fürst, daß ich nicht nur eine gewisse Schwäche für ihn habe, sondern ihn sogar liebe. Auf einmal blieb er mitten auf der Straße stehen, knöpfte sich den Rock auf und entblößte seine Brust: ›Visitiere mich!‹ sagte er, ›du hast Keller visitiert; warum visitierst du mich nicht? Das verlangt‹, sagte er, ›die Gerechtigkeit!‹ Dabei zitterten ihm die Arme und die Beine, und er war ganz blaß geworden; ganz grimmig sah er aus. Ich fing an zu lachen und sagte: ›Hör mal, General‹, sagte ich, ›wenn mir ein anderer das von dir sagte, dann würde ich mir gleich auf der Stelle mit eigenen Händen den Kopf abnehmen, ihn auf eine große Schüssel legen und ihn selbst auf der Schüssel zu allen Zweiflern hintragen: Hier, würde ich sagen, seht mal diesen Kopf an; also mit meinem eigenen Kopf hier verbürge ich mich für ihn, und nicht nur den Kopf will ich daransetzen, sondern auch dafür ins Feuer gehen! Siehst du‹, sagte ich, ›in dieser Weise bin ich bereit, mich für dich zu verbürgen!‹ Da umarmte er mich mitten auf der Straße, brach in Tränen aus, fing an zu zittern und drückte mich so fest an seine Brust, daß ich heftig husten mußte. ›Du‹, sagte er, ›bist der einzige Freund, der mir in meinem Unglück geblieben ist!‹ Er ist ein gefühlvoller Mensch! Nun, selbstverständlich erzählte er mir sofort unterwegs eine auf diesen Fall passende Geschichte, wie er ebenfalls, noch als junger Mensch, einmal des Diebstahls von fünfhunderttausend Rubeln verdächtigt worden sei; aber er habe sich gleich am folgenden Tag in die Flammen eines brennenden Hauses gestürzt und den Grafen, der ihn verdächtigt habe, sowie Nina Alexandrowna, die damals noch Mädchen gewesen sei, aus dem Feuer herausgeschleppt. Der Graf habe ihn umarmt, und auf diese Weise sei seine Ehe mit Nina Alexandrowna zustande gekommen; gleich am nächsten Tag aber habe man in den Brandruinen auch die Schatulle mit dem vermißten Geld gefunden; es sei eine eiserne Schatulle gewesen, von englischer Arbeit, mit einem Geheimschloß, und sie sei auf irgendeine Weise unter den Fußboden geraten gewesen, so daß niemand sie habe bemerken können und sie nur durch diese Feuersbrunst wieder zutage gekommen sei. Alles die reine Lüge! Aber als er auf Nina Alexandrowna zu sprechen kam, da schluchzte er sogar. Nina Alexandrowna ist eine höchst edeldenkende Dame, obwohl sie auf mich böse ist.«

»Sind Sie mit ihr bekannt?«

»So gut wie gar nicht; aber ich würde es von ganzem Herzen wünschen, wenn auch nur um mich vor ihr zu rechtfertigen. Nina Alexandrowna ist auf mich schlecht zu sprechen, weil sie meint, ich richte ihren Gatten durch Verführung zum Trinken zugrunde. Aber weit entfernt ihn zu verführen, zähme ich vielmehr diese seine Leidenschaft; ich halte ihn vielleicht von verderblicherer Gesellschaft zurück. Zudem ist er mein Freund, und ich bekenne Ihnen, ich werde ihn jetzt nicht mehr verlassen, das heißt, sogar im allereigentlichsten Sinne: wo er hingeht, da werde ich auch hingehen, weil man nur durch Einwirkung auf seine Gefühle etwas mit ihm anfangen kann. Jetzt besucht er sogar seine Hauptmannsfrau gar nicht mehr, wiewohl es ihn im geheimen zu ihr hinzieht und er sogar manchmal nach ihr stöhnt, namentlich alle Morgen, wenn er aufsteht und sich die Stiefel anzieht; ich weiß nicht, warum gerade zu dieser Zeit. Geld besitzt er nicht, das ist das Malheur; und ohne Geld kann er sich bei dieser Frau nicht blicken lassen. Hat er Sie nicht um Geld gebeten, hochgeehrter Fürst?«

»Nein, das hat er nicht getan.«

»Er schämt sich. Er wollte es schon tun; er hat mir sogar gestanden, daß er Sie mit seiner Bitte belästigen wolle; aber er schämt sich, weil Sie ihm erst unlängst behilflich gewesen sind und er überdies glaubt, Sie würden ihm nichts geben. Er hat mir als seinem Freund sein Herz ausgeschüttet.«

»Und Sie geben ihm kein Geld?«

»Fürst! Hochgeehrter Fürst! Diesem Menschen würde ich nicht nur Geld geben, sondern ich würde für ihn sozusagen sogar mein Leben hingeben ... übrigens nein, ich will nicht übertreiben, das Leben nicht; aber wenn es sich darum handelte, etwa ein Fieber oder ein Geschwür oder sogar einen Husten zu ertragen, so bin ich, weiß Gott, bereit, das zu tun, vorausgesetzt, daß es sehr nötig ist; denn ich halte ihn für einen bedeutenden, aber heruntergekommenen Menschen! So steht es; also es handelt sich nicht nur um Geld!«

»Also Geld geben Sie ihm?«

»N-nein, Geld habe ich ihm nicht gegeben, und er weiß selbst, daß ich ihm keines geben werde; aber das geschieht einzig und allein, um ihn an Enthaltsamkeit zu gewöhnen und ihn zu bessern. Jetzt hat er sich an mich gehängt, um mit mir nach Petersburg zu fahren; ich fahre nämlich nach Petersburg, um Herrn Ferdyschtschenko abzufassen, solange die Fährte noch warm ist; denn ich weiß sicher, daß er schon dort ist. Mein General kocht nur so vor Entrüstung; aber ich vermute, daß er sich in Petersburg von mir wegschleichen wird, um die Hauptmannsfrau zu besuchen. Ich gestehe, ich will ihn sogar absichtlich von mir weggehen lassen, und wir haben auch schon verabredet, bei der Ankunft in Petersburg uns sogleich zu trennen und nach verschiedenen Seiten zu gehen, um Herrn Ferdyschtschenko leichter zu fangen. In dieser Weise werde ich ihn also von mir weggehen lassen und ihn dann plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei der Hauptmannsfrau überraschen ... eigentlich um ihn als Familienvater und, allgemein gesagt, als Menschen zu beschämen.«

»Führen Sie nur keinen Skandal herbei, Lebedjew, um Gottes willen keinen Skandal!« sagte der Fürst halblaut in starker Unruhe.

»O nein, mein Zweck ist ja nur, ihn zu beschämen und zu sehen, was er für ein Gesicht macht; denn aus dem Gesicht kann man auf vieles schließen, hochgeehrter Fürst, und besonders bei einem solchen Menschen! Ach, Fürst! Obgleich mein eigener Schade groß ist, kann ich doch auch jetzt nicht umhin, an ihn und an die Besserung seiner Moral zu denken. Ich habe eine außerordentliche Bitte an Sie, hochgeehrter Fürst; ich bekenne sogar, daß ich eigentlich nur deswegen hergekommen bin: Sie sind schon mit seiner Familie bekannt und haben dort sogar schon gewohnt; wenn also Sie, hochgeehrter Fürst, sich entschließen wollten, mir hierbei zu helfen, eigentlich nur um des Generals und seines Glückes willen ...«

Lebedjew faltete sogar die Hände wie beim Gebet.

»Was meinen Sie denn? Wie soll ich denn helfen? Seien Sie überzeugt, daß ich lebhaft wünsche, Sie ganz zu verstehen, Lebedjew!«

»Einzig und allein in dieser Überzeugung bin ich ja auch zu Ihnen gekommen! Man könnte durch Nina Alexandrowna auf ihn einwirken, indem man Seine Exzellenz im Schoß seiner eigenen Familie beständig beobachtet und ihm sozusagen auf den Fersen bleibt. Ich selbst bin unglücklicherweise dort nicht bekannt ... Und außerdem könnte da auch Nikolai Ardalionowitsch vielleicht mithelfen, der Sie sozusagen mit allen Fibern seiner jungen Seele vergöttert ...«

»N-nein ... Nina Alexandrowna dürfen wir in diese Sache nicht hineinziehen, um Gottes willen nicht! Und Kolja ebensowenig ... Ich verstehe Sie übrigens vielleicht noch nicht ganz, Lebedjew.«

»Aber es ist ja dabei eigentlich gar nichts zu verstehen!« rief Lebedjew und sprang sogar ein wenig auf seinem Stuhl in die Höhe. »Gefühlvolle und zarte Behandlung, das ist die einzige Arznei für unsern Kranken. Sie erlauben mir wohl, Fürst, ihn für einen Kranken anzusehen?« »Das zeugt sogar von Ihrem Zartgefühl und von Ihrem Verstand.«

»Ich möchte es Ihnen durch ein Beispiel klarmachen, das ich der Deutlichkeit wegen aus der Praxis entnehme. Sehen Sie, was das für ein Mensch ist: da hat er nun jetzt eine Schwäche für diese Hauptmannsfrau, bei der er sich ohne Geld nicht blicken lassen darf, und bei der ich ihn heute zu seinem eigenen Besten abzufassen beabsichtige; aber nehmen wir an, er habe nicht nur dieses Verhältnis mit der Hauptmannsfrau, sondern er begehe ein wirkliches Verbrechen, irgendeine unehrenhafte Handlung (wiewohl er einer solchen durchaus nicht fähig ist), so behaupte ich, man könnte auch dann einzig und allein durch edelmütige, zarte Behandlung, um mich so auszudrücken, bei ihm alles erreichen; denn er ist ein gefühlvoller Mensch! Glauben Sie mir, er würde es nicht fünf Tage lang aushalten, sondern in Tränen ausbrechen und alles bekennen, und besonders wenn die Familie und Sie sozusagen sein ganzes Mienenspiel, seine sämtlichen Äußerungen beobachten und in geschickter, edelmütiger Weise auf ihn einwirken ... Oh, hochgeehrter Fürst!« rief Lebedjew und sprang in einer Art von Begeisterung vom Stuhl auf; »ich behaupte ja gar nicht, daß er es bestimmt gewesen sei ... Ich bin sogar bereit, mein ganzes Blut für ihn zu vergießen, auf der Stelle, wiewohl Sie zugeben müssen, daß Unenthaltsamkeit und Trunksucht und eine Hauptmannsfrau, alles zusammengenommen, einen Menschen zu allem Möglichen bringen können.«

»Solche Absichten bin ich natürlich jederzeit bereit zu fördern«, erwiderte der Fürst, indem er aufstand. »Aber ich bekenne Ihnen, Lebedjew, daß ich mich in furchtbarer Unruhe befinde. Sagen Sie, Sie glauben doch immer noch ... kurz, Sie sagen ja selbst, daß Sie Herrn Ferdyschtschenko im Verdacht haben.«

»Aber wen denn auch sonst? Wen denn sonst, offenherzigster Fürst?« antwortete Lebedjew, indem er wieder gerührt die Hände faltete und milde lächelte.

Der Fürst machte ein finsteres Gesicht.

»Sehen Sie, Lukjan Timofejewitsch, ein Irrtum könnte hier die schrecklichsten Folgen haben. Dieser Ferdyschtschenko ... ich möchte nichts Schlechtes von ihm sagen ... aber dieser Ferdyschtschenko ... ich meine, wer weiß, vielleicht ist er es doch gewesen ...! Ich will sagen, vielleicht ist er wirklich einer solchen Tat eher fähig als ... als der andere.«
Lebedjew kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren.

»Sehen Sie«, fuhr der Fürst fort, der immer mehr in Verwirrung geriet und dessen Gesicht immer finsterer wurde, während er im Zimmer auf und ab ging und es dabei vermied, Lebedjew anzusehen, »man hat mir zu verstehen gegeben ... es hat mir jemand von Herrn Ferdyschtschenko gesagt, er sei, von allem anderen abgesehen, ein Mensch, in dessen Gegenwart man sich in acht nehmen müsse und nichts Überflüssiges reden dürfe; verstehen Sie? Ich sage das mit Bezug auf meine Bemerkung, daß er vielleicht wirklich einer solchen Tat eher fähig sei als der andere ... damit wir uns nicht irren ... das ist doch die Hauptsache; Sie verstehen wohl?«

»Aber wer hat Ihnen das über Herrn Ferdyschtschenko mitgeteilt?« fragte Lebedjew eifrig.

»Ich habe es zufällig gehört; es hat es mir jemand zugeflüstert; übrigens glaube ich es selbst nicht ... es ist mir sehr ärgerlich, daß ich genötigt war, es zu erwähnen; aber ich versichere Ihnen, ich glaube es selbst nicht ... es ist ein törichtes Gerede ... Pfui, wie dumm von mir, es nachzusprechen!«

»Sehen Sie, Fürst«, sagte Lebedjew und zitterte dabei am ganzen Leib, »das ist wichtig, das ist jetzt sehr wichtig, ich meine die Art, wie diese Beurteilung zu Ihrer Kenntnis gelangt ist; das ist wichtig, wenn auch nicht in bezug auf Herrn Ferdyschtschenko.« (Während Lebedjew das sagte, lief er hinter dem Fürsten her auf und ab und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten.) »Da möchte auch ich Ihnen jetzt etwas mitteilen, Fürst: als ich vorhin mit dem General zu diesem Wilkin ging, da fing er, nachdem er mir schon die Geschichte von der Feuersbrunst erzählt hatte, auf einmal in höchster sittlicher Entrüstung an, mir ganz ebensolche Andeutungen über Herrn Ferdyschtschenko zu machen, aber in einer so ungereimten, einfältigen Manier, daß ich unwillkürlich ein paar Fragen darüber an ihn richtete und infolgedessen zu der bestimmten Überzeugung kam, daß diese ganze Beurteilung lediglich aus dem Gehirn Seiner Exzellenz stammte. Eigentlich war sie sozusagen ein Ausfluß seiner Herzensgüte. Denn er lügt einzig und allein, weil er seiner Rührung nicht Herr zu werden vermag. Nun belieben Sie zu erwägen: wenn er das erlogen hat (und davon bin ich überzeugt), wie ist es dann zugegangen, daß auch Sie davon gehört haben? Wohlgemerkt, Fürst, es war das nur eine momentane Eingebung; wer in aller Welt hat es Ihnen also mitgeteilt? Das ist wichtig, das ... das ist sehr wichtig und ... sozusagen ...«

»Ich habe es soeben von Kolja gehört, und ihm hatte es kurz vorher sein Vater gesagt, den er um sechs Uhr oder bald darauf auf dem Flur traf, als er zu irgendeinem Zweck aus dem Krankenzimmer herausgegangen war.« Und der Fürst erzählte alles eingehend.

»Nun, sehen Sie, das ist, was man eine Spur nennt!« sagte Lebedjew, sich die Hände reibend und leise lachend. »Ganz so hatte ich es mir auch gedacht! Das bedeutet, daß Seine Exzellenz seinen unschuldigen Schlaf gegen sechs Uhr unterbrochen hat, um zu seinem geliebten Sohn hinzugehen, ihn aufzuwecken und ihm mitzuteilen, wie außerordentlich gefährlich Herrn Ferdyschtschenkos Nachbarschaft sei! Was muß, danach zu urteilen, Herr Ferdyschtschenko für ein gefährlicher Mensch sein, und wie groß die väterliche Besorgnis Seiner Exzellenz, hehehe ...!«

»Hören Sie, Lebedjew«, sagte der Fürst, der äußerst verlegen geworden war, »hören Sie, gehen Sie sachte zu Werk! Führen Sie keinen Skandal herbei! Ich bitte Sie, Lebedjew, ich beschwöre Sie ...! Wenn Sie das tun, dann verspreche ich, Ihnen behilflich zu sein; aber niemand darf davon wissen, niemand darf davon wissen!«

»Seien Sie überzeugt, großmütigster, offenherzigster und edelster Fürst«, rief Lebedjew geradezu begeistert, »seien Sie überzeugt, daß all dies in meinem edelgesinnten Herzen tot und begraben sein wird! Lassen Sie uns mit leisen Schritten gemeinsam vorgehen! Mit leisen Schritten und gemeinsam! Ich meinerseits bin sogar bereit, mein ganzes Blut ... Durchlauchtigster Fürst, ich bin an Seele und Geist ein gemeiner Mensch; aber fragen Sie einen jeden, selbst einen Schurken, nicht nur einen gemeinen Menschen, mit wem er lieber zu tun haben mag, ob mit einem ebensolchen Schurken, wie er, oder mit einem so überaus edeldenkenden Menschen, wie Sie, offenherzigster Fürst. Er wird Ihnen antworten: ›Mit einem so überaus edeldenkenden Menschen‹, und das wird ein Triumph der Tugend sein! Auf Wiedersehen, hochgeehrter Fürst! Mit leisen Schritten ... mit leisen Schritten und ... gemeinsam.«

X

Endlich hatte der Fürst verstanden, warum ihn jedesmal ein kalter Schauer überlief, wenn er diese drei Briefe anrührte, und warum er deren Lektüre bis zum Abend verschob. Als er noch am Vormittag, ohne daß er sich hätte dazu entschließen können, aus einem dieser drei Kuverts einen Brief herauszunehmen, auf seiner Chaiselongue in einem schweren Schlaf gesunken war, da hatte er wieder einen beängstigenden Traum, und es kam wieder dieselbe »Verbrecherin« zu ihm. Sie sah ihn wieder mit Augen an, in deren langen Wimpern Tränen funkelten, und rief ihn wieder zu sich, und als er erwachte, erinnerte er sich wieder wie bei jenem früheren Traum an ihr Gesicht. Er wollte schon sofort zu ihr gehen; aber er vermochte es nicht; endlich, fast in Verzweiflung, entfaltete er die Briefe und begann sie zu lesen. Diese Briefe hatten ebenfalls Ähnlichkeit mit einem Traum. Manchmal träumen wir seltsame Dinge, unmögliche, unnatürliche Dinge; wenn wir aufgewacht sind, erinnern wir uns deutlich an das Geträumte und wundern uns über diese merkwürdige Tatsache. Wir erinnern uns vor allem daran, daß der Verstand während der ganzen Dauer des Traums seine Tätigkeit nicht eingestellt hat; wir erinnern uns sogar, daß wir außerordentlich listig und klug in der langen, langen Zeit verfahren sind, als uns die Mörder umringten, als sie uns zu überlisten suchten, ihre Absicht verbargen, sich gegen uns freundschaftlich benahmen, während sie doch schon die Waffe bereit hielten und nur auf ein Zeichen warteten; wir erinnern uns, wie listig wir sie endlich täuschten und uns vor ihnen versteckten; wie wir aber dann merkten, daß sie diese ganze Täuschung durchschauten und sich nur stellten, als ob sie nicht wüßten, wo wir uns versteckt hätten; wie wir sie aber von neuem listig betrogen; an all das erinnern wir uns deutlich. Aber warum konnte denn unser Verstand sich gleichzeitig mit all den augenscheinlichen Absurditäten und Unmöglichkeiten abfinden, mit denen neben andern Dingen der Traum angefüllt war? Einer der Mörder verwandelte sich vor unseren Augen in eine Frau und aus der Frau in einen kleinen, listigen, häßlichen Zwerg, und wir nahmen all dies ohne weiteres als vollendete Tatsache hin, fast ohne die geringste Verwunderung, und zwar gerade zu der Zeit, wo auf der andern Seite unser Verstand auf das angestrengteste arbeitete und eine außerordentliche Stärke, Schlauheit, Fassungskraft und Logik bewies. Und ferner, warum fühlen wir, wenn wir von einem Traum aufwachen und schon wieder ganz in die Wirklichkeit zurückkehren, fast jedesmal und manchmal mit außerordentlicher Stärke dieser Empfindung, daß wir zugleich mit dem Traum etwas hinter uns lassen, was uns rätselhaft ist? Wir lächeln über die Absurdität unseres Traumes und fühlen gleichzeitig, daß in dem Geflecht dieser Absurditäten ein Gedanke enthalten ist, aber ein wirklicher Gedanke, etwas, was zu unserem wirklichen Leben gehört, etwas, was in unserem Herzen existiert und immer darin existiert hat; unser Traum hat uns gewissermaßen etwas Neues, Prophetisches, von uns Erwartetes gesagt; der davon empfangene Eindruck ist ein starker, je nachdem ein freudiger oder peinlicher; aber worin er besteht, und was uns eigentlich gesagt worden ist, das können wir nicht begreifen, und daran können wir uns nicht erinnern.

Fast dasselbe fand nach der Lektüre dieser Briefe statt. Aber noch ehe der Fürst sie entfaltet hatte, hatte er gemerkt, daß schon die bloße Tatsache ihrer Existenz, die Möglichkeit ihrer Existenz auf ihn eine ähnliche Wirkung ausübte wie ein bedrückender Traum. Wie hatte sie sich dazu entschließen können, an sie zu schreiben? fragte er sich immer wieder, als er am Abend allein umherirrte (er wußte mitunter selbst nicht, wo er ging). Wie hatte sie das schreiben können, und wie hatte ein so sinnloser Gedanke in ihrem Kopf entstehen können? Aber dieser sinnlose Gedanke hatte bereits Gestalt gewonnen, und das Verwunderlichste war für ihn, daß er während der Lektüre dieser Briefe beinahe selbst an die Möglichkeit und sogar an die Berechtigung dieses Gedankens glaubte. Ja gewiß, das war ein beängstigender Traum, ein Wahnsinn; aber es lag darin doch auch ein wahrhaftes Leid, ein echtes Märtyrertum, wodurch der beängstigende Traum und der Wahnsinn gerechtfertigt wurden. Mehrere Stunden hintereinander erging er sich in wirren Gedanken über das Gelesene, erinnerte sich alle Augenblicke an einzelne Bruchstücke, verweilte bei ihnen und dachte über sie nach. Manchmal hatte er sogar die Vorstellung, als habe er das alles schon früher geahnt und vorausgefühlt; es kam ihm sogar so vor, als habe er das alles bereits einmal vor langer, langer Zeit gelesen, und als sei alles, wonach er sich seitdem gesehnt, alles, womit er sich gequält und was er gefürchtet habe, in diesen längst schon von ihm gelesenen Briefen enthalten.

»Wenn Sie diesen Brief öffnen«, so begann das erste Schreiben, »werden Sie zuallererst nach der Unterschrift blicken. Die Unterschrift wird Ihnen alles sagen und erklären, so daß ich nichts vor Ihnen zu rechtfertigen und Ihnen nichts zu erklären brauche. Wäre ich auch nur einigermaßen Ihresgleichen, so könnten Sie sich durch eine solche Dreistigkeit beleidigt fühlen; aber wer bin ich, und wer sind Sie? Wir beide sind solche Gegensätze, und ich bin in Ihren Augen etwas so Ungewöhnliches, daß ich Sie in keiner Weise beleidigen kann, selbst wenn ich es wollte.«
Ferner schrieb sie an einer andern Stelle:

»Halten Sie meine Worte nicht für den verzückten Ausbruch eines kranken Gehirns; aber Sie sind für mich die Vollkommenheit selbst! Ich habe Sie gesehen; ich sehe Sie täglich. Ich gebe ja kein Urteil über Sie ab; ich bin nicht durch die Urteilskraft dazu gelangt, Sie für die Vollkommenheit selbst zu halten, sondern einfach durch den Glauben. Aber ich habe Ihnen gegenüber auch eine Sünde begangen: ich liebe Sie. Die Vollkommenheit kann man ja nicht lieben; die Vollkommenheit kann man eben nur als solche anschauen, nicht wahr? Und doch habe ich mich in Sie verliebt. Zwar macht die Liebe die Menschen gleich; aber Sie brauchen sich trotzdem nicht zu beunruhigen; ich stelle Sie nicht mit mir auf gleiche Stufe, nicht einmal in meinen geheimsten Gedanken. Ich habe Ihnen geschrieben: ›Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen‹; als ob Sie sich überhaupt beunruhigen könnten ...! Wenn ich könnte, würde ich Ihre Fußspuren küssen. Oh, ich stelle mich Ihnen nicht gleich ... Sehen Sie nach der Unterschrift; sehen Sie schnell nach der Unterschrift!«

»Ich merke aber«, schrieb sie in einem andern Brief, »daß ich Sie mit ihm vereinigen möchte und noch kein einziges Mal gefragt habe, ob Sie ihn auch lieben. Er hat Sie liebgewonnen, obgleich er Sie nur ein einziges Mal gesehen hat. Er hat sich Ihrer wie einer Lichtgestalt erinnert; das sind seine eigenen Worte; ich habe sie von ihm gehört. Aber auch ohne Worte ist es mir klargeworden, daß Sie für ihn eine Lichtgestalt sind. Ich habe einen ganzen Monat lang neben ihm gelebt und bin dabei zu der Überzeugung gekommen, daß auch Sie ihn lieben; Sie und er sind für mich eins.«

»Wie ist es damit?« schrieb sie an einer andern Stelle dieses Briefes. »Gestern ging ich an Ihnen vorbei, und es war mir, als ob Sie erröteten. Aber das ist unmöglich; das kann mir nur so vorgekommen sein. Und brächte man Sie in die schmutzigste Lasterhöhle und zeigte Ihnen dort die nackte Sünde, so dürften Sie doch nicht erröten; Sie können schlechterdings nicht über eine Beleidigung entrüstet sein. Sie können alle gemeinen, unwürdigen Menschen hassen, aber nicht um ihrer Eigenschaften willen, sondern aus Teilnahme für diejenigen, denen sie Kränkungen zufügen. Ihnen aber, Ihnen kann niemand eine Kränkung zufügen. Wissen Sie, ich meine, Sie müßten mich sogar lieben. Für mich sind Sie dasselbe wie für ihn: eine hehre Lichtgestalt; ein Engel aber kann nicht hassen; er kann gar nicht anders als lieben. Kann man alle lieben, alle Menschen, all seine Nächsten? Ich habe mir diese Frage oft vorgelegt. Gewiß nicht; das ist sogar unnatürlich. In der abstrakten Liebe zur Menschheit liebt man fast immer nur sich selbst. Aber wenn dies auch uns unmöglich ist, so sind Sie doch ein anderes Wesen: wie könnten Sie jemand nicht lieben, da Sie sich mit niemand auf eine Stufe stellen können, und da Sie über alle Kränkungen und über alle persönliche Entrüstung erhaben sind? Sie allein können ohne Egoismus lieben; Sie allein können nicht um Ihrer selbst willen lieben, sondern um desjenigen willen, den Sie lieben. O wie schmerzlich würde es mir sein, zu erfahren, daß Sie um meinetwillen Scham oder Zorn empfänden! Das wäre Ihr Untergang: damit stellten Sie sich auf einmal mir gleich ...

Nachdem ich Ihnen gestern begegnet und nach Hause gekommen war, dachte ich mir ein Gemälde aus. Die Maler stellen Christus immer der biblischen Tradition gemäß dar; ich würde ihn anders malen: ich würde ihn allein darstellen; seine Jünger haben ihn ja auch manchmal allein gelassen. Ich würde nur ein kleines Kind bei ihm lassen. Das Kind hat neben ihm gespielt, ihm vielleicht etwas in seiner kindlichen Sprache erzählt; Christus hat ihm zugehört; aber jetzt ist er in seine Gedanken versunken; seine Hand ist unwillkürlich, in Selbstvergessenheit, auf dem blonden Köpfchen des Kindes liegengeblieben. Er blickt in die Ferne, nach dem Horizont; ein ruhiger Gedanke, groß wie die Welt, liegt in seinem Blick; sein Gesicht ist traurig. Das Kind ist verstummt; es hat seinen Ellbogen auf das Knie des Heilandes gesetzt, die eine Wange in die Hand gestützt, das Köpfchen aufgehoben und schaut ihn nun unverwandt nachdenklich an, in der Art wie Kinder manchmal nachdenklich sind ... Das ist mein Bild! Sie sind unschuldig, und in Ihrer Unschuld liegt Ihre ganze Vollkommenheit. Oh, vergessen Sie das nicht! Was geht Sie die Leidenschaft an, die ich für Sie empfinde? Sie gehören schon jetzt mir; ich werde mein ganzes Leben lang um Sie sein ... Aber ich werde bald sterben.«

Im letzten Brief endlich hieß es:

»Beurteilen Sie mich nur um Gottes willen nicht falsch; glauben Sie nicht etwa, daß ich mich geflissentlich selbst herabsetze, wenn ich so an Sie schreibe, oder daß ich zu denjenigen Wesen gehöre, denen es ein Genuß ist, sich herabzusetzen, wenn es auch aus Stolz geschieht. Nein, ich habe meinen Trost für mich; aber es wird mir schwer, Ihnen das zu erklären. Es würde mir sogar schwer werden, das mir selbst deutlich zu sagen, obwohl ich mich damit quäle. Aber ich weiß, daß bei mir die Möglichkeit ausgeschlossen ist, ein Anfall von Stolz könnte mich veranlassen, mich selbst herabzusetzen. Und einer Selbstherabsetzung aus Herzensreinheit bin ich gleichfalls unfähig. Folglich ist eine Selbstherabsetzung bei mir überhaupt unmöglich.

Warum will ich Sie beide vereinigen: um meinetwillen oder um Ihretwillen? Natürlich um meinetwillen; darin finde ich meine ganze Absolution; das habe ich mir längst gesagt ... Ich habe gehört, daß Ihre Schwester Adelaida damals von meinem Porträt gesagt hat, mit einer solchen Schönheit könne man die Welt umdrehen. Aber ich habe der Welt entsagt. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, daß ich so rede, da Sie mich, mit Spitzen und Brillanten angetan, in der Gesellschaft von Trunkenbolden und Taugenichtsen sehen. Aber danach dürfen Sie nicht urteilen; ich existiere kaum noch und weiß das; weiß Gott, was an meiner Statt in mir lebt. Ich lese das täglich in den beiden furchtbaren Augen, die mich beständig ansehen, selbst wenn sie nicht leiblich zugegen sind. Diese Augen schweigen jetzt (sie schweigen immer); aber ich kenne ihr Geheimnis. Ich bin überzeugt, daß bei ihm zu Hause in einer Schublade ein Rasiermesser versteckt liegt, mit Seide umwickelt, so daß es feststeht, wie bei jenem Moskauer Mörder; dieser hat ebenfalls mit seiner Mutter in ein und demselben Haus gewohnt und ebenfalls ein Rasiermesser mit Seide umwickelt gehabt, um jemandem die Kehle durchzuschneiden. Die ganze Zeit über, während ich bei ihnen in ihrem Haus wohnte, hatte ich immer die Empfindung, als ob irgendwo unter dem Dielenbelag ein vielleicht schon von seinem Vater versteckter Leichnam liege, in Wachstuch eingewickelt wie jener Moskauer Leichnam und ebenfalls rings von Gefäßen mit Schdanowscher Flüssigkeit umgeben; ich könnte Ihnen sogar die betreffende Ecke zeigen. Er schweigt immer; aber ich weiß ja, daß er mich dermaßen liebt, daß er schon nicht anders kann, als mich hassen. Ihre Hochzeit und die meinige sollen zu gleicher Zeit stattfinden; so habe ich es mit ihm bestimmt. Ich habe vor ihm keine Geheimnisse. Ich könnte ihn vor Angst töten ... Aber er wird mich vorher töten ... Er lachte soeben auf und sagte, ich schriebe irres Zeug; er weiß, daß ich an Sie schreibe.«

Und dergleichen irres Gerede stand noch vieles, vieles in diesen Briefen. Einer von ihnen, der zweite, füllte zwei eng beschriebene Briefbogen großen Formats.

Der Fürst verließ endlich den dunklen Park, in dem er wieder wie gestern lange umhergeirrt war. Die helle Nacht, in der man alles erkennen konnte, schien ihm noch heller als gewöhnlich. »Ob es denn noch so früh ist?« dachte er. (Er hatte vergessen seine Uhr mitzunehmen.) Er glaubte von irgendwoher in der Ferne Musik zu hören; »wahrscheinlich beim Bahnhof«, dachte er wieder. »Sie werden heute gewiß nicht dort sein.« Während er das überlegte, sah er, daß er gerade dicht bei ihrem Landhaus stand; er hatte es ordentlich vorhergewußt, daß er unbedingt schließlich hierher geraten werde, und stieg mit stockendem Herzschlag zur Veranda hinauf. Es kam ihm niemand entgegen; die Veranda war leer. Er wartete einen Augenblick und öffnete dann die Tür zum Saal. »Diese Tür pflegten sie nie zu verschließen«, dachte er flüchtig; aber auch der Saal war leer; in ihm war es fast ganz dunkel. Unschlüssig blieb er mitten im Zimmer stehen. Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Alexandra Iwanowna kam mit einem Licht in der Hand herein. Als sie den Fürsten erblickte, war sie erstaunt und blieb wie fragend vor ihm stehen. Offenbar hatte sie nur durch das Zimmer hindurchgehen wollen, von einer Tür zur andern, und nicht im entferntesten erwartet, jemanden dort zu treffen.

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie endlich.

»Ich ... bin nur so hergekommen ...«

»Mama ist nicht ganz wohl, Aglaja ebenfalls. Adelaida ist dabei, sich schlafen zu legen, und ich wollte es auch tun. Wir haben heute den ganzen Abend allein zu Hause gesessen. Papa und der Fürst sind in Petersburg.«

»Ich wollte ... ich wollte Ihnen jetzt ... einen Besuch machen ...«

»Wissen Sie, was die Uhr ist?«

»N-nein ...«

»Halb eins. Wir legen uns immer um ein Uhr schlafen.«

»Ach, ich dachte ..., es wäre halb zehn.«

»Nun, es macht nichts!« antwortete sie lachend. »Aber warum sind Sie nicht vorhin gekommen? Sie wurden vielleicht sogar erwartet.«

»Ich dachte ...«, stotterte er und ging wieder fort.

»Auf Wiedersehen! Morgen werde ich sie alle durch diese Geschichte zum Lachen bringen.«

Er schritt auf dem Weg, der sich um den Park herumzog, seinem Landhaus zu. Das Herz pochte ihm heftig; seine Gedanken waren in arger Verwirrung, und alles um ihn herum glich gewissermaßen einem Traum. Und plötzlich stand ganz wie vor kurzem, wo er zweimal bei derselben Traumvision erwacht war, diese Vision wieder vor ihm. Dieselbe Frau trat aus dem Park heraus und blieb vor ihm stehen, als ob sie hier auf ihn gewartet hätte. Er fuhr zusammen und machte halt; sie ergriff seine Hand und drückte sie kräftig. »Nein«, sagte er sich, »das ist kein Traumbild!« So stand sie denn endlich zum erstenmal seit ihrer Trennung Gesicht gegen Gesicht vor ihm; sie sagte etwas zu ihm; aber er blickte sie nur schweigend an; sein Herz war zu voll und schmerzte ihn heftig. Oh, nie konnte er in der Folgezeit diese Begegnung mit ihr vergessen und erinnerte sich ihrer immer mit gleichem Schmerz. Sie kniete mitten auf dem Weg wie eine Wahnsinnige vor ihm nieder; erschrocken trat er zurück; aber sie erhaschte seine Hand, um sie zu küssen, und ganz ebenso wie am Morgen im Traum glänzten jetzt Tränen an ihren langen Wimpern.

»Steh auf, steh auf!« flüsterte er erschrocken und versuchte, sie aufzuheben. »Steh schnell auf!«

»Bist du glücklich? Bist du glücklich?« fragte sie. »Sag mir nur ein Wort: bist du jetzt glücklich? Heute, in diesem Augenblick? Bist du bei ihr gewesen? Was hat sie gesagt?«

Sie stand nicht auf und hörte nicht auf ihn; sie stellte ihre Fragen hastig und redete schnell, wie wenn Verfolger hinter ihr her wären.

»Ich verreise morgen, wie du befohlen hast. Ich werde nicht ... Ich sehe dich zum letztenmal, zum letztenmal! Jetzt zum allerletztenmal!«

»Beruhige dich doch, steh auf!« sagte er in heller Verzweiflung.

Sie faßte seine beiden Hände und sog sich mit den Augen an seinem Gesicht fest.

»Lebe wohl!« sagte sie endlich, stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten, fast laufend, von ihm. Der Fürst sah, daß auf einmal Rogoschin neben ihr erschien, ihr seinen Arm gab und sie wegführte.

»Warte ein bißchen, Fürst!« rief Rogoschin. »Ich komme in fünf Minuten noch für einen Augenblick zurück.«

In fünf Minuten kam er wirklich; der Fürst hatte ihn auf demselben Fleck erwartet.

»Ich habe ihr in den Wagen geholfen«, sagte er. »Er hat seit zehn Uhr dort an der Ecke gewartet. Sie schien ordentlich vorauszuwissen, daß du den ganzen Abend bei diesem jungen Mädchen zubringen würdest. Was du mir neulich geschrieben hast, habe ich ihr ganz genau mitgeteilt. Sie wird an das junge Mädchen nicht mehr schreiben; sie hat es versprochen; auch wird sie deinem Wunsch gemäß morgen von hier wegreisen. Sie wollte dich noch zum letztenmal sehen, obwohl du es ihr abgeschlagen hattest. Da haben wir hier an dieser Stelle auf deine Rückkehr gewartet; dort auf der Bank haben wir gesessen.«

»Hat sie selbst gewünscht, daß du mitkommen möchtest?«

»Jawohl, jawohl!« erwiderte Rogoschin, den Mund zum Lächeln verziehend. »Ich habe nur gesehen, was ich vorher wußte. Die Briefe hast du doch wohl gelesen?«

»Hast du sie denn wirklich gelesen?« fragte der Fürst, von diesem Gedanken überrascht.

»Und ob! Sie hat mir jeden Brief selbst gezeigt. Erinnerst du dich an die Stelle mit dem Rasiermesser? Hehe!«

»Sie ist wahnsinnig!« rief der Fürst händeringend.

»Wer weiß; vielleicht auch nicht!« sagte Rogoschin leise, wie wenn er nur mit sich selbst spräche.

Der Fürst antwortete nicht.

»Nun leb wohl!« sagte Rogoschin. »Ich verreise ja morgen ebenfalls; gedenke meiner nicht im Bösen! Aber warum, Bruder«, fügte er, sich schnell noch einmal umwendend, hinzu, »warum hast du ihr auf ihre Frage, ob du glücklich seist oder nicht, keine Antwort gegeben?«

»Nein, ich bin es nicht, nein, nein!« rief der Fürst in grenzenlosem Schmerz.

»Das hätte auch noch gefehlt, daß du ja sagtest!« versetzte Rogoschin mit boshaftem Lachen und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen.

Vierter Teil