Es war gegen Ende des November, bei Tauwetter, als sich um neun Uhr morgens ein Zug der Petersburg-Warschauer Bahn mit vollem Dampf Petersburg näherte. Das Wetter war so feucht und neblig, daß das Tageslicht kaum zur Geltung kam; auf zehn Schritte konnte man rechts und links von der Bahn aus den Fenstern der Waggons nur mit Mühe etwas erkennen. Unter den Passagieren waren einige, die aus dem Ausland zurückkehrten; am meisten gefüllt waren aber die Abteile dritter Klasse, und zwar fast ausschließlich mit kleinen Geschäftsleuten, die nicht aus sehr weiter Entfernung kamen. Alle waren, wie das so zu sein pflegt, müde; allen waren während der Nacht die Augenlider schwer geworden, alle fröstelten, alle Gesichter waren gelblich, von derselben Farbe wie der Nebel.
In einem Waggon dritter Klasse saßen einander seit dem Morgengrauen dicht am Fenster zwei Passagiere gegenüber: beides junge Leute, beide fast ohne Gepäck, beide nicht elegant gekleidet, beide mit recht interessanten Gesichtern und beide von dem Wunsch erfüllt, endlich miteinander in ein Gespräch zu kommen. Wenn sie beide voneinander gewußt hätten, wodurch sie gerade in diesem Augenblick interessant waren, so hätten sie sich gewiß darüber gewundert, daß der Zufall sie so seltsam in einem Waggon dritter Klasse der Petersburg-Warschauer Eisenbahn einander gegenübergesetzt hatte. Der eine von ihnen war von kleiner Statur, etwa siebenundzwanzig Jahre alt und hatte krauses, fast schwarzes Haar und kleine, graue, aber feurige Augen. Seine Nase war breit und plattgedrückt; die Backenknochen traten stark hervor; die schmalen Lippen verzogen sich fortwährend zu einem dreisten, spöttischen und sogar boshaften Lächeln; aber seine Stirn war hoch und gut geformt und verschönte den unvornehm geschnittenen unteren Teil des Gesichts. Besonders auffällig war an diesem Gesicht seine Totenblässe, die der ganzen Physiognomie des jungen Mannes trotz seiner ziemlich kräftigen Konstitution den Anschein der Erschöpfung verlieh und zugleich den Anschein einer peinvollen Leidenschaftlichkeit, die mit seinem frechen, unhöflichen Lächeln und seinem scharfen, selbstzufriedenen Blick nicht recht im Einklang stand. Er war warm gekleidet, indem er einen weiten, schwarzen, mit Tuch überzogenen Pelz aus Lammfell trug, und hatte in der Nacht nicht gefroren, während sein Reisegefährte an seinem frostzitternden Rücken die ganze Annehmlichkeit einer feuchten russischen Novembernacht hatte aushalten müssen, auf die er offenbar nicht hinreichend vorbereitet war. Er trug einen ziemlich weiten, dicken Mantel ohne Ärmel und mit einer gewaltigen Kapuze, von der Art, wie man sie oft auf Reisen zur Winterzeit irgendwo im fernen Ausland benutzt, zum Beispiel in der Schweiz oder in Oberitalien, wo man dabei natürlich auch nicht auf so weite Fahrten rechnet wie die von Eydtkuhnen nach Petersburg. Aber was in Italien taugte und völlig ausreichte, erwies sich in Rußland als ganz untauglich. Der Eigentümer des Mantels mit der Kapuze war ein junger Mensch, der gleichfalls im Alter von etwa sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren stand, etwas über Mittelgröße, mit sehr hellblondem, dichtem Haar, hohlen Backen und einem kleinen, spitzen, fast ganz weißen Bärtchen. Seine Augen waren groß, blau und ruhig; in ihrem Blick lag etwas Stilles, aber Bedrücktes, etwas von jenem eigentümlichen Ausdruck, an dem manche auf den ersten Blick erraten, daß der Betreffende Epileptiker ist. Das Gesicht des jungen Mannes war übrigens angenehm, mit feinen Zügen und nicht zu fleischig, aber farblos, nur daß es augenblicklich geradezu blaugefroren war. An seinen Händen baumelte ein schmächtiges Bündelchen, das in einem alten, verblichenen, seidenen Tuch, wie es schien, sein ganzes Reisegepäck enthielt. An den Füßen hatte er dicksohlige Schuhe mit Gamaschen – alles in nicht-russischer Art. Sein schwarzhaariger Reisegenosse in dem tuchüberzogenen Pelz musterte dies alles genau, zum Teil, weil er nichts anderes zu tun hatte, und fragte schließlich mit jenem taktlosen Lächeln, durch welches manchmal in so ungenierter, geringschätziger Weise das Vergnügen der Leute über das Mißgeschick des Nächsten zum Ausdruck kommt:
»Ist Ihnen kalt?«
Er machte dabei Bewegungen mit den Schultern.
»Ja, sehr kalt«, antwortete der Reisegenosse mit großer Bereitwilligkeit; »und, sehen Sie, dabei haben wir noch Tauwetter. Wie wäre es erst, wenn wir Kälte hätten? Ich hatte gar nicht gedacht, daß es bei uns so kalt wäre. Ich bin es nicht mehr gewohnt.«
»Sie kommen wohl aus dem Ausland?«
»Ja, aus der Schweiz.«
»Fuet! Nun sehen Sie einmal an!«
Der Schwarzhaarige tat einen Pfiff und lachte.
Es kam ein Gespräch in Gang. Die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes im Schweizermantel, auf alle Fragen seines schwarzhaarigen Gefährten zu antworten, war erstaunlich; er merkte in seiner Harmlosigkeit offenbar gar nicht, daß manche dieser Fragen sehr geringschätzig klangen und höchst unpassend und müßig waren. Bei seinen Antworten teilte er unter anderem mit, daß er tatsächlich lange Zeit nicht in Rußland gewesen sei, über vier Jahre; man habe ihn wegen einer Krankheit ins Ausland geschickt, wegen einer eigentümlichen Nervenkrankheit nach Art der Epilepsie oder des Veitstanzes, die sich in Zuckungen und Krämpfen geäußert habe. Der schwarzhaarige junge Mann lächelte beim Zuhören einige Male; namentlich lachte er auf, als auf die Frage:
»Na, sind Sie denn nun geheilt?« der Blonde erwiderte:
»Nein, geheilt bin ich nicht«.
»Haha! Da haben Sie also Ihr Geld vergebens bezahlt; und wir hier schenken jenen Leuten Vertrauen!« bemerkte der Schwarzhaarige spöttisch.
»Ja, das ist durchaus richtig!« mischte sich in das Gespräch ein daneben sitzender, schlecht gekleideter Herr, so eine Art von geriebenem Amtsschreiber, etwa vierzig Jahre alt, kräftig gebaut, mit roter Nase und einem Gesicht voller Pickel. »Das ist durchaus richtig; sie saugen uns Russen das Mark aus, ohne selbst etwas dafür zu leisten!«
»Oh, wie Sie sich in meinem Falle irren!« erwiderte der Schweizer Patient in ruhigem, versöhnlichem Ton. »Ich kann ja allerdings nicht darüber disputieren, weil ich keinen Gesamtüberblick habe; aber mein Arzt hat mir von dem wenigen, was er besaß, noch das Geld für die Fahrt hierher gegeben, und fast zwei Jahre lang hat er mich dort aus seinen eigenen Mitteln unterhalten.«
»Wie? Hatten Sie wirklich niemand, der für Sie bezahlte?« fragte der Schwarzhaarige.
»Nein. Herr Pawlischtschew, der die Kosten meines dortigen Aufenthalts getragen hatte, ist vor zwei Jahren gestorben; ich schrieb dann hierher an die Generalin Jepantschina, eine entfernte Verwandte von mir, habe aber keine Antwort erhalten. So bin ich denn hergereist.«
»Wo gedenken Sie denn zu bleiben?«
»Sie meinen, wo ich Wohnung nehmen werde? ... Das weiß ich noch nicht, wirklich nicht ... es ist noch ungewiß ...«
»Darüber haben Sie noch keinen Entschluß gefaßt?«
Beide Zuhörer brachen von neuem in ein Gelächter aus.
»Und dieses Bündelchen enthält wohl Ihre ganze Habe?« fragte der Schwarzhaarige.
»Ich möchte darauf wetten, daß es so ist«, fiel mit sehr zufriedener Miene der rotnasige Beamte ein, »und daß Sie kein weiteres Gepäck im Gepäckwagen haben. Wiewohl Armut keine Schande ist, wie man immer wieder bemerken muß.«
Es stellte sich heraus, daß es sich wirklich so verhielt: der blonde junge Mann gestand dies sofort mit großer Bereitwilligkeit ein.
»Ihr Bündelchen hat trotzdem einen gewissen Wert«, fuhr der Beamte, nachdem er sich satt gelacht hatte, fort (bemerkenswert war, daß auch der Eigentümer des Bündelchens selbst schließlich beim Anblick der beiden mitzulachen anfing, was deren Heiterkeit noch vergrößerte).
»Man möchte zwar wetten, daß keine Rollen mit ausländischen Goldstücken, wie Napoleondors, Friedrichsdors oder holländischen Dukaten, darin sind; das kann man zum Beispiel schon aus Ihren ausländischen Gamaschen schließen; aber wenn man zu Ihrem Bündelchen noch eine solche Verwandte hinzunimmt wie die Generalin Jepantschina, dann gewinnt auch das Bündelchen gewissermaßen einen höheren Wert, selbstverständlich nur in dem Falle, wenn die Generalin Jepantschina wirklich Ihre Verwandte ist und Sie sich nicht aus Zerstreutheit irren ... was einem außerordentlich leicht passieren kann ... sagen wir: infolge eines Übermaßes von Phantasie.«
»Oh, Sie haben wieder das Richtige getroffen«, erwiderte der blonde junge Mensch, »denn ich befinde mich wirklich beinah in einem Irrtum, das heißt, sie ist kaum meine Verwandte; ja, ich habe mich tatsächlich damals gar nicht darüber gewundert, daß ich keine Antwort nach der Schweiz bekam. Ich hatte das eigentlich auch so erwartet.«
»Da haben Sie das Geld für die Frankierung des Briefes unnütz ausgegegen. Hm ...! Nun, wenigstens sind Sie offenherzig und aufrichtig, und das ist löblich! Hm ...! Den General Jepantschin kenne ich, im Grunde, weil er eine allgemein bekannte Persönlichkeit ist; und den verstorbenen Herrn Pawlischtschew, der Sie in der Schweiz unterhalten hat, habe ich ebenfalls gekannt, vorausgesetzt, daß es sich um Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew handelt; denn es waren zwei Vettern. Der andere befindet sich noch in der Krim. Nikolai Andrejewitsch aber, der Verstorbene, war ein sehr achtbarer Mann und hatte gute Verbindungen, und besaß seinerzeit viertausend Seelen ...«
»Ganz richtig; er hieß Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew.«
Nachdem der junge Mensch diese Antwort gegeben hatte, betrachtete er unverwandt und mit lebhaftem Interesse den Herrn, der sich über alles so gut orientiert zeigte.
Diese Herren Alleswisser begegnen einem manchmal, und in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht sogar ziemlich häufig. Sie wissen alles; der ganze unruhige Forschungstrieb ihres Verstandes und ihre gesamten Fähigkeiten streben unaufhaltsam nach einer Seite hin, natürlich infolge des Mangels an wichtigeren Lebensinteressen und Anschauungen, wie ein moderner Denker sich ausdrücken würde. Bei dem Ausdruck »sie wissen alles« muß man übrigens an ein ziemlich beschränktes Gebiet denken: wo der und der angestellt ist, mit wem er bekannt ist, wieviel Vermögen er besitzt, wo er Gouverneur gewesen ist, was er für eine Frau genommen hat, wieviel Mitgift er dabei erhalten hat, wer sein Vetter und sein entfernterer Vetter ist usw., usw., und sonst noch allerlei von dieser Art. Großenteils gehen diese Alleswisser mit durchgestoßenen Ellbogen umher und bekommen siebzehn Rubel Gehalt monatlich. Die Leute, über die sie alle möglichen Einzelheiten wissen, würden natürlich nicht sagen können, warum jene an ihnen ein derartiges Interesse nehmen; und dabei finden viele dieser Alleswisser an diesem Wissen, das einer ganzen Wissenschaft gleichkommt, ein entschiedenes Vergnügen und gelangen dadurch zu Selbstachtung und sogar zu einem sehr hohen Grad seelischer Zufriedenheit. Und es ist auch eine verführerische Wissenschaft. Ich habe Gelehrte, Literaten, Dichter und Staatsmänner gekannt, die in dieser Wissenschaft ihre größte Befriedigung, ihr höchstes Ziel fanden und sogar entschieden nur hierdurch Karriere machten. Im weiteren Verlauf dieses ganzen Gesprächs gähnte der schwarzhaarige junge Mensch, blickte ziellos durchs Fenster und wartete mit Ungeduld auf das Ende der Reise. Er war etwas zerstreut, sogar sehr zerstreut, beinah aufgeregt; ja, er benahm sich einigermaßen sonderbar: manchmal hörte er zu, ohne recht zuzuhören, sah, ohne recht zu sehen, und lachte, ohne im nächsten Augenblick zu wissen und sich zu erinnern, worüber er eigentlich gelacht hatte.
»Aber gestatten Sie die Frage: mit wem habe ich die Ehre?« wandte sich auf einmal der Herr mit dem Gesicht voller Pickel an den blonden jungen Mann mit dem Bündelchen.
»Fürst Ljow Nikolajewitsch Myschkin«, antwortete dieser ohne zu zögern, mit größter Bereitwilligkeit.
»Fürst Myschkin? Ljow Nikolajewitsch? Kenne ich nicht. Nicht einmal vom Hörensagen«, antwortete der Beamte nachdenkend. »Das heißt, ich meine nicht den Namen; der Name ist ja historisch und in Karamsins ›Geschichte Rußlands‹ zu finden; ich meine Ihre Person, und überhaupt begegnen Fürsten Myschkin einem nirgends mehr; man hört von ihnen nicht einmal reden.«
»Wie könnte es auch anders sein!« versetzte der Fürst sogleich.
»Fürsten Myschkin gibt es jetzt außer mir gar nicht mehr; ich glaube, ich bin der letzte. Und was meinen Vater und meinen Großvater anlangt, so besaßen die nur ein einziges Gut, auf dem sie zurückgezogen lebten. Mein Vater war übrigens Leutnant bei der Linie, vorher Fähnrich. Und nun weiß ich nicht, in welcher Weise die Generalin Jepantschina zu den Myschkinschen Fürstentöchtern gehört; sie ist ebenfalls die Letzte in ihrer Art ...
»Hahaha! Die Letzte in ihrer Art! Haha! Wie Sie das gedreht haben!« kicherte der Beamte.
Auch der schwarzhaarige junge Mann lächelte. Der Blonde war etwas verlegen, daß es ihm gelungen war, ein allerdings ziemlich einfaches Wortspiel zu machen.
»Seien Sie überzeugt, ich habe es ganz ohne Absicht gesagt«, erklärte er schließlich einigermaßen befangen.
»Sehr begreiflich, sehr begreiflich!« stimmte ihm der Beamte heiter bei.
»Haben Sie denn dort auch Wissenschaften betrieben, Fürst, bei Ihrem Professor?« fragte unvermittelt der Schwarzhaarige.
»Ja ... allerdings ...«
»Ich für meine Person habe nie etwas studiert.«
»Auch ich nur ein klein wenig«, fügte der Fürst in einem Ton hinzu, der beinah wie eine Bitte um Entschuldigung klang. »Mir einen regulären Unterricht zu erteilen, hielt man in Anbetracht meiner Krankheit nicht für möglich.«
»Kennen Sie die Familie Rogoschin?« fragte der schwarzhaarige junge Mensch schnell.
»Nein, ich kenne sie nicht, gar nicht. Ich kenne in Rußland überhaupt nur wenige Menschen. Ist Ihr Name Rogoschin?«
»Ja, ich heiße Rogoschin, Parfen Rogoschin.«
»Parfen? Sind Sie da nicht vielleicht ein Mitglied eben jener Familie Rogoschin ...«, begann der Beamte mit noch gesteigerter Wichtigtuerei.
»Jawohl, eben jener, eben jener«, unterbrach ihn schnell und mit unhöflicher Ungeduld der Schwarzhaarige, der überhaupt dem Beamten mit dem Gesicht voller Pickel nie Beachtung geschenkt, sondern gleich von Anfang an immer nur zu dem Fürsten gesprochen hatte.
»Ja ... ist es möglich?« rief der Beamte; er war ganz starr vor Staunen, die Augen traten ihm beinah aus den Höhlen, und sein ganzes Gesicht nahm sogleich einen ehrerbietigen, knechtischen, ja erschrockenen Ausdruck an. »Sind Sie ein Sohn eben jenes erblichen Ehrenbürgers Semjon Parfenowitsch Rogoschin, der vor einem Monat starb und ein bares Kapital von dreieinhalb Millionen hinterließ?«
»Woher haben Sie denn erfahren, daß er ein bares Kapital von dreieinhalb Millionen hinterlassen hat?« unterbrach ihn der Schwarzhaarige, der sich auch diesmal nicht dazu herabließ, den Beamten anzusehen. »Nun sieh mal einer den Kerl an!« (Er wies den Fürsten durch Augenzwinkern auf ihn hin.) »Und was haben die Leute nur davon, daß sie sich sofort mit Schmeicheleien an einen heranmachen? Aber wahr ist, daß mein Vater gestorben ist und ich jetzt einen Monat nachher beinah ohne Stiefel von Pskow nach Hause fahre. Weder mein niederträchtiger Bruder noch meine Mutter haben mir Geld oder eine Benachrichtigung geschickt – nichts haben sie mir geschickt! Als ob ich ein Hund wäre! Einen ganzen Monat lang habe ich in Pskow im Fieber gelegen!«
»Aber jetzt werden Sie mehr als ein Milliönchen mit einemmal bekommen, mindestens soviel, o mein Herrgott!« rief der Beamte und schlug die Hände zusammen. »Na, was geht ihn das an? Sagen Sie, bitte, selbst!« sagte Rogoschin, wieder mit dem Kopf auf ihn hindeutend, in gereiztem, ärgerlichem Ton. »Ich werde Ihnen ja doch nicht eine einzige Kopeke geben, und wenn Sie sich vor mir auf den Kopf stellen und auf den Händen gehen.«
»Das werde ich tun, das werde ich tun!«
»Da haben wir's! Aber ich werde Ihnen nichts geben, gar nichts, und wenn Sie eine ganze Woche lang tanzen!«
»Sie brauchen mir nichts zu geben! Das verlange ich auch gar nicht! Sie brauchen mir nichts zu geben! Aber ich werde doch tanzen. Meine Frau und meine kleinen Kinder werde ich im Stich lassen und vor Ihnen tanzen. Aus reiner Liebenswürdigkeit!«
»Pfui über Sie!« sagte der Schwarzhaarige und spuckte aus. »Vor fünf Wochen befand ich mich in demselben Zustand wie Sie jetzt«, wandte er sich an den Fürsten, »mit einem einzigen Bündelchen entfloh ich vor meinem Vater nach Pskow zu einer Tante; und dort habe ich am Fieber krank gelegen, und er ist in meiner Abwesenheit gestorben. Ein Schlagfluß hat ihm den Garaus gemacht. Ich wünsche dem Verstorbenen die ewige Ruhe; aber er hat mich damals fast zu Tode geprügelt. Sie können es mir glauben, Fürst, bei Gott! Wäre ich damals nicht davongelaufen, so hätte er mich auf dem Fleck totgeschlagen.«
»Hatten Sie ihn durch irgend etwas gereizt?« fragte der Fürst und betrachtete mit einem gewissen besonderen Interesse den Millionär im Schafpelz.
Aber obgleich schon in der Vorstellung einer zu erbenden Million möglicherweise etwas Merkwürdiges lag, so war da doch noch etwas anderes, was den Fürsten in Verwunderung versetzte und sein Interesse weckte; und auch Rogoschin selbst unterhielt sich aus irgendwelchem Grund gern mit dem Fürsten, wiewohl er anscheinend mehr ein mechanisches als ein seelisches Bedürfnis nach Unterhaltung hatte; sozusagen mehr aus Zerstreutheit als aus Gutherzigkeit; aus Unruhe und Aufregung, um nur jemanden anzusehen und über irgendeinen Gegenstand die Zunge in Bewegung zu setzen. Es schien, daß er auch jetzt noch Fieber hatte, wenigstens in einem gewissen Grade. Was den Beamten anlangt, so hing dieser ordentlich an Rogoschins Mund, wagte kaum zu atmen und fing jedes Wort auf und legte es gleichsam auf die Waage, wie wenn er es für einen Brillanten hielte.
»Er war zornig, gewiß, ja, und vielleicht nicht ohne Grund«, antwortete Rogoschin, »aber wer sich am schlimmsten gegen mich benahm, das war mein Bruder. Von meiner Mutter will ich nichts sagen; sie ist eine alte Frau, liest die Lebensbeschreibungen der Heiligen, sitzt mit alten Weibern zusammen, und was Bruder Senka anordnet, das muß geschehen. Aber er, warum hat er mich seinerzeit nicht benachrichtigt? Na, begreifen läßt es sich schon! Es ist wahr, ich war damals ohne Besinnung. Und es war auch ein Telegramm abgeschickt, sagen sie. Und es ist auch ein Telegramm bei der Tante angekommen. Aber sie ist seit dreißig Jahren Witwe und sitzt immer vom Morgen bis zum Abend mit Jurodiwys zusammen. Sie ist beinah eine Nonne, oder eigentlich noch schlimmer als eine Nonne. Vor Telegrammen hat sie von jeher Angst gehabt, und so hat sie auch dieses uneröffnet auf der Polizei abgeliefert, und da wird es wohl noch liegen. Erst Konew, Wasili Wasiljewitsch Konew, hat sich meiner angenommen und mir alles geschrieben. Von der Brokatdecke auf dem Sarg des Vaters hat der Bruder bei Nacht die massiv goldenen Quasten abgeschnitten und gesagt: ›Die sind einen tüchtigen Batzen Geld wert.‹ Schon allein dafür kann er nach Sibirien kommen, wenn ich will; denn das ist Heiligtumsschändung. He, Sie Vogelscheuche!« wandte er sich an den Beamten. »Wie steht's im Gesetz: ist das Heiligtumsschändung?«
»Jawohl, Heiligtumsschändung, Heiligtumsschändung!« stimmte ihm der Beamte sogleich bei.
»Und kommt einer dafür nach Sibirien?«
»Gewiß, nach Sibirien, nach Sibirien! Ohne weiteres nach Sibirien!«
»Bei mir zu Hause denken sie bestimmt, daß ich noch krank sei«, fuhr Rogoschin, zu dem Fürsten gewendet, fort. »Aber ich habe mich, ohne ein Wort zu sagen, obwohl ich noch nicht hergestellt bin, still auf die Bahn gesetzt und fahre jetzt hin. Nun mach mir das Tor auf, Bruder Semjon Semjonowitsch! Er hatte mich bei meinem verstorbenen Vater verpetzt, das weiß ich. Aber daß ich wirklich durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna damals den Vater aufgebracht habe, das ist wahr. Da habe ich allein schuld. Das habe ich in einem Augenblick der Unbedachtsamkeit begangen.«
»Durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna?« sagte der Beamte in kriecherischem Ton, wie wenn er etwas überlegte.
»Die Dame kennen Sie nicht!« schrie ihn Rogoschin ungeduldig an.
»Und ich kenne sie doch!« erwiderte der Beamte triumphierend.
»Ach was! Es gibt viele Damen, die Nastasja Filippowna heißen! Und ich muß sagen: was sind Sie für ein unverschämtes Subjekt! Na, das habe ich doch gleich gewußt, daß sich irgend so ein Subjekt an mich hängen wird!« fuhr er, zum Fürsten gewendet, fort.
»Aber vielleicht kenne ich sie doch!« versetzte der Beamte beharrlich. »Da müßte ich nicht Lebedjew sein, wenn ich sie nicht kennen sollte! Euer Durchlaucht belieben mir einen Vorwurf zu machen; aber wie, wenn ich Ihnen den Beweis liefere! Also es ist dieselbe Nastasja Filippowna, um derentwillen Ihr Vater Sie mit einem Haselstock ermahnen wollte; es ist Nastasja Filippowna Baraschkowa, sozusagen sogar eine vornehme Dame und in ihrer Art eine Fürstin, und sie hat ein Verhältnis mit einem gewissen Tozki, mit Afanasi Iwanowitsch Tozki, ausschließlich mit diesem einen, einem Gutsbesitzer und Großkapitalisten, Mitglied verschiedener Handelsgesellschaften, der infolge dieser seiner kommerziellen Tätigkeit mit dem General Jepantschin in sehr freundschaftlicher Beziehung steht ...«
»Na, nun sieh mal an!« rief Rogoschin, wirklich erstaunt, aus. »Pfui Teufel, er weiß wahrhaftig genau Bescheid!«
»Er weiß alles! Lebedjew weiß alles! Auch Alexander Lichatschows Begleiter bin ich zwei Monate lang gewesen, Euer Durchlaucht, und zwar ebenfalls nach dem Tod seines Vaters, und ich kenne alle, geradezu alle seine Heimlichkeiten, und es kam so weit, daß er ohne mich keinen Schritt tat. Jetzt sitzt er im Schuldgefängnis; aber damals hatte ich Gelegenheit, auch Fräulein Armance und Fräulein Corallie und die Fürstin Pazkaja und Nastasja Filippowna kennenzulernen, und auch vieles, vieles zu erfahren hatte ich Gelegenheit.«
»Nastasja Filippowna? Hat sie etwa mit Lichatschow ...«, rief Rogoschin und blickte den Redenden böse an; sogar seine Lippen waren blaß geworden und zitterten.
»N-nein! N-nein! Entschieden nein!« beeilte sich der Beamte, schnell gefaßt, zu erwidern. »Bei der konnte Lichatschow durch kein Geld zum Ziele gelangen! Nein, die ist von anderer Art wie Fräulein Armance. Da ist Tozki der einzige. Abends sitzt sie im Großen Theater oder im Französischen Theater in ihrer eigenen Loge. Die Offiziere reden ja da unter sich allerlei; aber auch die können nichts beweisen. ›Da ist die berühmte Nastasja Filippowna‹, sagen sie, aber das ist auch alles; was Weiteres anlangt, so ist da nichts zu sagen! Weil eben nichts vorliegt.«
»Ja, so verhält sich das alles«, bestätigte Rogoschin mit trüber, finsterer Miene. »Auch Saloschew hat es mir damals gesagt. Ich ging damals, Fürst, in einem Schnurrock, den mein Vater schon vor zwei Jahren abgelegt hatte, über den Newski-Prospekt, und sie kam aus einem Laden heraus und stieg in ihren Wagen. Da stand ich auf der Stelle in Flammen. Ich begegnete meinem Freund Saloschew; der sah anders aus als ich; er geht wie ein Friseurgehilfe, immer die Lorgnette im Auge; wir aber mußten bei unserm Vater in Schmierstiefeln gehen und uns an fastenmäßiger Kohlsuppe delektieren. ›Die ist nichts für dich‹, sagte er; ›das ist‹, sagte er, ›eine Fürstin; sie heißt Nastasja Filippowna, mit dem Familiennamen Baraschkowa, und lebt mit Tozki; Tozki aber weiß jetzt nicht, wie er von ihr loskommen soll, weil er nämlich schon ganz in die soliden Jahre hineingekommen ist (er ist fünfundfünfzig) und eine der ersten Schönheiten von ganz Petersburg heiraten will.‹ Dann teilte er mir noch mit, daß ich Nastasja Filippowna an demselben Tag im Großen Theater wiedersehen könne, im Ballett; sie werde in ihrer Parterreloge sitzen. Bei uns zu Hause, bei unserm Vater, da hätte es mal einer probieren sollen und sagen, er wolle ins Ballett gehen; der Vater hätte kurzen Prozeß gemacht und ihn halbtot geprügelt! Ich schlich mich indessen still für ein Stündchen weg und sah Nastasja Filippowna wieder; die ganze folgende Nacht konnte ich nicht schlafen. Am andern Morgen gab mir der Vater zwei fünfprozentige Staatsschuldscheine, jeden zu fünftausend Rubeln, und sagte: ›Geh hin und verkaufe sie; dann trage siebentausendfünfhundert Rubel zu Andrejew auf's Kontor und bezahle sie dort; und was du von den zehntausend noch übrig hast, das bring geradewegs hierher und liefere es mir ab; ich werde auf dich warten.‹ Die Staatsschuldscheine verkaufte ich und empfing das Geld dafür; aber zu Andrejew auf's Kontor begab ich mich nicht, sondern ich ging, ohne mich umzusehen, nach dem Englischen Magazin und suchte dort für das ganze Geld ein Paar Ohrgehänge aus, jedes mit einem Brillanten fast von Nußgröße; vierhundert Rubel blieb ich noch schuldig; ich nannte meinen Namen, und man gab mir Kredit. Mit den Ohrgehängen ging ich gleich zu Saloschew: ›So und so, Bruder‹, sagte ich, ›wir wollen zu Nastasja Filippowna gehen.‹ Wir gingen hin. Was ich damals unter den Füßen und vor mir und rechts und links hatte, das weiß ich nicht; dafür habe ich keine Erinnerung. Wir traten bei ihr gleich in den Salon ein, und dann kam sie selbst zu uns. Ich verlautbarte übrigens damals nicht, daß ich selbst der Geber sei, sondern Saloschew sagte: ›Von Parfen Rogoschin, der Sie gestern gesehen hat, ein kleines Andenken; haben Sie die Gewogenheit, es anzunehmen!‹ Sie öffnete das Etui, betrachtete den Schmuck und lächelte. ›Sagen Sie Ihrem Freund Herrn Rogoschin meinen Dank‹, sagte sie, ›für seine liebenswürdige Aufmerksamkeit!‹ Dann verneigte sie sich und ging hinaus. Na, warum bin ich damals nicht dort auf dem Fleck gestorben! Aber wenn ich fortging, so tat ich es mit dem Gedanken: ›Lebendig komme ich doch nie wieder her!‹ Was ich aber am schwersten als Kränkung empfand, das war, daß diese Kanaille, der Saloschew, sich angemaßt hatte, alles allein zu reden und zu tun. Ich bin von kleiner Statur und war wie ein Plebejer gekleidet, und hatte dagestanden, sie angestarrt und geschwiegen, weil ich mich schämte; er aber in modischem Anzug, mit pomadisiertem und gekräuseltem Haar, mit seinem frischen Teint und mit seiner karierten Krawatte hatte den Liebenswürdigen gespielt und einmal über das andere gedienert, und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie ihn für mich genommen! ›Na‹, sagte ich, als wir hinausgegangen waren, ›du wage nicht, dich wieder bei mir blicken zu lassen, verstehst du?‹ Er lachte: ›Aber wie wirst du jetzt vor deinem Vater Semjon Parfenowitsch Rechenschaft ablegen?‹ Die Wahrheit zu sagen, ich hatte damals schon vor, ohne erst nach Hause zu gehen mich ins Wasser zu stürzen; aber ich dachte: ›Es ist ja doch ganz gleich!‹ und kehrte wie ein armer Sünder nach Hause zurück.«
»O weh, o weh!« sagte der Beamte und schnitt dabei eine Grimasse; ja, er schüttelte sich sogar mit dem ganzen Leib. »Und der Selige war imstande, nicht nur um zehntausend, sondern schon um zehn Rubel willen einen in jene Welt zu spedieren.« Er blickte zum Fürsten.
Der Fürst sah Rogoschin mit lebhaftem Interesse an; es schien, als sei der in diesem Augenblick noch blasser.
»Dazu war er imstande!« wiederholte Rogoschin. »Aber was wissen Sie davon?« Dann erzählte er dem Fürsten weiter: »Er erfuhr sogleich alles; Saloschew hatte es jedem, der ihm begegnete, ausgeschwatzt. Der Vater nahm mich, schloß mich im oberen Stockwerk ein und prügelte mich eine ganze Stunde lang. ›Und das ist nur eine Vorbereitung für dich‹, sagte er; ›heute abend komme ich, um dir gute Nacht zu sagen.‹ Sollte man's glauben? Der alte Mann fuhr zu Nastasja Filippowna hin, verbeugte sich tief vor ihr und flehte sie unter Tränen an; endlich holte sie ihm das Etui herbei, warf es ihm hin und sagte: ›Da hast du deine Ohrringe, alter Graubart; sie sind für mich jetzt um das Zehnfache im Wert gestiegen, nun ich weiß, daß Parfen sie einem so strengen Vater zum Trotz beschafft hat. Grüße Parfen Semjonowitsch von mir und bestelle ihm meinen Dank!‹ Na, ich hatte unterdessen mich von meiner Mutter segnen lassen und mir von Sergei Protuschin zwanzig Rubel geborgt; damit setzte ich mich auf die Bahn und fuhr nach Pskow, wo ich fiebernd ankam. Dort langweilten mich die alten Frauen durch das Vorlesen von Gebeten aus dem Kirchenkalender rein zu Tode, und ich saß betrunken dabei; als ich gerade mein letztes Geld in den Kneipen vertrunken hatte, lag ich die ganze Nacht bewußtlos auf der Straße, und am Morgen hatte ich dann das hitzige Fieber; und außerdem hatten mich in der Nacht auch noch die Hunde angefressen. Nur mit Mühe habe ich mich erholt.«
»Nun, nun, jetzt wird aber Nastasja Filippowna in einer andern Tonart zu uns reden!« kicherte der Beamte und rieb sich dabei die Hände. »Was ist jetzt an jenem Ohrgehänge gelegen, mein Herr! Jetzt werden wir ihr solche Ohrgehänge zum Ersatz schenken, daß ...«
»Hören Sie mal, wenn Sie nur noch ein einziges Mal ein Wort über Nastasja Filippowna sagen, dann gnade Ihnen Gott! Ich werde Sie durchprügeln, wenn Sie auch mit Lichatschow verkehrt haben!« schrie Rogoschin und packte ihn kräftig am Kragen.
»Aber wenn Sie mich durchprügeln, so bedeutet das, daß Sie mich nicht von sich stoßen! Prügeln Sie mich! Gerade dadurch gewinnen Sie mich zum Freund! Wenn Sie mich durchgehauen haben, so haben Sie gerade dadurch unsere Freundschaft besiegelt ... Aber da sind wir angelangt!«
Sie fuhren tatsächlich in den Bahnhof ein. Obgleich Rogoschin gesagt hatte, daß er ganz in der Stille abgereist sei, erwarteten ihn doch schon mehrere Menschen. Sie riefen und winkten ihm mit den Mützen.
»Nun sieh mal, Saloschew ist auch da!« murmelte Rogoschin, indem er mit einem triumphierenden, sogar etwas boshaften Lächeln nach ihnen hinblickte; dann wandte er sich auf einmal zum Fürsten:
»Fürst, ich weiß nicht, weswegen ich dich liebgewonnen habe. Vielleicht, weil ich dich in einem solchen Augenblick getroffen habe; aber den hier habe ich doch auch getroffen« (er wies auf Lebedjew), »und den habe ich nicht liebgewonnen. Komm zu mir, Fürst! Wir werden dir diese Gamaschen ausziehen; ich werde dir den besten Marderpelz kaufen, dir den schönsten Frack machen lassen, eine weiße Weste oder was für eine du sonst wünschst; ich werde dir die Taschen voll Geld stopfen, und ... dann wollen wir zu Nastasja Filippowna fahren! Wirst du kommen oder nicht?«
»Gehen Sie darauf ein, Fürst Ljow Nikolajewitsch!« fügte Lebedjew in eindringlichem, feierlichem Ton hinzu. »Lassen Sie sich das ja nicht entgehen! Lassen Sie sich das ja nicht entgehen!«
Fürst Myschkin stand auf, streckte Rogoschin höflich die Hand hin und sagte freundlich zu ihm:
»Ich werde mit dem größten Vergnügen kommen und danke Ihnen herzlich dafür, daß Sie mich liebgewonnen haben. Ich werde sogar vielleicht heute schon kommen, wenn ich Zeit finde. Denn ich sage Ihnen aufrichtig: auch Sie haben mir sehr gefallen, und besonders, als Sie von den Brillantohrgehängen erzählten. Aber auch schon vor den Ohrgehängen haben Sie mir gefallen, wiewohl Sie eine so düstere Miene haben. Ich danke Ihnen auch für die versprochenen Kleider und den Pelz; denn ich werde wirklich Kleider und einen Pelz bald nötig haben. An Geld besitze ich in diesem Augenblick kaum eine Kopeke.«
»Geld wird dasein, zum Abend wird Geld dasein; komm nur!«
»Es wird dasein, wird dasein«, echote der Beamte. »Zum Abend, noch vor Sonnenuntergang, wird welches dasein!«
»Sind Sie ein großer Freund des weiblichen Geschlechts, Fürst? Sagen Sie es mir schon vorher!«
»Ich? N-n-nein! Ich bin ja ... Sie wissen vielleicht nicht, ich kenne ja infolge meiner angeborenen Krankheit die Frauen überhaupt nicht.«
»Nun, wenn's so ist«, rief Rogoschin, »so bist du ja ein richtiger Jurodiwy, Fürst, und solche Menschen wie dich liebt Gott.«
»Und solche Menschen liebt Gott der Herr«, wiederholte der Beamte.
»Und Sie können mir folgen, Sie Schmeißfliege!« sagte Rogoschin zu Lebedjew.
Alle verließen den Waggon.
Lebedjew hatte also schließlich doch sein Ziel erreicht. Bald entfernte sich der lärmende Haufe in der Richtung nach dem Wosnesenski-Prospekt zu. Der Fürst mußte sich nach der Litejnaja-Straße wenden. Es war feucht und naß; der Fürst erkundigte sich bei Vorübergehenden: er hörte, daß es bis zum Ende seines Weges etwa drei Werst seien, und entschied sich dafür, eine Droschke zu nehmen.
Der General Jepantschin wohnte in seinem eigenen Haus, etwas seitwärts von der Litejnaja-Straße, nach der Preobraschenski-Kathedrale zu. Außer diesem stattlichen Haus, von dem fünf Sechstel vermietet waren, besaß General Jepantschin noch ein gewaltiges Haus in der Sadowaja-Straße, das gleichfalls einen sehr hohen Ertrag brachte.
Außer diesen beiden Häusern hatte er dicht bei Petersburg ein sehr bedeutendes, einträgliches Gut und ferner im Petersburger Kreis eine Fabrik. In früheren Zeiten hatte General Jepantschin, wie allgemein bekannt war, sich auch an Branntweinpachtungen beteiligt. Jetzt war er Mitglied mehrerer solider Aktiengesellschaften und hatte dabei eine sehr gewichtige Stimme. Er galt als ein Mann mit großem Vermögen, ausgedehnter Tätigkeit und einflußreichen Verbindungen. An manchen Stellen hatte er es verstanden, sich völlig unentbehrlich zu machen, unter anderm auch in seinem Dienst. Aber daneben war auch bekannt, daß Iwan Fjodorowitsch Jepantschin ein Mann ohne Bildung war, der Sohn eines gemeinen Soldaten; dies konnte ihm ohne Zweifel nur zur Ehre gereichen; aber obgleich der General ein verständiger Mensch war, so war er doch nicht frei von kleinen, sehr verzeihlichen Schwächen und liebte es nicht, daß jemand auf gewisse Dinge anspielte. Aber ein verständiger, gewandter Mensch war er unstreitig. So zum Beispiel befolgte er den Grundsatz, sich nicht vorzudrängen, wo es zweckmäßig war, in den Hintergrund zu treten, und viele schätzten ihn gerade wegen seiner Schlichtheit, gerade deswegen, weil er immer seinen Platz kannte. Wenn indessen diese Beurteiler nur gesehen hätten, was manchmal in Iwan Fjodorowitschs Seele vorging, der seinen Platz so gut kannte! Obgleich er tatsächlich große Geschicklichkeit und Erfahrung in irdischen Dingen und mancherlei sehr beachtenswerte Fähigkeiten besaß, so vermied er es doch, als der geistige Urheber eines Planes zu erscheinen, und tat lieber so, als führe er nur eine fremde Idee aus; er gab sich als einen Mann, der »ohne Kriecherei treu ergeben« sei, und (wozu läßt man sich nicht durch die Zeitverhältnisse bringen?) sogar als echten Russen. In letzterer Hinsicht begegneten ihm sogar einige amüsante Geschichten; aber der General ließ nie den Kopf hängen, auch bei den komischsten Vorfällen nicht; außerdem hatte er Glück, sogar im Kartenspiel, und er spielte außerordentlich hoch und verbarg absichtlich nicht diese kleine (wenn man will) Schwäche für das Kartenspiel, die ihm in vielen Fällen so wesentlichen Nutzen brachte, sondern kehrte sie vielmehr heraus. Die gesellschaftlichen Kreise, in denen er verkehrte, waren von sehr verschiedener Art, selbstverständlich aber sämtlich »durchaus anständig«. Aber es lag noch eine große Zukunft vor ihm; er konnte es abwarten, konnte es noch sehr abwarten, und alles mußte zu seiner Zeit und in der richtigen Ordnung kommen. Auch was sein Lebensalter anlangte, befand sich General Jepantschin noch, was man zu nennen pflegt, in den besten Jahren, das heißt, er war sechsundfünfzig Jahre alt, nicht älter, was jedenfalls ein blühendes Lebensalter darstellt, ein Lebensalter, mit dem eigentlich erst das richtige Leben beginnt. Seine Gesundheit, seine frische Gesichtsfarbe, die kräftigen, wenn auch schwarzen Zähne, der stämmige, untersetzte Körperbau, der ernste Ausdruck morgens im Dienst und die heitere Miene abends beim Kartenspiel oder bei Seiner Erlaucht: all dies trug zu seinen gegenwärtigen und künftigen Erfolgen bei und bestreute den Lebensweg Seiner Exzellenz mit Rosen.
Der General erfreute sich einer blühenden Familie. Allerdings gab es hier für ihn nicht lauter Rosen; aber dafür war so manches da, worauf schon seit längerer Zeit die wichtigsten Hoffnungen und Bestrebungen Seiner Exzellenz in ernster, herzlicher Empfindung gerichtet waren. Und welche Bestrebungen im Leben könnten auch wichtiger und heiliger sein als die elterlichen? Woran soll jemand sein Herz hängen, wenn nicht an die Familie? Die Familie des Generals bestand aus seiner Gattin und drei erwachsenen Töchtern. Der General hatte in sehr jugendlichem Alter geheiratet, als er noch im Range eines Leutnants stand, und zwar ein mit ihm fast gleichaltriges Mädchen, das weder Schönheit noch Bildung besaß und ihm nur fünfzig Seelen mitbrachte, die allerdings als Grundlage für die weitere günstige Entwicklung seiner Vermögensverhältnisse dienten. Aber der General murrte in der Folgezeit nie über seine frühe Heirat, betrachtete sie nie als einen unglücklichen Jugendstreich, und seine Gattin schätzte er so hoch und fürchtete sich vor ihr manchmal so sehr, daß er sie sogar liebte. Die Generalin stammte aus der fürstlichen Familie Myschkin, einer zwar nicht glänzenden, aber sehr alten Familie, und war auf ihre Herkunft sehr stolz. Eine damals einflußreiche Persönlichkeit, einer jener Gönner, denen die Gönnerschaft nichts kostet, hatte die Freundlichkeit, sich für die Ehe der jungen Prinzessin zu interessieren. Er öffnete dem jungen Offizier die Pforte zur Karriere und gab ihm einen Stoß nach vorwärts; der aber hätte gar nicht einmal eines Stoßes, sondern nur eines einzigen Gnadenblickes bedurft, er wäre nicht zugrunde gegangen. Mit wenigen Ausnahmen verlebten die Gatten die ganze Zeit ihrer langen Ehe in voller Einmütigkeit. Schon in sehr jungen Jahren hatte es die Generalin verstanden, als eine geborene Prinzessin und als die Letzte ihres Geschlechts, vielleicht auch durch ihre persönlichen Eigenschaften einige sehr hochgestellte Gönnerinnen zu finden. In der Folgezeit begann sie bei dem Reichtum und dem bedeutenden Dienstrang ihres Gatten sich in diesem hohen Kreise sogar einigermaßen einzubürgern.
In diesen letzten Jahren waren die Generalstöchter alle drei herangewachsen und herangereift: Alexandra, Adelaida und Aglaja. Allerdings trugen sie alle drei nur den Namen Jepantschin; aber mütterlicherseits waren sie doch von fürstlicher Abkunft; sie hatten eine bedeutende Mitgift und einen Vater, der vielleicht Aussicht hatte, später noch eine sehr hohe Stelle zu erhalten, und, was ebenfalls sehr wichtig war, sie waren alle drei recht hübsch, auch die älteste, Alexandra, nicht ausgenommen, die bereits fünfundzwanzig Jahre alt war. Die mittlere war dreiundzwanzig, und die jüngste, Aglaja, war eben erst zwanzig geworden. Diese Jüngste war sogar eine wirkliche Schönheit und begann schon in der Gesellschaft großes Aufsehen zu erregen. Aber auch das war noch nicht alles: alle drei zeichneten sich durch Bildung, Verstand und Talente aus. Es war bekannt, daß sie einander innig liebten und sich gegenseitig in allen Stücken hilfreich waren. Man wußte sogar von gewissen Opfern zu sagen, die die beiden älteren zugunsten der jüngsten, die der Abgott des ganzen Hauses war, gebracht haben sollten. In Gesellschaft neigten sie nicht dazu, sich vorzudrängen, sondern waren sogar allzu bescheiden. Niemand konnte ihnen den Vorwurf der Hoffart oder des Dünkels machen; aber doch wußte man, daß sie ihren Stolz hatten und ihren eigenen Wert kannten. Die älteste war musikalisch, die mittlere eine begabte Malerin; aber davon wußte viele Jahre lang fast niemand, und es war erst in der letzten Zeit und nur zufällig an die Öffentlichkeit gekommen. Kurz, es wurde über sie außerordentlich viel Lobendes gesprochen. Indessen fehlte es auch nicht an Übelwollenden. Mit Schrecken redeten diese davon, wieviele Bücher die jungen Damen gelesen hätten. Mit dem Heiraten hatten sie es nicht eilig; sie legten zwar Wert auf den Verkehr in einem gewissen Gesellschaftskreis, aber alles nur mit Maßen. Das war um so bemerkenswerter, als jedermann die Richtung, den Charakter, die Ziele und die Wünsche ihres Vaters kannte.
Es war schon gegen elf Uhr, als der Fürst an der Wohnung des Generals klingelte. Der General wohnte im zweiten Stockwerk und hatte ein möglichst bescheidenes, wiewohl seinem Rang entsprechendes Quartier inne. Dem Fürsten wurde von einem Diener in Livree geöffnet, und es bedurfte langer Auseinandersetzungen mit diesem Menschen, der ihn und sein Bündelchen gleich von Anfang an mißtrauisch betrachtete.
Endlich, nachdem er ihm wiederholt auf das bestimmteste erklärt hatte, daß er wirklich Fürst Myschkin sei und unbedingt den General in einer notwendigen Angelegenheit sprechen müsse, führte ihn der erstaunte Diener in ein kleines Vorzimmer vor dem eigentlich beim Arbeitszimmer gelegenen Wartezimmer, und übergab ihn dort einem andern Diener, der vormittags in diesem Vorzimmer den Dienst versah und dem General die Besucher anzumelden hatte. Dieser zweite Diener trug einen Frack, war über vierzig Jahre alt und hatte eine ernste, wichtige Miene; er stand Seiner Exzellenz zur speziellen Verfügung, wenn derselbe sich im Arbeitszimmer befand, und war sich infolgedessen seines Wertes bewußt.
»Warten Sie im Wartezimmer und lassen Sie Ihr Bündelchen hier!« sagte er, indem er sich langsam und würdevoll in seinen Lehnstuhl setzte und mit einem strengen, erstaunten Blick den Fürsten ansah, der sich ebendort neben ihm auf einen Stuhl niederließ und sein Bündelchen in der Hand behielt.
»Wenn Sie erlauben«, sagte der Fürst, »so möchte ich lieber hier bei Ihnen warten; was soll ich dort so ganz allein?«
»Im Vorzimmer können Sie nicht bleiben, da Sie ein Besucher, das heißt ein Gast, sind. Wollen Sie zum General selbst?«
Der Diener konnte sich offenbar nicht mit dem Gedanken befreunden, daß er einen solchen Besucher einlassen solle, und hielt daher für gut, ihn noch einmal zu fragen.
»Ja, ich habe ein Anliegen ...«, begann der Fürst.
»Ich frage Sie nicht, von welcher Art Ihr Anliegen ist; meines Amtes ist nur, Sie zu melden. Aber ohne Mitwirkung des Sekretärs kann ich nicht hingehen und Sie melden.«
Das Mißtrauen dieses Mannes schien immer mehr zu wachsen: der Fürst war doch auch dem Typus der täglichen Besucher gar zu unähnlich. Zwar kam es ziemlich oft, fast täglich, zu bestimmter Stunde vor, daß der General, namentlich in Geschäftsangelegenheiten, Gäste empfing, die manchmal sehr verschiedenartig aussahen; aber trotz dieser Gewohnheit und der recht weitherzigen Instruktion war der Kammerdiener in großem Zweifel; die Vermittlung des Sekretärs schien ihm für die Anmeldung doch unumgänglich notwendig.
»Sind Sie wirklich ... aus dem Ausland gekommen?« fragte er schließlich fast unwillkürlich und wurde dabei verlegen.
Er wollte vielleicht fragen: »Sind Sie wirklich Fürst Myschkin?«
»Ja, ich komme direkt von der Bahn. Mir scheint, Sie wollten fragen, ob ich wirklich Fürst Myschkin sei, fragten aber nicht so aus Höflichkeit.«
»Hm ...!« brummte der Diener erstaunt.
»Ich versichere Ihnen, daß ich Sie nicht belogen habe und daß Sie mit meiner Anmeldung nichts Unverantwortliches begehen. Daß ich aber in solchem Anzug und mit einem Bündelchen herkomme, dabei ist nichts zu verwundern; meine Vermögensverhältnisse sind augenblicklich nicht glänzend.«
»Hm! Ich hege in dieser Hinsicht keine Befürchtungen, sehen Sie! Ich bin verpflichtet, Sie zu melden, und dann wird der Sekretär zu Ihnen herkommen, außer wenn Sie ... Aber das ist es eben: außer wenn
... Wenn es gestattet ist, möchte ich mir erlauben zu fragen: Sie beabsichtigen nicht, aus Bedürftigkeit den General um eine Unterstützung zu bitten?«
»O nein, seien Sie darüber ganz beruhigt! Ich habe ein anderes Anliegen.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel; aber ich fragte im Hinblick auf Ihr Äußeres. Warten Sie auf den Sekretär; der General selbst ist jetzt mit einem Oberst beschäftigt, und dann wird auch der Sekretär kommen ... es ist der Sekretär von einer Aktiengesellschaft.«
»Wenn ich also lange werde warten müssen, so möchte ich Sie fragen: kann man hier nicht irgendwo rauchen? Eine Pfeife und Tabak habe ich bei mir.«
»Rau-chen?« versetzte der Kammerdiener, ihn geringschätzig und erstaunt anstarrend, als ob er seinen Ohren nicht traute. »Rauchen? Nein, hier können Sie nicht rauchen, und Sie sollten sich schämen, auch nur daran zu denken. Haha ... Sonderbar!«
»Oh, ich meinte ja nicht in diesem Zimmer; daß das nicht geht, weiß ich ja; sondern ich würde irgendwohin gehen, wohin Sie mich weisen würden, denn ich bin daran gewöhnt und habe jetzt schon drei Stunden lang nicht geraucht. Übrigens, wie Sie es für gut halten; wissen Sie, es gibt ein Sprichwort: Kommst du in ein fremdes Kloster, so suche da nicht deine eigene Ordnung einzuführen.«
»Na, wie soll ich Sie melden, so einen eigentümlichen Besucher?« murmelte der Kammerdiener beinah unwillkürlich. »Erstens gehört es sich nicht, daß Sie sich hier aufhalten; Sie sollten im Wartezimmer sitzen, weil Sie selbst sich als Besucher, das heißt als Gast, bezeichnen; da wird Rechenschaft von mir gefordert werden ... Wie ist es? Beabsichtigen Sie etwa bei uns zu wohnen?« fügte er hinzu, noch einmal nach dem Bündel des Fürsten hinschielend, das ihm offenbar keine Ruhe ließ.
»Nein, das beabsichtige ich nicht. Selbst wenn ich dazu aufgefordert würde, würde ich nicht hierbleiben. Ich bin ganz einfach nur hergekommen, um die Bekanntschaft der Herrschaften zu machen, weiter nichts.«
»Wie? Um die Bekanntschaft zu machen?« fragte der Kammerdiener erstaunt und mit verdreifachtem Mißtrauen. »Wie konnten Sie dann aber zuerst sagen, Sie kämen mit einem Anliegen?«
»Oh, ich kann kaum sagen: mit einem Anliegen! Das heißt, wenn Sie wollen, habe ich auch ein Anliegen, das aber nur darin besteht, daß ich um einen Rat bitten möchte. In der Hauptsache aber bin ich gekommen, um mich vorzustellen, da ich Fürst Myschkin bin und die Generalin Jepantschina gleichfalls die letzte Fürstentochter aus der Familie Myschkin ist und es außer mir und ihr keine Myschkins mehr gibt.«
»Also sind Sie gar noch ein Verwandter?« rief der erschrockene Diener, den ordentlich ein Schauder überlief. »Auch das ist kaum richtig. Übrigens, strenggenommen: gewiß, wir sind Verwandte, aber so entfernte, daß wir uns eigentlich kaum als solche betrachten können. Ich habe mich einmal vom Ausland aus brieflich an die Generalin gewandt; aber sie hat mir nicht geantwortet. Ich habe es aber doch für notwendig gehalten, bei meiner Rückkehr hier Beziehungen anzuknüpfen. Ihnen aber setze ich das alles jetzt auseinander, um Ihre Zweifel zu zerstreuen; denn ich sehe, Sie beunruhigen sich immer noch. Melden Sie nur, daß Fürst Myschkin da ist, und der Anlaß meines Besuchs wird schon aus der Meldung ersichtlich sein. Empfangen sie mich, gut; empfangen sie mich nicht, auch gut, vielleicht sogar sehr gut. Aber ich glaube, sie werden nicht anders können, als mich empfangen; die Generalin wird gewiß wünschen, den einzigen noch lebenden Repräsentanten ihres Geschlechtes zu sehen; denn wie ich über sie mit Bestimmtheit gehört habe, legt sie auf ihre Herkunft großen Wert.«
Es hätte scheinen können, daß diese Mitteilungen des Fürsten höchst einfach und natürlich waren; aber je einfacher und natürlicher sie an sich waren, um so absonderlicher kamen sie im gegenwärtigen Augenblick heraus, und der erfahrene Kammerdiener konnte nicht umhin, in ihnen etwas zu finden, was, von einem Menschen zu einem andern Menschen gesagt, durchaus angemessen, aber von einem Gast zu einem Diener gesagt, völlig unangemessen war. Aber da die Diener weit verständiger sind, als die Herrschaften gewöhnlich glauben, so ging es auch dem Kammerdiener durch den Kopf, daß hier zwei Fälle möglich seien: entweder sei der Fürst so ein Herumtreiber und jedenfalls gekommen, um bei der Herrschaft um ein Almosen zu bitten, oder er sei einfach ein Narr und ohne Ehrgefühl, da ein vernünftiger Fürst, der Ehrgefühl besitze, nicht im Vorzimmer sitzen und mit einem Diener über seine Angelegenheiten reden würde. Hatte er also nicht sowohl in dem einen wie in dem andern Falle die Anmeldung zu verantworten?
»Aber Sie sollten sich doch in das Wartezimmer begeben«, bemerkte er möglichst energisch.
»Wenn ich da gesessen hätte, so hätte ich Ihnen das alles ja nicht auseinandersetzen können«, versetzte der Fürst in heiterem Ton, »und somit würden Sie sich immer noch beim Anblick meines Mantels und meines Bündelchens beunruhigen. Aber jetzt halten Sie es vielleicht nicht einmal mehr für nötig, auf den Sekretär zu warten, sondern gehen einfach selbst hin und melden mich an.«
»Ich darf einen Besucher wie Sie ohne den Sekretär nicht anmelden, und außerdem hat der General selbst ausdrücklich erst noch vorhin verboten, ihn um irgend jemandes willen zu stören, solange der Oberst da ist; nur Gawrila Ardalionowitsch geht ohne Anmeldung hinein.«
»Ist das ein Beamter?«
»Gawrila Ardalionowitsch? Nein! Er ist bei einer Aktiengesellschaft angestellt. Legen Sie doch wenigstens Ihr Bündelchen hin!«
»Ich habe selbst schon daran gedacht. Wenn Sie also erlauben, tue ich es. Sagen Sie, soll ich auch den Mantel ablegen?«
»Gewiß! Sie können doch nicht im Mantel zu ihm hineingehen.«
Der Fürst erhob sich, zog sich eilig den Mantel aus und stand nun in einem ziemlich anständigen, gut gearbeiteten, wiewohl schon abgetragenen Jackett da. Über die Weste zog sich eine stählerne Uhrkette hin. An der Kette war eine silberne Genfer Uhr sichtbar.
Obgleich der Fürst ein Narr war (zu dieser Ansicht war der Diener bereits gelangt), so schien es dem Kammerdiener des Generals schließlich doch unpassend, dieses Privatgespräch mit dem Besucher länger fortzusetzen, trotzdem der Fürst ihm aus einem nicht ganz klaren Grund gefiel, natürlich nur so in seiner Art. Aber von einem andern Gesichtspunkt aus erweckte er bei ihm ein entschiedenes, starkes Mißfallen.
»Und wann empfängt die Generalin?« fragte der Fürst, indem er sich wieder auf seinen früheren Platz setzte.
»Das gehört nicht zu meinem Dienst. Sie empfängt zu verschiedenen Zeiten, je nach der Persönlichkeit. Die Schneiderin wird schon um elf Uhr vorgelassen. Gawrila Ardalionowitsch wird ebenfalls früher empfangen als andere, sogar zum ersten Frühstück.«
»Hier bei Ihnen ist es im Winter in den Zimmern wärmer als im Ausland«, bemerkte der Fürst; »aber dafür ist es dort auf den Straßen wärmer als bei uns. So ist es einem Russen kaum möglich, im Winter dort in den Häusern zu wohnen, weil er da nicht seine gewohnte Wärme hat.«
»Wird da nicht geheizt?«
»O doch, aber die Häuser sind anders gebaut, das heißt die Öfen und die Fenster.«
»Hm! Sind Sie denn lange im Ausland gereist?«
»Vier Jahre lang. Übrigens habe ich fast immer an einem Ort stillgesessen, auf dem Land.«
»Da haben Sie sich wohl unserer Verhältnisse entwöhnt?«
»Das ist richtig. Können Sie es glauben: ich wundere mich über mich selbst, daß ich das Russischsprechen nicht verlernt habe. Während ich jetzt mit Ihnen spreche, denke ich: ›Aber ich spreche ja noch ganz gut.‹ Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich soviel spreche. Wirklich, seit gestern habe ich fortwährend Lust, Russisch zu sprechen.«
»Hm! Haha! Haben Sie früher in Petersburg gewohnt?« (Trotz seiner Vorsätze brachte der Diener es doch nicht fertig, ein so höflich und bescheiden geführtes Gespräch seinerseits abzubrechen.)
»In Petersburg? Fast gar nicht, nur bei Durchreisen. Auch habe ich früher hier eigentlich nichts gekannt; und jetzt gibt es hier, höre ich, soviel Neues, daß, wie man sagt, auch wer vorher alles gekannt hat, jetzt alles von neuem lernen muß. Es wird hier jetzt viel von den Gerichten geredet.«
»Hm ...! Von den Gerichten. Die Gerichte, ja, ja, die Gerichte. Aber wie ist es dort? Geht es da beim Gericht gerechter zu oder nicht?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe über die unsrigen viel Gutes gehört. Da ist ja nun bei uns die Todesstrafe wieder abgeschafft.«
»Aber dort finden Hinrichtungen statt?«
»Ja. Ich habe in Frankreich bei einer zugesehen, in Lyon. Schneider hatte mich dazu mitgenommen.«
»Hängen sie die Menschen auf?«
»Nein, in Frankreich werden immer die Köpfe abgeschlagen.«
»Schreit denn der Betreffende dabei?«
»Bewahre! Es geht in einem Augenblick vor sich. Sie legen den Menschen hin, und dann fällt mittels einer Maschine (Guillotine heißt sie) so ein breites Messer mit einem schweren, kräftigen Schlag herunter
... Der Kopf fliegt ab, ehe man nur mit den Augen blinzeln kann. Die Vorbereitungen sind allerdings peinlich. Wenn das Urteil verkündet ist, machen sie den Hinzurichtenden zurecht, binden ihn und führen ihn auf das Schafott; das ist schrecklich! Das Volk läuft zusammen, sogar die Weiber, obwohl man es dort nicht gern hat, daß Weiber dabei zusehen.«
»Die haben dabei auch nichts zu suchen.«
»Gewiß, gewiß! Solche Qualen mit anzusehen ...! Der Verurteilte war ein gebildeter, unerschrockener, kräftiger Mann, schon bei Jahren. Legros war sein Name. Nun, sehen Sie, ich sage Ihnen, ob Sie es nun glauben oder nicht: als er auf das Schafott heraufkam, da weinte er und sah weiß aus wie ein Blatt Papier. Ist das möglich? Ist das nicht entsetzlich? Wer weint denn vor Angst? Ich hatte nicht gedacht, daß jemand, der kein Kind ist, vor Angst weinen könnte, ein Mann, der nie geweint hat, ein Mann von fünfundvierzig Jahren. Was mag mit der Seele in diesem Augenblick vorgehen? In was für krampfhafte Zuckungen wird sie versetzt? Es ist eine Peinigung der Seele, weiter nichts! Es gibt ein Gebot: ›Du sollst nicht töten!‹, und da tötet man nun dafür, daß jemand getötet hat, auch ihn? Nein, das darf nicht sein! Es ist jetzt schon einen Monat her, daß ich das gesehen habe; aber es ist mir bis heute noch, als ob ich es vor Augen hätte. Ich habe wohl fünfmal davon geträumt.«
Der Fürst war beim Sprechen ordentlich eifrig geworden, und eine leichte Röte war auf seinem blassen Gesicht hervorgetreten, obgleich er äußerlich so still und ruhig redete wie vorher. Der Kammerdiener hörte ihm mit teilnahmsvollem Interesse zu und wünschte, wie es schien, nicht mehr, sich von dem Gespräch loszumachen; vielleicht war auch er ein Mensch mit Einbildungskraft und einem Hang zum Nachdenken.
»Es ist wenigstens noch gut, daß nicht viel Quälerei dabei ist, wenn der Kopf abfliegt«, bemerkte er.
»Wissen Sie was?« erwiderte der Fürst lebhaft. »Da sagen Sie das nun, und alle Leute sagen das ebenso wie Sie, und die Maschine, die Guillotine, ist ja auch zu diesem Zweck erfunden. Aber mir ging gleich damals ein gewisser Gedanke durch den Kopf: wie, wenn das sogar noch schlimmer wäre? Das scheint Ihnen lächerlich und seltsam; aber wenn man etwas Einbildungskraft besitzt, so kann einem wohl auch ein solcher Gedanke in den Kopf kommen. Überlegen Sie nur: nehmen wir zum Beispiel die Folter; dabei finden Schmerzen und Verwundungen, das heißt körperliche Qualen, statt, und daher lenkt dies alles den Gefolterten von dem seelischen Leiden ab, so daß er nur von den Wunden Qualen empfindet bis zu dem Augenblick, wo er stirbt. Aber der ärgste, stärkste Schmerz wird vielleicht nicht durch Verwundungen hervorgerufen, sondern dadurch, daß man mit Sicherheit weiß: nach einer Stunde, dann: nach zehn Minuten, dann: nach einer halben Minute, dann: jetzt in diesem Augenblick wird die Seele aus dem Körper hinausfliegen, und man wird aufhören, ein Mensch zu sein, und daß das sicher ist; die Hauptsache ist, daß das sicher ist. Wenn man so den Kopf gerade unter das Messer legt und hört, wie es über dem Kopf herabgleitet, dann muß diese Viertelsekunde das Allerschrecklichste sein. Wissen Sie wohl, daß das nicht eine Phantasie von mir ist, sondern daß das schon viele gesagt haben? Ich glaube das so bestimmt, daß ich Ihnen gegenüber diese meine Ansicht offen ausspreche. Wenn man jemanden, der getötet hat, dafür tötet, so ist die Strafe unverhältnismäßig viel größer als das Verbrechen. Die Tötung auf Grund eines Urteilsspruches ist unverhältnismäßig viel schrecklicher als die von einem Räuber begangene. Derjenige, welchen Räuber töten, wird bei Nacht gemordet, im Wald, oder sonst auf irgendeine Weise; in jedem Fall hofft er noch bis zum letzten Augenblick auf Rettung. Es hat Beispiele gegeben, daß einem schon die Kehle durchgeschnitten war und er doch noch hoffte, und entweder davonzulaufen suchte oder um sein Leben bat. Aber hier ist einem diese ganze letzte Hoffnung, mit der das Sterben zehnmal so leicht ist, mit Sicherheit genommen. Hier ist ein Urteilsspruch, und die ganze schreckliche Qual besteht in dem Bewußtsein, daß man mit Sicherheit dem Tod nicht entgehen kann, und eine schlimmere Qual als diese gibt es auf der Welt nicht. Man führe einen Soldaten in der Schlacht einer Kanone gerade gegenüber und stelle ihn dorthin und schieße auf ihn; er wird noch immer hoffen; aber man lese diesem selben Soldaten das Urteil vor, das ihn mit Sicherheit dem Tode weiht, und er wird den Verstand verlieren oder zu weinen anfangen. Wer kann denn glauben, daß die menschliche Natur imstande sei, dies zu ertragen, ohne in Irrsinn zu geraten? Wozu eine solche gräßliche, unnütze, zwecklose Marter? Vielleicht gibt es auch einen Menschen, dem man das Todesurteil vorgelesen hat, den man sich hat quälen lassen, und zu dem man dann gesagt hat: ›Geh hin; du bist begnadigt!‹ Ein solcher Mensch könnte vielleicht erzählen. Von dieser Qual und von diesem Schrecken hat auch Christus gesprochen. Nein, so darf man mit einem Menschen nicht verfahren!«
Obgleich der Kammerdiener all dies nicht hätte so ausdrücken können wie der Fürst, verstand er doch, wenn auch nicht alles, so doch gewiß die Hauptsache, was sogar an seiner gerührten Miene wahrzunehmen war.
»Wenn Sie so sehr wünschen zu rauchen«, sagte er, »so würde das vielleicht auch gehen; nur müßten Sie es sehr bald tun. Denn er könnte auf einmal nach Ihnen fragen, und dann wären Sie nicht da. Sehen Sie, dort unter der kleinen Treppe ist eine Tür. Gehen Sie in die Tür hinein, rechts ist ein Kämmerchen, da können Sie rauchen; nur müssen Sie die Luftklappe aufmachen, denn das Rauchen ist hier doch nicht in der Ordnung.«
Aber der Fürst kam nicht mehr dazu, fortzugehen und zu rauchen. In das Vorzimmer trat ein junger Mann mit Papieren in der Hand. Der Kammerdiener nahm ihm den Pelz ab. Der junge Mann schielte nach dem Fürsten hin.
»Der Herr da sagt mir, Gawrila Ardalionowitsch«, begann der Kammerdiener in vertraulichem, beinahe familiärem Ton, »daß er ein Fürst Myschkin und ein Verwandter der gnädigen Frau sei; er ist mit dem Zug vom Ausland gekommen, mit einem Bündelchen in der Hand, aber ...«
Das Weitere konnte der Fürst nicht verstehen, da der Kammerdiener zu flüstern anfing. Gawrila Ardalionowitsch hörte aufmerksam zu und betrachtete den Fürsten mit großem Interesse; schließlich hörte er auf zuzuhören und trat ungeduldig näher an ihn heran.
»Sie sind Fürst Myschkin?« fragte er sehr freundlich und höflich.
Es war ein recht netter junger Mann, ebenfalls etwa achtundzwanzig Jahre alt, schlank, blond, von Mittelgröße, mit einem kleinen Napoleonbärtchen und einem verständigen, sehr hübschen Gesicht. Nur war sein Lächeln bei all seiner Liebenswürdigkeit ein wenig zu schlau; die Zähne traten dabei ein wenig zu perlenartig heraus; der Blick war trotz all seiner Heiterkeit und anscheinenden Offenherzigkeit etwas zu scharf und forschend.
Der Fürst hatte die Empfindung: »Wenn er allein ist, sieht er wahrscheinlich ganz anders aus und lacht vielleicht nie.«
Der Fürst setzte ihm alles, was er in der Geschwindigkeit konnte, auseinander, fast dasselbe, was er schon vorher dem Kammerdiener und noch früher seinem Reisegefährten Rogoschin auseinandergesetzt hatte. Gawrila Ardalionowitsch schien unterdessen in seinem Gedächtnis etwas zu suchen.
»Haben Sie nicht«, fragte er, »vor einem Jahr oder vor noch kürzerer Zeit einen Brief, wenn mir recht ist, aus der Schweiz an Lisaweta Prokofjewna geschickt?«
»Ganz richtig.«
»Dann kennt man Sie hier und wird sich Ihrer sicherlich erinnern. Sie wollen zu Seiner Exzellenz? Ich werde Sie sofort melden ... Er wird gleich frei sein. Nur sollten Sie ... Sie sollten bis dahin ins Wartezimmer gehen ... Warum ist der Herr hier?« wandte er sich in strengem Ton an den Kammerdiener.
»Ich sagte schon, der Herr wollte selbst nicht ...«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers, und ein Offizier mit einem Portefeuille unter dem Arm kam laut redend und sich verabschiedend heraus.
»Du bist hier, Ganja?« rief eine Stimme aus dem Arbeitszimmer. »So komm doch herein!«
Gawrila Ardalionowitsch nickte dem Fürsten zu und begab sich eilig in das Arbeitszimmer.
Ungefähr zwei Minuten darauf öffnete sich die Tür von neuem, und Gawrila Ardalionowitschs wohlklingende, höfliche Stimme rief:
»Bitte, treten Sie näher, Fürst!«
Der General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin stand mitten in seinem Arbeitszimmer und betrachtete mit größter Neugier den eintretenden Fürsten; er ging ihm sogar zwei Schritte entgegen. Der Fürst trat zu ihm heran und stellte sich ihm vor.
»Sehr wohl«, antwortete der General; »womit kann ich Ihnen dienen?«
»Ein dringliches Geschäft habe ich nicht; meine Absicht war einfach, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich möchte nicht stören, da ich weder Ihren Empfangstag noch Ihre Dispositionen kenne ... Aber ich komme eben von der Bahn ... ich bin aus der Schweiz hergereist.«
Der General war nahe daran, zu lächeln; aber er überlegte und hielt inne; dann überlegte er noch ein wenig, kniff die Augen zusammen, musterte seinen Gast noch einmal vom Kopf bis zu den Füßen, wies ihm dann schnell einen Stuhl an, setzte sich selbst ihm schräg gegenüber und wandte sich in ungeduldiger Erwartung zum Fürsten hin. Ganja stand in einer Ecke des Arbeitszimmers am Schreibtisch und blätterte in Papieren.
»Für neue Bekanntschaften habe ich im allgemeinen nur wenig Zeit«, sagte der General; »aber da Sie gewiß dabei Ihre Absicht haben, so ...«
»Ich habe es mir vorher gedacht«, unterbrach ihn der Fürst, »daß Sie in meinem Besuch jedenfalls irgendeine besondere Absicht sehen würden. Aber bei Gott, außer dem Vergnügen, mit Ihnen bekannt zu werden, habe ich keinerlei besondere Absicht.«
»Das Vergnügen ist sicherlich auch für mich ein sehr großes; aber man kann sich nicht immer dem Vergnügen widmen; es kommen manchmal auch Geschäfte vor, wie Sie wissen werden ... Außerdem vermag ich bis jetzt absolut nicht eine gemeinsame Beziehung zwischen uns zu erkennen ... sozusagen einen triftigen Grund ...«
»Ein triftiger Grund ist unstreitig nicht vorhanden und gemeinsame Beziehungen gewiß nur wenige. Denn daß ich Fürst Myschkin bin und Ihre Gemahlin aus unserem Geschlecht stammt, ist selbstverständlich kein triftiger Grund. Das sehe ich sehr wohl ein. Aber doch liegt darin der ganze Anlaß meines Besuches. Ich bin ungefähr vier Jahre nicht in Rußland gewesen, mehr als vier Jahre; und als ich wegfuhr, war ich beinahe nicht bei Sinnen! Damals kannte ich nichts in der Welt, und jetzt noch weniger. Ich bedarf des Verkehrs mit guten Menschen; und dann habe ich da auch noch eine geschäftliche Angelegenheit, und ich weiß nicht, wohin ich mich in betreff derselben um Rat wenden soll. Schon in Berlin dachte ich: ›Das sind beinah Verwandte von mir; mit denen werde ich den Anfang machen; vielleicht passen wir zueinander, sie zu mir und ich zu ihnen – wenn sie gute Menschen sind.‹ Und daß Sie gute Menschen seien, hatte ich gehört.«
»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, versetzte der General verwundert. »Gestatten Sie die Frage: wo sind Sie abgestiegen?«
»Ich bin noch nirgends abgestiegen.«
»Also sind Sie geradewegs von der Bahn zu mir gekommen? Und ... mit dem Gepäck?«
»Als ganzes Gepäck habe ich ein einziges kleines Bündelchen mit Wäsche bei mir, weiter nichts; das trage ich gewöhnlich in der Hand. Ich werde am Abend noch Zeit haben, mir ein Zimmer zu nehmen.«
»Also beabsichtigen Sie auch jetzt noch, in einen Gasthof zu gehen?«
»Ja, gewiß.«
»Nach Ihren Worten hatte ich beinah geglaubt, daß Sie einfach bei mir Quartier nehmen wollten.«
»Das wäre doch nur möglich, wenn Sie mich einlüden. Ich gestehe indessen, daß ich auch im Fall einer Einladung nicht hierbleiben würde, nicht aus irgendeinem besonderen Grund, sondern nur, weil das so in meinem Charakter liegt.«
»Nun, da trifft es sich ja gut, daß ich Sie nicht eingeladen habe und nicht einladen werde. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, Fürst, um gleich mit einemmal alles klarzulegen: da wir uns soeben darüber ausgesprochen haben, daß von einer Verwandtschaft zwischen uns nicht die Rede sein kann, obwohl eine solche für mich selbstverständlich sehr schmeichelhaft sein würde, so folgt daraus ...«
»So folgt daraus, daß ich aufstehen und weggehen soll?« sagte der Fürst, sich erhebend, und lachte dabei trotz der schwierigen Lage, in der er sich offenbar befand, ganz heiter. »Und bei Gott, General, obwohl ich absolut keine praktische Kenntnis davon habe, was hier Brauch ist und wie hier überhaupt die Menschen leben, so hatte ich mir doch gedacht, daß zwischen uns die Sache genau den Verlauf nehmen werde, den sie jetzt wirklich genommen hat. Nun, vielleicht ist es so auch ganz in der Ordnung ... Ich hatte ja auch damals auf meinen Brief keine Antwort bekommen ... Nun also, leben Sie wohl, und entschuldigen Sie, daß ich gestört habe!«
Die Miene des Fürsten war in diesem Augenblick so freundlich und sein Lächeln so frei von jeder Beimischung irgendeines verborgenen feindseligen Gefühls, daß der General plötzlich stutzte und seinen Gast in anderer Weise ansah; die ganze Veränderung seiner Ansicht vollzog sich in einem einzigen Moment.
»Wissen Sie, Fürst«, sagte er in ganz anderem Ton, »ich kenne Sie ja noch gar nicht, und auch Lisaweta Prokofjewna wird vielleicht den Wunsch haben, ihren Namensvetter zu sehen ... Warten Sie doch ein Weilchen, wenn Sie wollen und Ihre Zeit es erlaubt.«
»Oh, meine Zeit erlaubt es schon; meine Zeit steht ganz zu meiner Verfügung.« (Der Fürst legte sogleich seinen weichen, rundkrempigen Hut auf den Tisch.) »Ich muß bekennen, ich hatte auch darauf gerechnet, daß Lisaweta Prokofjewna sich vielleicht an das, was ich ihr geschrieben habe, erinnern werde. Vorhin, als ich dort bei Ihnen wartete, argwöhnte Ihr Diener, daß ich gekommen sei, um Sie um eine Unterstützung zu bitten; ich merkte das, und Sie werden wohl in dieser Hinsicht strenge Instruktionen erteilt haben; aber ich bin nicht deswegen hergekommen, sondern wirklich nur, um mit Menschen zusammenzukommen. Ich fürchte nur, Ihnen lästig gewesen zu sein, und das beunruhigt mich.«
»Hören Sie, Fürst«, sagte der General mit einem heiteren Lächeln, »wenn Sie wirklich ein solcher Mensch sind, wie es den Anschein hat, so wird die Bekanntschaft mit Ihnen vielleicht ganz angenehm sein; nur sehen Sie: ich bin von Geschäften stark in Anspruch genommen und muß mich gleich wieder hinsetzen und dies und das durchsehen und unterschreiben, und dann begebe ich mich zu Seiner Erlaucht und dann in den Dienst; so kommt es, daß, wenn mir auch der Verkehr mit guten Menschen Freude macht ... das heißt ... aber ... Übrigens bin ich von Ihrer vortrefflichen Erziehung so fest überzeugt, daß ... Aber wie alt sind Sie eigentlich, Fürst?«
»Sechsundzwanzig Jahre.«
»Oh! Ich hatte Sie weit jünger geschätzt.«
»Ja, man sagt mir, daß ich ein jugendliches Gesicht habe. Aber Sie nicht zu stören, das werde ich schon lernen und bald begreifen, weil es mir selbst sehr zuwider ist, jemanden zu stören ... Und schließlich sind wir, wie mir scheint, dem Äußeren nach in vielerlei Hinsicht so verschiedene Menschen, daß wir wohl nicht viele Berührungspunkte haben können. Aber wissen Sie, an diese letzte Bemerkung glaube ich selbst nicht recht; denn sehr oft scheint es nur so, daß keine Berührungspunkte vorhanden seien, und sie sind doch in Menge da ... das kommt von der menschlichen Trägheit her, indem die Menschen einander nur nach dem äußeren Schein klassifizieren und dabei keine Ähnlichkeiten finden können ... Aber ich langweile Sie wohl schon? Es kommt mir vor, als ob Sie ...«
»Nur zwei Worte: besitzen Sie wenigstens etwas Vermögen? Oder beabsichtigen Sie vielleicht, irgendwelche Beschäftigung zu ergreifen? Verzeihen Sie, daß ich so ...« »Aber ich bitte Sie, ich finde Ihre Frage sehr natürlich und begreiflich. Ich besitze zur Zeit gar kein Vermögen und habe vorläufig auch keine Beschäftigung, möchte aber eine solche haben. Ich habe jetzt von fremdem Geld gelebt; mein Professor Schneider, bei dem ich in der Schweiz eine Kur machte und mich wissenschaftlich weiterbildete, hat mir das Reisegeld gegeben, und zwar nur gerade ausreichend, so daß ich jetzt nur noch einige Kopeken übrig habe. Allerdings habe ich da eine geschäftliche Angelegenheit, in der ich einen guten Rat gebrauchen könnte; aber ...«
»Sagen Sie, wovon beabsichtigen Sie denn zunächst zu leben, und welches sind Ihre Pläne für die Zukunft?« unterbrach ihn der General.
»Ich wollte irgendwie arbeiten.«
»Oh, Sie sind offenbar ein Philosoph; indessen ... besitzen Sie nach Ihrem eigenen Urteil irgendwelche Talente oder wenigstens einige Fähigkeiten, das heißt solche, durch die man sich sein tägliches Brot verdienen kann? Verzeihen Sie wieder ...«
»Oh, es bedarf keiner Entschuldigung! Nein, ich besitze meiner Meinung nach weder Talente noch besondere Fähigkeiten; im Gegenteil, ich habe sogar, weil ich ein kranker Mensch bin, keinen regulären Unterrichtsgang durchgemacht. Was das tägliche Brot anlangt, so möchte ich meinen ...«
Der General unterbrach ihn wieder und begann, ihn von neuem zu fragen. Der Fürst erzählte noch einmal alles, was er schon vorher erzählt hatte. Es stellte sich heraus, daß der General von dem verstorbenen Pawlischtschew gehört und ihn sogar persönlich gekannt hatte. Warum Pawlischtschew sich für die Erziehung des Fürsten interessiert hatte, das wußte dieser selbst nicht zu erklären; vielleicht einfach aus alter Freundschaft mit seinem verstorbenen Vater. Der Fürst war noch ein kleines Kind gewesen, als der Tod seiner Eltern ihn zur Waise machte, war auf dem Lande aufgewachsen und hatte dort seine ganze Jugend verlebt, namentlich auch, weil sein Gesundheitszustand Landluft verlangte. Pawlischtschew hatte ihn ein paar alten Gutsbesitzerinnen, die mit ihm verwandt waren, anvertraut; es wurde für ihn zuerst eine Gouvernante, dann ein Hauslehrer angenommen; er erklärte übrigens, daß er sich zwar an alles erinnere, aber nur über weniges in befriedigender Weise zu berichten vermöge, da er sich über vieles seinerzeit nicht habe Rechenschaft geben können. Die häufigen Krankheitsanfälle hätten ihn fast ganz zum Idioten gemacht (der Fürst gebrauchte diesen Ausdruck: zum Idioten). Er erzählte endlich, daß Pawlischtschew eines Tages in Berlin den Schweizer Professor Schneider kennengelernt habe, der sich speziell mit diesen Krankheiten beschäftige, in der Schweiz, im Kanton Wallis, eine Heilanstalt besitze und dort nach seiner eigenen Methode Idiotie und andere Geisteskrankheiten mit kaltem Wasser und gymnastischen Übungen kuriere, und dabei seine Patienten auch unterrichte und überhaupt für ihre geistige Entwicklung sorge; zu diesem Professor Schneider habe Pawlischtschew ihn vor etwa vier Jahren nach der Schweiz geschickt, sei aber selbst vor zwei Jahren plötzlich gestorben, ohne weitere Anordnungen getroffen zu haben; Schneider habe ihm noch zwei Jahre lang Unterhalt gewährt und ihn behandelt; er habe ihn zwar nicht völlig geheilt, aber doch eine erhebliche Besserung seines Zustandes herbeigeführt; zuletzt habe er ihn auf seinen eigenen Wunsch und infolge eines eingetretenen Ereignisses jetzt nach Rußland geschickt.
Der General war sehr erstaunt. »Und Sie kennen bei uns in Rußland niemand, absolut niemand?« fragte er.
»Zur Zeit kenne ich niemand ... aber ich hoffe ... außerdem habe ich einen Brief erhalten ...«
»Aber Sie haben doch wenigstens«, unterbrach ihn der General, ohne auf das, was der Fürst von einem Brief sagte, recht hinzuhören, »irgend etwas gelernt, und Ihre Krankheit hindert Sie nicht, eine nicht gerade mühevolle Stelle auf irgendeinem dienstlichen Gebiet anzunehmen?«
»Oh, daran wird sie mich gewiß nicht hindern. Und was eine Stelle betrifft, so ist es sogar mein lebhafter Wunsch, eine solche zu erhalten, weil ich selbst gern sehen möchte, wozu ich tauglich bin. An meiner geistigen Bildung habe ich die ganzen vier Jahre lang beständig gearbeitet, wiewohl nicht in regelrechter Form, sondern nach des Professors eigenem System, und es ergab sich, daß ich dabei sehr viele russische Bücher las.«
»Russische Bücher? Also können Sie Russisch lesen und schreiben, und zwar schreiben ohne orthographische Fehler?«
»Oh, das kann ich sehr wohl.«
»Vortrefflich! Und wie steht es mit der Handschrift?«
»Meine Handschrift ist vorzüglich. Hierin besitze ich vielleicht sogar Talent; ich bin geradezu ein Kalligraph. Gestatten Sie, daß ich Ihnen sofort etwas zur Probe schreibe!« sagte der Fürst eifrig.
»Haben Sie die Freundlichkeit! Es ist das sogar erforderlich ... Und diese Ihre Bereitwilligkeit gefällt mir sehr, Fürst; Sie sind wirklich sehr liebenswürdig.«
»Sie haben so prächtige Schreibutensilien: was für eine Menge Bleistifte und Federn und wie kräftiges, prachtvolles Papier ...! Und was haben Sie für ein wundervolles Arbeitszimmer! Diese Landschaft hier kenne ich: es ist eine Ansicht aus der Schweiz. Ich glaube sicher, daß der Maler das Bild nach der Natur gemalt hat und daß ich diese Örtlichkeit gesehen habe: es ist aus dem Kanton Uri ...«
»Das kann leicht sein, wiewohl das Bild hier gekauft ist. Ganja, gib dem Fürsten Papier; hier sind Federn und Papier. Bitte, setzen Sie sich an dieses Tischchen! Was ist das?« sagte der General zu Ganja gewendet, der unterdessen aus seinem Portefeuille eine Photographie in großem Format herausgenommen hatte und sie ihm nun zeigte. »Ah, Nastasja Filippowna! Hat sie dir das selbst geschickt? Selbst?« fragte er Ganja lebhaft und mit dem größten Interesse.
»Sie hat es mir soeben gegeben, als ich da war, um ihr zu gratulieren. Ich hatte sie schon lange darum gebeten. Ich weiß nicht, ob das nicht etwa von ihrer Seite eine Anspielung darauf sein soll, daß ich selbst mit leeren Händen, ohne ein Geschenk, an einem solchen Tag zu ihr kam«, fügte Ganja mit einem unangenehmen Lächeln hinzu.
»Aber nein!« unterbrach ihn der General im Tone fester Überzeugung. »Was ist das bei dir für eine seltsame Gedankenverbindung! Die sollte eine solche Anspielung machen ... und dabei ist sie überhaupt ganz und gar nicht eigennützig. Außerdem: was könntest du ihr schenken? Dazu gehören ja doch Tausende! Etwa dein Bild? Apropos, hat sie dich noch nicht um dein Bild gebeten?«
»Nein, das hat sie noch nicht getan, und sie wird es auch vielleicht nie tun. Sie denken doch gewiß an die heutige Abendgesellschaft, Iwan Fjodorowitsch? Sie haben doch gewiß auch eine ausdrückliche Einladung erhalten?«
»Gewiß, ich denke daran, gewiß, und werde hingehen. Selbstverständlich! Ihr Geburtstag, an dem sie fünfundzwanzig Jahre alt wird! Hm ...! Aber weißt du, Ganja, ich will es dir nur in Gottes Namen verraten. Bereite dich vor! Sie hat mir und Afanasi Iwanowitsch versprochen, sie werde heute abend bei sich zu Hause das letzte Wort sagen: sein oder nicht sein. Also mache dich darauf gefaßt, weißt du!«
Ganja geriet auf einmal in eine solche Bestürzung, daß er sogar ein wenig blaß wurde. »Hat sie das wirklich gesagt?« fragte er, und es war, als zittere ihm die Stimme.
»Vorgestern hat sie uns ihr Wort darauf gegeben. Wir haben sie beide so in die Enge getrieben, daß sie nicht anders konnte. Nur bat sie uns, dir vorher nichts davon mitzuteilen.«
Der General blickte Ganja forschend ins Gesicht; Ganjas Bestürzung mißfiel ihm offenbar.
»Halten Sie es sich gegenwärtig, Iwan Fjodorowitsch«, sagte Ganja in aufgeregtem, unsicherem Ton, »daß sie mir ja für meine Entschließung volle Freiheit gelassen hat bis zu dem Augenblick, wo sie selbst sich entschieden haben wird; und auch dann habe ich es immer noch in der Hand, mein Wort ...«
»Also willst du vielleicht ... also willst du vielleicht ...«, unterbrach ihn der General erschrocken.
»Ich habe nichts gesagt.«
»Aber ich bitte dich, was willst du uns antun?«
»Ich weigere mich ja nicht. Ich habe mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt ...«
»Das fehlte auch noch, daß du dich weigertest!« rief der General unwillig, ohne seinen Ärger verbergen zu wollen. »Lieber Freund, was du jetzt zu tun hast, ist nicht etwa, dich ›nicht zu weigern‹, sondern bereitwillig, mit Vergnügen, mit Freude ihr Jawort zu empfangen ... Wie steht es denn bei dir zu Hause?«
»Bei mir zu Hause? Bei mir zu Hause geht alles nach meinem Willen. Nur mein Vater treibt seine Dummheiten wie gewöhnlich; er ist jetzt schon ein ganz verkommener Mensch; ich rede mit ihm gar nicht mehr, aber ich halte ihn kurz im Zaum und würde ihm, weiß Gott, die Tür weisen, wenn ich nicht auf die Mutter Rücksicht nähme. Die Mutter weint natürlich fortwährend, und die Schwester erbost sich; aber ich habe ihnen schließlich klipp und klar gesagt, daß ich mein Schicksal selbst zu bestimmen habe und im Haus meine Anordnungen befolgt zu sehen wünsche. Meiner Schwester wenigstens habe ich das in Gegenwart der Mutter mit aller Deutlichkeit gesagt.«
»Recht klug werde ich aus der Sache immer noch nicht, lieber Freund«, bemerkte der General nachdenklich, wobei er die Achseln etwas in die Höhe zog und die Arme ein wenig ausbreitete. »Nina Alexandrowna hat mir noch neulich, als sie hergekommen war (du erinnerst dich wohl?), etwas vorgestöhnt und vorgejammert: ›Was haben Sie denn eigentlich?‹ fragte ich sie. Schließlich kam es heraus, daß sie darin eine Art von ›Entehrung‹ sehen. Nun möchte ich bloß wissen, was darin für eine Entehrung liegen soll! Wer kann Nastasja Filippowna irgendeinen Vorwurf machen oder ihr irgend etwas Schlechtes beweisen? Etwa daß sie mit Tozki ein Verhältnis gehabt hat? Aber das ist ja doch lauter dummes Zeug, namentlich in Anbetracht gewisser Umstände! ›Sie werden sie doch auch nicht mit Ihren Töchtern verkehren lassen‹, sagte sie. Na, so was! Ei, ei, Nina Alexandrowna! Das ist ja doch eine arge Verkennung ... eine arge Verkennung ...«
»Der eigenen Stellung«, ergänzte Ganja den Satz des Generals, der nach einem Ausdruck suchte. »Aber sie versteht ihre Stellung; seien Sie ihr nicht böse! Ich habe ihnen übrigens damals gehörig den Kopf gewaschen, damit sie sich nicht wieder in fremde Angelegenheiten hineinmischen. Und doch bleibt bisher bei uns zu Hause alles nur deswegen im Geleise, weil das letzte Wort noch nicht gesprochen ist; aber das Gewitter rückt heran. Wenn heute das letzte Wort gesprochen wird, dann ist damit alles entschieden.«
Der Fürst, der in einer Ecke bei seinem kalligraphischen Probestück saß, hörte dieses ganze Gespräch mit an. Nun war er fertig geworden, trat an den Tisch und überreichte dem General sein Blatt.
»Also das ist Nastasja Filippowna?« sagte er, indem er das Porträt aufmerksam und neugierig betrachtete. »Ein wunderbar schönes Weib!« setzte er sogleich lebhaft hinzu.
Das Porträt stellte in der Tat eine Frau von ungewöhnlicher Schönheit dar. Sie hatte sich in einem schwarzen Seidenkleid von außerordentlich einfachem, elegantem Schnitt photographieren lassen; das anscheinend dunkelblonde Haar zeigte eine schlichte, für das Haus bestimmte Frisur; die Augen waren dunkel und tief, die Stirn nachdenklich; das Gesicht trug einen leidenden und dabei, wie es schien, doch hochmütigen Ausdruck. Sie war im Gesicht etwas mager und vielleicht auch blaß. Ganja und der General sahen den Fürsten erstaunt an.
»Nastasja Filippowna? Kennen Sie Nastasja Filippowna etwa schon?« fragte der General.
»Ja, ich bin erst vierundzwanzig Stunden in Rußland und kenne bereits ein so schönes Weib«, antwortete der Fürst.
Und nun berichtete er von seiner Begegnung mit Rogoschin und teilte alles mit, was dieser ihm erzählt hatte.
»Das ist ja eine hübsche Neuigkeit!« rief der General, der wieder in Unruhe geraten war. Er hatte die Erzählung mit großer Aufmerksamkeit angehört und blickte nun Ganja fragend an.
»Wahrscheinlich nur so eine Unschicklichkeit«, murmelte dieser, dem gleichfalls eine gewisse Betroffenheit anzumerken war. »Ein Kaufmannssöhnchen extravagiert. Ich hatte schon etwas davon gehört.«
»Auch ich hatte davon gehört, lieber Freund«, erwiderte der General. »Nastasja Filippowna hat mir gleich damals nach der Geschichte mit den Ohrringen den ganzen Hergang erzählt. Aber die Sache gewinnt jetzt ein anderes Gesicht. Hier kommt vielleicht wirklich eine Million ins Spiel und ... und eine Leidenschaft. Eine verdrehte Leidenschaft allerdings, aber es sieht doch nach Leidenschaft aus, und man weiß ja, wozu diese Herren in solchem Rausch fähig sind ...! Hm ...! Wenn daraus nur nicht ein Skandal entsteht!« schloß der General nachdenklich.
»Sie haben Furcht vor der Million?« fragte Ganja lächelnd.
»Du wohl nicht?«
»Was hatten Sie für einen Eindruck, Fürst?« wandte sich Ganja plötzlich an Myschkin. »Ist das ein energischer Mensch oder nur so ein windiger Patron? Wie urteilen Sie über ihn?«
In Ganja ging, als er diese Frage stellte, etwas Besonderes vor. Ein neuer, eigenartiger Gedanke war, wie es schien, in seinem Gehirn aufgeflammt und leuchtete nun ungeduldig aus seinen Augen hervor. Der General, der in wirkliche, ernste Unruhe geraten war, schielte gleichfalls nach dem Fürsten hin, aber mit einem Gesicht, als wenn er von dessen Antwort nicht viel erwarte.
»Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll«, antwortete der Fürst, »aber es schien mir, daß er von einer starken Leidenschaft, ja von einer krankhaften Leidenschaft ergriffen sei. Auch körperlich machte er noch durchaus den Eindruck eines Kranken. Sehr gut möglich, daß er sich gleich in den ersten Tagen seines Aufenthalts hier in Petersburg wieder ins Bett legen muß, namentlich, wenn er zu wild drauflos lebt.«
»So! Also diesen Eindruck hatten Sie?« fragte der General, dessen Interesse dieser Gedanke erregte.
»Ja, den Eindruck hatte ich.«
»Und derartige Skandalgeschichten werden sich möglicherweise nicht erst in einigen Tagen ereignen, sondern es kann noch heute, ehe es Abend wird, eine überraschende Wendung eintreten«, sagte Ganja lächelnd zum General.
»Hm ...! Gewiß ... Gut möglich; es hängt ganz davon ab, was sie gerade für einen Einfall hat«, versetzte der General.
»Sie wissen ja, wie wunderlich sie manchmal ist.«
»Was meinst du damit?« rief der General, der sehr verstimmt war, heftig. »Hör mal, Ganja, tu mir den Gefallen und widersprich ihr heute nicht zuviel, und gib dir Mühe, so recht ... weißt du ... mit einem Wort, so recht herzlich zu sein ... Hm ...! Warum ziehst du den Mund schief? Hör mal, Gawrila Ardalionowitsch, ich halte es für zweckmäßig, für sehr zweckmäßig, dir zu sagen: wozu geben wir uns all die Mühe? Du siehst wohl ein, daß ich mich in betreff meines eigenen Gewinnanteils, den mir die Sache bringen soll, längst gesichert habe; ich werde die Angelegenheit auf die eine oder die andere Art, aber jedenfalls zu meinem Vorteil erledigen. Tozki hat seinen Entschluß gefaßt und wird daran unerschütterlich festhalten, so daß ich mich völlig darauf verlassen kann. Wenn ich daher jetzt noch einen Wunsch hege, so habe ich dabei einzig und allein deinen Vorteil im Auge. Das kannst du dir doch selbst sagen; oder traust du mir etwa nicht? Dabei bist du doch ein Mensch ... ein Mensch ... mit einem Wort, ein Mensch, der Verstand besitzt, und ich habe in dieser Hinsicht auf dich gerechnet ... und Verstand ist doch im vorliegenden Fall ... im vorliegenden Fall ...«
»Die Hauptsache«, beendete Ganja den Satz, indem er wieder dem nach einem Ausdruck suchenden General zu Hilfe kam. Dabei verzog er seine Lippen zu einem boshaften Lächeln, das er nicht mehr zu verbergen suchte.
Er sah mit seinem brennenden Blick dem General gerade in die Augen, wie wenn er wünschte, daß jener in diesem Blick all seine Gedanken lesen möchte. Der General wurde dunkelrot und fuhr auf.
»Nun ja, Verstand ist die Hauptsache!« stimmte er bei und blickte dabei Ganja scharf an. »Du bist doch ein komischer Mensch, Gawrila Ardalionowitsch! Wie ich merke, freust du dich ordentlich über das Auftreten dieses Kaufmannssohnes, als ob du darin für dich einen Weg sähest, um aus der Sache herauszukommen. Aber gerade hier war es nötig, gleich von Anfang an Verstand zu beweisen; gerade hier war es nötig, zu begreifen und beiderseits offen und ehrlich zu verfahren, gegebenenfalls aber wenigstens vorher Mitteilung zu machen, um nicht andere Leute zu kompromittieren, um so mehr, da dazu Zeit genug vorhanden war und sogar jetzt noch Zeit genug ist« (der General zog bedeutsam die Augenbrauen in die Höhe), »trotzdem wir nur noch ein paar Stunden übrig haben ... Hast du verstanden? Ja? Willst du eigentlich, oder willst du nicht? Wenn du nicht willst, so sage es; das soll mir auch recht sein. Niemand wird Sie festhalten, Gawrila Ardalionowitsch, niemand Sie mit Gewalt in das Fuchseisen hineinziehen, wenn Sie wirklich hier nur ein Fuchseisen zu sehen glauben.«
»Ich will«, erwiderte Ganja halblaut, aber mit fester Stimme; dann schlug er die Augen nieder und verstummte mit finsterer Miene.
Der General war zufriedengestellt. Er war hitzig geworden, bereute es aber offenbar schon, daß er so weit gegangen war. Plötzlich wandte er sich zum Fürsten, und über sein Gesicht schien der beunruhigende Gedanke hinzugehen, daß der Fürst das alles mitangehört hatte. Aber er beruhigte sich sofort wieder völlig: dazu genügte ein einziger Blick auf diesen.
»Oho!« rief der General, als er das kalligraphische Probestück betrachtete, das ihm der Fürst hinreichte. »Das ist ja geradezu eine Schönschreibevorschrift! Und noch dazu eine von seltener Schönheit! Sieh mal, Ganja, was für ein Talent!«
Auf ein dickes Blatt Velinpapier hatte der Fürst mit mittelalterlicher russischer Schrift den Satz geschrieben:
»Der demütige Abt Pafnuti hat dies eigenhändig unterzeichnet.«
»Sehen Sie nur«, erklärte der Fürst mit außerordentlicher Freude und Lebhaftigkeit, »dies ist die eigenhändige Unterschrift des Abtes Pafnuti aus dem vierzehnten Jahrhundert, nach einem Faksimile. Sie bewiesen in ihren Unterschriften eine außerordentliche Kunst, all unsere alten Äbte und Metropoliten, und wie geschmackvoll sehen diese Unterschriften manchmal aus, und welche Sorgfalt lassen sie erkennen! Haben Sie nicht wenigstens die Pogodinsche Ausgabe, General? Dann habe ich Ihnen hier etwas in einer anderen Schrift geschrieben: das ist die runde, derbe französische Schrift des vorigen Jahrhunderts; einige Buchstaben weisen sogar abweichende Formen auf; es ist die Schrift der öffentlichen Schreiber, die auf den Marktplätzen saßen; ich habe sie aus einem ihrer Vorschriftenbücher entnommen, das ich besaß; Sie werden zugeben müssen, daß sie nicht ohne gewisse Vorzüge ist. Betrachten Sie nur diese runden O's und A's. Ich habe den französischen Schriftcharakter auf das russische Alphabet übertragen, was eine recht schwere Aufgabe war; aber es ist mir doch gut gelungen. Hier ist noch eine schöne, eigenartige Schrift, hier der Satz: ›Eifer überwindet alles‹. Das ist eine echt russische Schrift, die Schrift der Schreiber oder, wenn Sie wollen, der Militärschreiber. So schreibt man ein amtliches Schriftstück an eine hochgestellte Persönlichkeit; es ist gleichfalls eine runde Schrift, eine sehr schöne, schlichte Schrift, in schlichter Art, aber mit beachtenswertem Geschmack geschrieben. Ein Kalligraph würde diese Schnörkel oder, richtiger gesagt, diese Versuche zu schnörkeln, hier diese unvollendeten, halben Schwänzchen (sehen Sie, bitte, hier!) nicht billigen; aber im ganzen (wollen Sie darauf achten!) tritt doch darin ein bestimmter Charakter zutage, und es guckt daraus ordentlich die ganze Seele des Militärschreibers heraus: sie möchte sich gern frei ergehen, und das Talent bittet um die Möglichkeit, sich zu betätigen; aber der Uniformkragen ist fest zugehakt, die Disziplin kommt auch in der Handschrift zum Ausdruck, es ist zum Entzücken! Erst kürzlich frappierte mich eine solche Vorschrift, die ich zufällig fand, und wo hatte ich sie gefunden? In der Schweiz! Nun weiter! Hier ist die einfache, gewöhnliche, ganz reine englische Schrift, das Nonplusultra von Eleganz; da ist alles reizend, perlenartig, geradezu vollendet. Aber da ist noch eine Variation, und zwar wieder eine französische; ich habe sie einem französischen commis voyageur entlehnt: es ist dieselbe englische Schrift, aber die Grundstriche sind um eine Kleinigkeit dicker und kräftiger als bei der englischen, und gleich ist das Verhältnis von Licht und Schatten gestört. Und beachten Sie noch dies: die Gestalt der Ovale ist geändert; sie ist hier um eine Kleinigkeit rundlicher, und außerdem sind Schnörkel zugelassen; der Schnörkel aber, das ist ein höchst gefährliches Ding! Der Schnörkel verlangt einen ungewöhnlich guten Geschmack; aber wenn er dann gelingt, wenn das richtige Verhältnis getroffen ist, dann ist eine solche Schrift auch mit nichts zu vergleichen; man könnte sich geradezu in sie verlieben.«
»Oho! In was für Subtilitäten geraten Sie da hinein!« rief der General lachend. »Sie sind ja gar kein gewöhnlicher Kalligraph, mein Bester; Sie sind ein Künstler! Nicht wahr, Ganja?«
»Es ist zum Erstaunen!« sagte Ganja. »Und Sie sind sich auch dessen bewußt, wozu Sie berufen sind«, fügte er spöttisch lachend hinzu.
»Lache du nur, lache du nur!« sagte der General; »aber diese Fähigkeit eröffnet dem Fürsten eine gute Laufbahn. Wissen Sie, Fürst, an was für hohe Persönlichkeiten wir Sie jetzt werden Briefe schreiben lassen? Fünfunddreißig Rubel kann man Ihnen gleich von vornherein monatlich geben. Aber es ist schon halb eins«, unterbrach er sich mit einem Blick auf die Uhr. »Also schnell zur Sache, Fürst; denn ich muß mich beeilen, und wir werden uns heute vielleicht nicht mehr sehen.
Nehmen Sie einen Augenblick Platz; ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nicht in der Lage bin, Sie sehr oft zu empfangen; aber ich wünsche von Herzen, Ihnen ein klein wenig behilflich zu sein, selbstverständlich nur ein klein wenig, das heißt, was das Notwendigste anlangt; dann werden Sie sich ja selbst nach eigenem Belieben weiterhelfen. Eine kleine Stelle auf einem Bureau werde ich Ihnen beschaffen, keine sehr anstrengende, aber sie wird Pünktlichkeit verlangen. Jetzt ein Wort über das Weitere: In dem Hause, das heißt in der Familie Gawrila Ardalionowitsch Iwolgins, eben dieses meines jungen Freundes, mit dem ich mir erlaube Sie bekanntzumachen, haben seine Mutter und seine Schwester von ihrer Wohnung zwei oder drei möblierte Zimmer abgezweigt und geben sie an gut empfohlene Mieter mit Beköstigung und Bedienung ab. Auf meine Empfehlung hin wird, wie ich nicht zweifle, Nina Alexandrowna Sie aufnehmen. Für Sie, Fürst, wird das von außerordentlich hohem Wert sein, schon weil Sie dann nicht allein sein, sondern sich sozusagen im Schoß einer Familie befinden werden, und meiner Ansicht nach dürfen Sie bei den ersten Schritten in einer solchen Hauptstadt wie Petersburg nicht allein sein. Nina Alexandrowna, Gawrila Ardalionowitschs Mutter, und Warwara Ardalionowna, seine Schwester, sind Damen, die ich sehr hochschätze. Nina Alexandrowna ist die Gemahlin Ardalion Alexandrowitschs, eines pensionierten Generals, der zu Beginn meiner Dienstzeit mein Kamerad war, mit dem ich aber wegen gewisser Umstände die Beziehungen abgebrochen habe, was mich übrigens nicht hindert, ihn gebührendermaßen hochzuachten. Ich setze Ihnen dies alles auseinander, Fürst, damit Sie sehen, daß ich Sie sozusagen persönlich empfehle und folglich mich für Sie gewissermaßen verbürge. Der Preis ist ein sehr mäßiger, und ich hoffe, daß Ihr Gehalt bald völlig dazu ausreichen wird. Allerdings braucht man auch Taschengeld, wenigstens etwas; aber nehmen Sie es mir nicht übel, Fürst, wenn ich Ihnen bemerke, daß Sie am besten tun, auf Taschengeld zu verzichten und überhaupt kein Geld in der Tasche bei sich zu führen. Das ist meine Ansicht über Sie, und darum sage ich es Ihnen. Aber da jetzt Ihr Geldbeutel ganz leer ist, so gestatten Sie mir, Ihnen diese fünfundzwanzig Rubel hier anzubieten. Wir werden schon miteinander abrechnen, und wenn Sie wirklich ein so aufrichtiger, treuherziger Mensch sind, wie es nach Ihren Worten scheint, so können sich auch in dieser Hinsicht zwischen uns keinerlei Schwierigkeiten ergeben.
Wenn ich mich so für Sie interessiere, so habe ich in bezug auf Sie sogar eine bestimmte Absicht; Sie werden diese später noch kennenlernen. Sie sehen, ich verkehre mit Ihnen ganz zwanglos; ich hoffe, Ganja, du hast nichts dagegen, daß sich der Fürst in eurer Wohnung mit einquartiert?«
»Oh, ganz im Gegenteil! Auch meine Mutter wird sich sehr freuen ...«, versicherte Ganja freundlich und zuvorkommend.
»Es ist bei euch, soviel ich weiß, erst ein Zimmer vermietet. An diesen, wie heißt er doch gleich? Ferd ... Fer ...«
»Ferdyschtschenko.«
»Na ja; er gefällt mir nicht, dieser euer Herr Ferdyschtschenko. Ein vulgärer Possenreißer. Ich begreife nicht, warum Nastasja Filippowna sich seiner so annimmt. Ist er denn wirklich mit ihr verwandt?«
»Oh nein, das ist alles nur Scherz! Von Verwandtschaft keine Idee!«
»Na, hol ihn der Teufel! Na, sind Sie denn nun also zufrieden, Fürst, oder nicht?«
»Ich danke Ihnen, General; Sie haben an mir als ein herzensguter Mensch gehandelt, was um so mehr anzuerkennen ist, als ich Sie gar nicht gebeten hatte. Ich sage das nicht aus Stolz; ich wußte tatsächlich nicht, wohin ich mein Haupt legen sollte. Allerdings hat mich vorhin Rogoschin zu sich eingeladen.«
»Rogoschin? Aber nein; da möchte ich Ihnen doch den väterlichen oder, wenn Sie lieber wollen, den freundschaftlichen Rat geben, diesen Herrn Rogoschin ganz zu vergessen. Und überhaupt würde ich Ihnen raten, sich an die Familie zu halten, in die Sie eintreten werden.«
»Da Sie mir schon so viel Güte erweisen«, begann der Fürst, »so möchte ich Ihnen noch eine Angelegenheit, die mich beschäftigt, vorlegen. Ich habe die Nachricht erhalten ...«
»Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn der General, »jetzt habe ich wirklich keine Minute Zeit mehr. Ich werde sofort meiner Frau von Ihnen sagen. Wenn sie Sie jetzt gleich zu empfangen wünscht (meinerseits werde ich mich bemühen, sie durch meine Empfehlung dazu zu bewegen), so rate ich Ihnen, die Gelegenheit auszunutzen und sich ihre Gunst zu erwerben, da Lisaweta Prokofjewna Ihnen von großem Nutzen sein kann. Sie sind ja ihr Namensvetter. Und sollte sie es jetzt nicht wünschen, so nehmen Sie ihr das weiter nicht übel, sondern kommen Sie zu anderer Zeit wieder! Und du, Ganja, sieh doch unterdessen diese Rechnung durch, mit der Fedosjejew und ich uns vorhin abgequält haben! Vergiß aber nicht, sie nachher wegzuschließen!«
Der General ging hinaus, und so kam der Fürst nicht dazu, seine Angelegenheit vorzubringen, von der er etwa zum vierten Mal zu reden angefangen hatte. Ganja begann eine Zigarette zu rauchen und bot auch dem Fürsten eine an; dieser nahm sie an, versuchte aber nicht, ein Gespräch in Gang zu bringen, um nicht zu stören, sondern betrachtete das Arbeitszimmer. Ganja aber warf kaum einen Blick auf das mit Zahlen bedeckte Papier, auf das ihn der General hingewiesen hatte. Er war zerstreut; sein Lächeln, sein Blick, sein nachdenkliches Wesen machten nach des Fürsten Ansicht jetzt, wo sie beide allein geblieben waren, einen noch unangenehmeren Eindruck. Plötzlich trat er an den Fürsten heran, der sich gerade über Nastasja Filippownas Porträt gebeugt hatte und es betrachtete.
»Also gefällt Ihnen eine Frau von dieser Art, Fürst?« fragte er, indem er ihn durchdringend ansah, wie wenn er irgendwelche besondere Absicht hätte.
»Ein wunderbar schönes Gesicht!« antwortete der Fürst. »Und ich bin überzeugt, daß sie ungewöhnliche Schicksale erlebt hat. Das Gesicht sieht ja heiter aus; aber sie hat wohl früher furchtbar gelitten, nicht? Davon reden die Augen, dort die beiden Knöchelchen, die beiden Punkte unter den Augen, wo die Wangen anfangen. Es ist ein stolzes Gesicht, ein schrecklich stolzes Gesicht, und ich weiß nicht, ob sie ein gutes Herz hat. Ach, wenn sie das doch hätte! Dann wäre alles gerettet!«
»Würden Sie denn ein solches Weib heiraten?« fragte Ganja weiter, ohne seinen brennenden Blick abzuwenden.
»Ich kann überhaupt nicht heiraten; ich bin krank«, versetzte der Fürst.
»Aber Rogoschin würde sie heiraten? Was meinen Sie?«
»Gewiß, womöglich gleich morgen, denke ich. Er würde sie heiraten und sie eine Woche darauf vielleicht ermorden.«
Kaum hatte der Fürst dies gesagt, als Ganja plötzlich so zusammenfuhr, daß der Fürst beinah aufschrie.
»Was ist Ihnen?« fragte er, indem er ihn bei der Hand ergriff.
»Durchlaucht, Seine Exzellenz lassen Sie bitten, sich zu Ihrer Exzellenz zu bemühen«, meldete ein Diener, der in der Tür erschien. Der Fürst ging hinter dem Diener her.
Die Jepantschinschen Töchter waren alle drei gesunde, blühende, wohlgewachsene junge Damen mit schöner, gutentwickelter Brust und kräftigen, beinah männerartigen Armen, und infolge ihrer Kraft und Gesundheit liebten sie es natürlich auch, manchmal tüchtig zu essen, was sie ganz und gar nicht zu verbergen suchten. Ihre Mama, die Generalin Lisaweta Prokofjewna, schnitt über den unverhohlenen Appetit der Töchter mitunter ein Gesicht; aber da viele ihrer Ansichten trotz alles äußeren Respekts, mit dem sie von den Kindern aufgenommen wurden, schon längst ihre ursprüngliche, unbestrittene Autorität bei diesen verloren hatten, und zwar in dem Maße, daß ein sich konstituierendes einmütiges Konklave der drei Töchter jedesmal den Sieg davontrug, so fand auch die Generalin im Interesse ihrer eigenen Würde es zweckmäßiger, nicht erst zu streiten, sondern gleich nachzugeben. Allerdings hatte sie nach ihrem ganzen Charakter oft keine Neigung, sich den Geboten der Vernunft unterzuordnen und zu fügen; denn Lisaweta Prokofjewna wurde von Jahr zu Jahr launischer und ungeduldiger, ja sogar ein wenig wunderlich; aber da doch immer noch der sehr gehorsame und wohldressierte Ehemann unter ihrer Herrschaft blieb, so ergoß sich, was an überschüssigem Mißmut sich bei ihr aufgesammelt hatte, gewöhnlich über sein Haupt, und damit war dann die Harmonie in der Familie wiederhergestellt, und alles ging den denkbar besten Gang.
Übrigens erfreute sich auch die Generalin selbst eines guten Appetits und nahm gewöhnlich um halb eins mit ihren Töchtern zusammen an einem reichlichen déjeuner dînatoire teil. Eine Tasse Kaffee tranken die jungen Damen schon vorher, Punkt zehn Uhr, im Bett, gleich nach dem Aufwachen. Das war ihnen eine liebe Gewohnheit und ein für allemal so festgesetzt. Um halb eins aber wurde der Tisch in dem kleinen Eßzimmer, neben den Zimmern der Mutter, gedeckt, und zu diesem Frühstück im engsten Familienkreis erschien manchmal auch der General selbst, wenn seine Zeit es erlaubte. Außer Tee, Kaffee, Käse, Honig, Butter, Koteletts und einer besonderen Art von Pfannkuchen, die die Generalin selbst sehr gern aß, wurde auch starke, heiße Bouillon serviert. An dem Morgen, an dem unsere Erzählung begonnen hat, war die ganze Familie im Eßzimmer versammelt und wartete auf den General, der versprochen hatte, um halb eins zu erscheinen. Hätte er sich auch nur eine Minute verspätet, so wäre sofort nach ihm geschickt worden; aber er erschien pünktlich. Als er an seine Frau herantrat, um sie zu begrüßen und ihr die Hand zu küssen, bemerkte er diesmal in ihrem Gesicht etwas ganz Besonderes. Und obgleich er schon am vorhergehenden Abend ein Vorgefühl gehabt hatte, daß es heute wegen einer gewissen »Geschichte« (so pflegte er selbst sich auszudrücken) so kommen werde, und sich schon gestern beim Einschlafen darüber beunruhigt hatte, so bekam er es doch jetzt wieder mit der Angst zu tun. Die Töchter traten an ihn heran, um ihn zu küssen; und wiewohl diese ihm keine bösen Manieren machten, so glaubte er doch auch in ihren Gesichtern einen eigentümlichen Ausdruck wahrzunehmen. Allerdings war der General infolge gewisser früherer Vorfälle allzu argwöhnisch geworden; aber als erfahrener und lebenskluger Vater und Gatte ergriff er sofort seine Maßregeln.
Vielleicht verderben wir das Relief unserer Erzählung nicht allzu sehr, wenn wir jetzt haltmachen und durch einige hilfreiche Bemerkungen eine wahrhafte und genaue Erklärung der wechselseitigen Beziehungen und der Verhältnisse geben, in denen wir die Familie des Generals Jepantschin beim Beginn unserer Geschichte vorfinden. Wir haben bereits oben gesagt, daß der General zwar kein sehr gebildeter, sondern, wie er selbst sich ausdrückte, nur ein »selbstunterrichteter« Mann, aber dabei doch ein erfahrener Gatte und ein lebenskluger Vater war. Unter anderm hatte er es sich zum Grundsatz gemacht, seine Töchter nicht zum Heiraten zu drängen, also ihnen nicht beständig zuzusetzen und sie mit seiner väterlichen Sorge für ihr Lebensglück zu quälen, wie das unwillkürlich und natürlicherweise fortwährend selbst in den verständigsten Familien geschieht, in denen sich erwachsene Töchter ansammeln. Er hatte es sogar erreicht, daß Lisaweta Prokofjewna seinen Grundsatz adoptierte, obgleich es ihm schwer genug geworden war, schwer deswegen, weil dieses Verfahren eben ein unnatürliches ist; aber die Gründe des Generals waren doch überzeugend und stützten sich auf greifbare Tatsachen. Er sagte, Mädchen, die man in dieser Hinsicht völlig unbehelligt lasse, müßten naturgemäß einmal zu ernstem Nachdenken kommen, und dann gehe die Sache schnell vonstatten, weil sie sie mit Eifer betrieben und alle Launen und alle überflüssige Mäkelei beiseite ließen. Die Eltern hätten dann weiter nichts zu tun, als unablässig und möglichst unmerkbar darüber zu wachen, daß es nicht zu einer absonderlichen Wahl oder zu einer unnatürlichen Neigung komme, und dann nach Abpassung des richtigen Augenblicks mit einemmal aus aller Kraft zu helfen und die Sache mit Aufbietung aller Hilfsmittel in Ordnung zu bringen. Schließlich war auch zu erwägen, daß das Vermögen und die gesellschaftliche Stellung der Generalsfamilie von Jahr zu Jahr in geometrischer Proportion stieg: je mehr Zeit also verging, um so günstiger gestalteten sich auch die Heiratsaussichten der Töchter. Aber mitten unter all diese unbestreitbaren Tatsachen trat noch eine andere Tatsache: die älteste Tochter Alexandra vollendete plötzlich und fast ganz unerwartet (wie das immer so zu geschehen pflegt) das fünfundzwanzigste Lebensjahr. Fast zu derselben Zeit sprach Afanasi Iwanowitsch Tozki, ein Mann aus den höchsten Gesellschaftskreisen, mit vortrefflichen Verbindungen und außerordentlich reich, wieder seinen langgehegten Wunsch aus, sich zu verheiraten. Er war fünfundfünfzig Jahre alt und besaß einen ausgezeichneten Charakter und einen ungewöhnlich feinen Geschmack. Er wollte sich gut verheiraten; er war ein vorzüglicher Kenner weiblicher Schönheit. Da er seit einiger Zeit mit dem General Jepantschin eng befreundet war, wozu ihre beiderseitige Teilnahme an gewissen finanziellen Unternehmungen wesentlich mit beitrug, so richtete er an diesen, gewissermaßen mit der Bitte um freundschaftlichen Rat und Anleitung, die Frage, ob er einer seiner Töchter einen Heiratsantrag machen dürfe. Dies führte in dem bisher so still und schön verlaufenen Familienleben des Generals Jepantschin einen starken Umschwung herbei.
Unbestritten die Schönste in der Familie war, wie schon gesagt, die Jüngste, Aglaja. Aber sogar Tozki selbst mußte sich trotz seines starken Selbstgefühls sagen, daß er hier nicht anklopfen dürfe und daß Aglaja nicht für ihn vom Schicksal bestimmt sei. Vielleicht ließ sich die blinde Liebe und allzu glühende Freundschaft der Schwestern zu einer Übertreibung hinreißen; aber darüber waren sie schon im voraus aus aufrichtiger Überzeugung derselben Ansicht, daß Aglajas Schicksal nicht von gewöhnlicher Art, sondern das denkbar schönste Ideal eines irdischen Paradieses sein müsse. Aglajas künftiger Mann müsse, vom Reichtum ganz abgesehen, alle möglichen Vorzüge in sich vereinigen und die größten Erfolge aufzuweisen haben. Die Schwestern hatten sich sogar, und zwar ohne zu viel unnütze Worte, dahin geeinigt, wenn es nötig sein sollte, ihrerseits zu Aglajas Gunsten ein Opfer zu bringen: Aglaja sollte eine gewaltige Mitgift erhalten, eine erheblich größere als sie beide. Die Eltern wußten von dieser Übereinkunft der beiden älteren Schwestern und hegten daher, als Tozki jene Bitte um Rat aussprach, fast keinen Zweifel, daß eine der beiden älteren Schwestern die elterlichen Wünsche erfüllen werde, um so mehr, da von Afanasi Iwanowitschs Seite Schwierigkeiten in betreff der Mitgift unmöglich zu erwarten waren. Tozkis Antrag hatte der General selbst mit der ihm eigenen Lebensklugkeit sofort als einen außerordentlich wertvollen erkannt. Da aber Tozki selbst vorläufig aus gewissen besonderen Gründen in seinem Vorgehen die allergrößte Vorsicht beobachtete und zunächst nur den Boden sondierte, so hatten auch die Eltern den Töchtern bisher nur ganz entfernte Andeutungen gemacht. Als Antwort hatten sie von ihnen die gleichfalls nicht in ganz bestimmte Ausdrücke gekleidete, aber doch wenigstens beruhigende Erklärung erhalten, daß die älteste, Alexandra, wohl nicht nein sagen werde. Sie war ein zwar charakterfestes, aber dabei doch gutherziges, verständiges und sehr verträgliches Mädchen; sie wäre sogar ganz gern Tozkis Frau geworden, und wenn sie einmal ihr Wort gegeben hätte, so hätte sie es ehrlich gehalten. Glanz und Pracht liebte sie nicht; ihr Mann hatte von ihr keine steten Sorgen, keine schroffe Sinnesänderung zu befürchten; sie konnte ihm sogar ein angenehmes, ruhiges Leben verschaffen. Ihre äußere Erscheinung war sehr hübsch, wenn auch nicht gerade Aufsehen erregend. Wo konnte es für Tozki eine bessere Frau geben?
Und doch kam die Sache nur äußerst langsam vom Fleck. Tozki und der General waren beiderseits in aller Freundschaft zu dem Entschluß gelangt, vorläufig jeden formellen, unwiderruflichen Schritt zu unterlassen. Selbst die Eltern sprachen mit den Töchtern immer noch nicht ganz offen über die Angelegenheit; im Gegenteil hatte sich eine Art von Dissonanz herausgebildet: die Mutter der Familie, die Generalin Jepantschina, war aus einem gewissen Grund unzufrieden geworden, und das war doch von großer Wichtigkeit. Es lag da ein hinderlicher Umstand vor, eine verwickelte, widerwärtige Sache, durch die das ganze Projekt möglicherweise unwiederbringlich zum Scheitern gebracht wurde.
Dieser verwickelte, widerwärtige »Kasus« (wie Tozki selbst sich ausdrückte) reichte in seinen Anfängen sehr weit, etwa achtzehn Jahre, zurück. Nahe bei einem sehr großen, ertragreichen Gut, das Afanasi Iwanowitsch in einem der mittleren Gouvernements besaß, lebte damals ein kleiner Gutsbesitzer höchst kümmerlich in großer Armut. Es war merkwürdig, wieviel Malheur der Mann ununterbrochen hatte; man erzählte sich darüber wunderliche Geschichten. Er war ein pensionierter Offizier aus guter Adelsfamilie, wodurch er vor Tozki sogar etwas voraus hatte, ein gewisser Filipp Alexandrowitsch Baraschkow. Obgleich er tief in Schulden gesteckt hatte und seine ganze Habe hatte verpfänden müssen, war es ihm endlich, nachdem er wie ein Bauer, ja fast wie ein Zuchthäusler gearbeitet hatte, gelungen, seine kleine Wirtschaft wieder leidlich befriedigend in Ordnung zu bringen. Auch der geringste Erfolg hatte die Wirkung, ihm neue Spannkraft zu verleihen. Guten Mutes, die Brust von froher Hoffnung geschwellt, verließ er einmal sein Gut, um auf einige Tage nach seiner Kreisstadt zu fahren, wo er einen seiner Hauptgläubiger besuchen und sich womöglich endgültig mit ihm einigen wollte. Aber am dritten Tag nach seiner Ankunft in der Stadt kam bei ihm der Schulze aus seinem Dörfchen mit verbrannter Backe und versengtem Bart angeritten und meldete ihm, daß am vorhergehenden Tag, gerade um Mittag, das Dorf und die sämtlichen Gutsgebäude abgebrannt seien; dabei sei auch die Gemahlin des Gutsbesitzers ums Leben gekommen, während die Kinderchen unversehrt geblieben seien. Diesen Blitz aus heiterem Himmel konnte auch Baraschkow, wie sehr er auch an Schicksalsschläge gewöhnt war, nicht ertragen; er verlor den Verstand und starb einen Monat nachher am hitzigen Fieber. Das abgebrannte Gut, dessen Bauern nach allen vier Winden auseinandergelaufen waren, kam unter den Hammer; was die beiden kleinen Kinder Baraschkows anlangte, ein sechsjähriges und ein siebenjähriges Mädchen, so übernahm es Afanasi Iwanowitsch Tozki großmütigerweise, sie auf seine Kosten erziehen zu lassen. Sie wurden mit den Kindern seines Verwalters zusammen erzogen, eines verabschiedeten Beamten mit zahlreicher Familie, eines Deutschen. Bald darauf blieb nur das eine der beiden Mädchen, Nastasja, übrig, indem die Jüngere am Keuchhusten starb; Tozki, der im Ausland lebte, hatte die beiden bald ganz und gar vergessen. Fünf Jahre darauf gedachte Afanasi Iwanowitsch einmal auf der Durchreise sich sein Gut anzusehen und bemerkte plötzlich in seinem Gutshaus in der Familie seines deutschen Verwalters ein reizendes Kind, ein zwölfjähriges munteres, liebenswürdiges, verständiges Mädchen, das außerordentlich schön zu werden versprach; in dieser Hinsicht war Afanasi Iwanowitsch ein Kenner, der sich nicht leicht irrte. Diesmal blieb er nur einige Tage auf dem Gut, fand aber doch Zeit, allerlei Anordnungen zu treffen. In der Erziehung des jungen Mädchens fand eine wesentliche Veränderung statt: es wurde eine respektable, ältere Gouvernante angenommen, eine gebildete Schweizerin, die im höheren Mädchenunterricht Erfahrung besaß und außer in der französischen Sprache auch noch in mehreren Wissenschaften unterrichten konnte. Sie zog in das Gutshaus ein, und die geistige Ausbildung der kleinen Nastasja erhielt nun einen größeren Umfang. Nach vier Jahren war diese Ausbildung beendet, und die Gouvernante reiste wieder ab. Dafür aber kam, um Nastasja abzuholen, eine Dame an, welche ebenfalls eine Gutsnachbarin Tozkis war, aber in einem andern, entfernten Gouvernement; diese nahm, in Afanasi Iwanowitschs Auftrag und von ihm bevollmächtigt, die kleine Nastasja mit sich. Auf diesem Tozkischen Gut fand sich gleichfalls ein zwar nur kleines, aber soeben erst erbautes Holzhaus; es war außerordentlich geschmackvoll eingerichtet, und das Dörfchen führte wie absichtlich den Namen Otradnoje. Die Gutsbesitzerin brachte Nastasja direkt in dieses stille Häuschen, und da sie selbst, eine kinderlose Witwe, nur eine Werst davon entfernt wohnte, so siedelte auch sie zu Nastasja über. Auch eine alte Haushälterin und eine junge, wohlerfahrene Zofe stellten sich bei Nastasja ein. In dem Haus fanden sich Musikinstrumente, eine auserlesene Mädchenbibliothek, Gemälde, Kupferstiche, Bleistifte, Pinsel, Farben, ein wunderschönes Windspiel, und nach zwei Wochen traf auch Afanasi Iwanowitsch selbst ein ... Von der Zeit an hatte er dieses ihm gehörende Steppendörfchen ganz besonders in sein Herz geschlossen; er besuchte es jeden Sommer und wohnte dort zwei, selbst drei Monate lang. So verging eine ziemlich lange Zeit, wohl vier Jahre, ruhigen und glücklichen, schönen und genußreichen Lebens.
Eines Tages (es war Anfang des Winters, ungefähr vier Monate, nachdem Afanasi Iwanowitsch im Sommer wieder in Otradnoje zu Besuch gewesen war, wo er sich jedoch diesmal nur vierzehn Tage aufgehalten hatte) ereignete es sich, daß auf irgendeine Weise zu Nastasja Filippownas Ohren ein Gerücht drang, daß Afanasi Iwanowitsch in Petersburg im Begriff sei, eine schöne, reiche, vornehme Dame zu heiraten, kurz eine solide, glänzende Partie zu machen. Es stellte sich dann heraus, daß dieses Gerücht nicht in allen Einzelheiten mit der Wirklichkeit übereinstimmte: die Heirat war erst in Aussicht genommen und alles noch sehr unbestimmt; aber in Nastasja Filippownas Wesen ging seitdem doch eine gewaltige Wandlung vor. Sie bewies auf einmal eine große Entschlossenheit und legte eine ganz unerwartete Energie an den Tag. Ohne sich lange zu besinnen, verließ sie ihr kleines Gutshaus, reiste völlig allein nach Petersburg und begab sich dort geradewegs zu Tozki. Dieser war äußerst erstaunt und fing an, mit ihr zu reden; aber fast vom ersten Wort an stellte es sich heraus, daß er die ganze Art, in der er sonst mit ihr geredet hatte, ändern mußte: die Ausdrucksweise, den Stimmklang, die bisher so erfolgreich benutzten Themata netter, angenehmer Gespräche, die Form der logischen Schlußfolgerungen, kurz alles, alles, alles! Vor ihm saß ein ganz anderes weibliches Wesen, das keinerlei Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, das er bisher gekannt und erst im Juli in Otradnoje verlassen hatte.
Erstens wußte und verstand dieses neue Weib, wie sich herausstellte, außerordentlich vieles, so vieles, daß man höchst erstaunt sein mußte, wie sie es möglich gemacht habe, sich ein solches Wissen zu erwerben und sich zu so klaren Anschauungen durchzuarbeiten. (Hatte ihr wirklich ihre Mädchenbibliothek dazu verholfen?) Und damit nicht genug: sie verstand auch sehr viel von juristischen Dingen und besaß sichere Kenntnisse, wenn auch nicht von der menschlichen Gesellschaft, so doch von dem Gang, den gewisse Dinge in der menschlichen Gesellschaft nehmen. Zweitens aber hatte sich ihr Charakter gegen früher vollständig geändert: Es war da keine Rede mehr von jenem schüchternen, unsicheren Mädchentypus, der manchmal durch seine originelle Munterkeit und Naivität bezaubert und dann wieder sich trüb und melancholisch, erstaunt und mißtrauisch, unruhig und zum Weinen geneigt ist. Nein, diejenige, die ihm da ins Gesicht lachte und ihn mit beißendem Spott verwundete, war ein fremdes, überraschendes Wesen. Nastasja erklärte ihm geradezu, sie habe ihm gegenüber in ihrem Herzen nie etwas anderes empfunden als die tiefste Verachtung; dieses bis zum Ekel gesteigerte Gefühl sei bei ihr gleich nach dem ersten Erstaunen eingetreten. Dieses neue Weib erklärte ihm, es sei ihr eigentlich vollständig gleichgültig, ob er sich jetzt verheirate und mit wem; aber doch sei sie hergekommen, um ihm diese Heirat zu verbieten, und zwar einfach aus Bosheit, einzig und allein, weil es ihr so beliebe; somit müsse es nun einmal so sein. »Und war's auch nur, damit ich über dich lachen kann, soviel ich will«, sagte sie, »denn jetzt habe auch ich schließlich Lust bekommen zu lachen.«
So drückte sie sich wenigstens aus; vielleicht hatte sie damit nicht einmal alles, was sie dachte, ausgesprochen. Aber während die neue Nastasja Filippowna höhnisch lachte und ihm all dies auseinandersetzte, überdachte Afanasi Iwanowitsch diese Angelegenheit für sich und brachte nach Möglichkeit seine etwas durcheinander geworfenen Gedanken wieder in Ordnung. Diese Erwägungen dauerten ziemlich lange; er brauchte zu seinen Überlegungen und zum Fassen eines endgültigen Beschlusses fast zwei Wochen; aber als diese Zeit um war, hatte er sich auch entschieden. Afanasi Iwanowitsch war damals schon ungefähr fünfzig Jahre alt und ein höchst solider, gesetzter Mann. Seine Stellung in der Welt und in der Gesellschaft war schon seit langer Zeit auf die festesten Fundamente gegründet. Sich selbst sowie seine Ruhe und Bequemlichkeit liebte und schätzte er über alles in der Welt, wie sich das auch für einen im höchsten Grade anständigen Menschen schickt. Diesen Zustand, der sich durch sein ganzes bisheriges Leben konsolidiert und eine so schöne Form angenommen hatte, war er nicht gewillt, auch nur im geringsten stören oder ins Schwanken bringen zu lassen. Andererseits ließen ihn seine Erfahrung und sein Scharfblick für die Dinge dieser Welt sehr bald und mit völliger Klarheit erkennen, daß er es jetzt mit einem ganz ungewöhnlichen Wesen zu tun habe, daß dies eine Persönlichkeit sei, die nicht nur drohe, sondern auch unfehlbar handle und namentlich vor keinem Hindernis haltmache, um so weniger, da ihr nichts in der Welt teuer sei, so daß man sie auch durch
Dostojewski Der Idiot OriginalBook.Rus bisheriges Leben konsolidiert und eine so schöne Form angenommen hatte, war er nicht gewillt, auch nur im geringsten stören oder ins Schwanken bringen zu lassen. Andererseits ließen ihn seine Erfahrung und sein Scharfblick für die Dinge dieser Welt sehr bald und mit völliger Klarheit erkennen, daß er es jetzt mit einem ganz ungewöhnlichen Wesen zu tun habe, daß dies eine Persönlichkeit sei, die nicht nur drohe, sondern auch unfehlbar handle und namentlich vor keinem Hindernis haltmache, um so weniger, da ihr nichts in der Welt teuer sei, so daß man sie auch durch Geschenke nicht bestechen könne. Hier lag augenscheinlich etwas anderes vor: man spürte eine Art von seelischem Ekel, eine Art von romanhafter Entrüstung über Gott weiß wen und was, eine Art von unersättlichem, alles Maß überschreitendem Gefühl der Verachtung, kurz etwas, was in anständiger Gesellschaft als im höchsten Grad lächerlich und unerlaubt gilt und womit zu tun zu haben für jeden anständigen Menschen geradezu eine Strafe Gottes ist. Selbstverständlich hätte Tozki bei seinem Reichtum und bei seinen Verbindungen ohne weiteres irgendeine kleine, ganz harmlose Freveltat begehen können, um sich diese Unannehmlichkeit vom Hals zu schaffen. Andererseits war auch Nastasja Filippowna sicherlich kaum imstande, ihm etwas Schlimmes, etwa auf gerichtlichem Weg, zuzufügen; sie konnte nicht einmal einen besonderen Skandal hervorrufen, weil man sie immer mit größter Leichtigkeit in Schranken halten konnte. Aber all das war nur für den Fall richtig, daß Nastasja Filippowna sich dafür entschied, so zu handeln, wie es alle anderen Frauen in ähnlichen Fällen tun, und nicht in ihrer Exzentrizität alles Maß überschritt. Aber hier kam dem klugen Tozki seine Menschenkenntnis zustatten: Er merkte, daß Nastasja Filippowna selbst sehr wohl einsah, wie wenig sie ihm durch die Gerichte schaden konnte, und daß sie ganz andere Gedanken in ihrem Kopf umherwälzte; das verrieten ihm ihre funkelnden Augen. Da ihr nichts wertvoll war und am wenigsten ihre eigene Person (es bedurfte eines sehr klaren, eindringenden Verstandes, um in diesem Augenblick zu erkennen, daß sie schon längst aufgehört hatte, ihrer eigenen Person irgendwelchen Wert beizulegen, und um als Skeptiker und zynisch denkender Weltmann doch an die Ernsthaftigkeit dieses Gefühles zu glauben), so war Nastasja Filippowna imstande, sich selbst in häßlicher Art, etwa durch Sibirien und Zuchthaus, unwiederbringlich zugrunde zu richten, nur um den Menschen zu beschimpfen, gegen den sie einen so unmenschlichen Haß nährte. Afanasi Iwanowitsch hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er ein wenig feige oder, besser ausgedrückt, im höchsten Grad auf Bewahrung des Dekors bedacht war. Hätte er zum Beispiel gewußt, daß man ihn auf seiner Hochzeit ermorden werde oder sich dabei sonst etwas sehr Unpassendes, Lächerliches und in der Gesellschaft nicht Übliches begeben werde, so hätte er gewiß einen großen Schreck bekommen, aber nicht sowohl eben darüber, daß man ihn ermorden, ihn schwer verwunden oder ihm vor aller Augen ins Gesicht speien werde usw., als vielmehr darüber, daß ihm dies unter Verletzung alles Brauches und Anstandes widerfahren werde. Und gerade so etwas war von Nastasja Filippowna zu erwarten, wiewohl sie noch darüber schwieg; aber er wußte, daß sie ihn durch und durch
Geschenke nicht bestechen könne. Hier lag augenscheinlich etwas anderes vor: man spürte eine Art von seelischem Ekel, eine Art von romanhafter Entrüstung über Gott weiß wen und was, eine Art von unersättlichem, alles Maß überschreitendem Gefühl der Verachtung, kurz etwas, was in anständiger Gesellschaft als im höchsten Grad lächerlich und unerlaubt gilt und womit zu tun zu haben für jeden anständigen Menschen geradezu eine Strafe Gottes ist. Selbstverständlich hätte Tozki bei seinem Reichtum und bei seinen Verbindungen ohne weiteres irgendeine kleine, ganz harmlose Freveltat begehen können, um sich diese Unannehmlichkeit vom Hals zu schaffen. Andererseits war auch Nastasja Filippowna sicherlich kaum imstande, ihm etwas Schlimmes, etwa auf gerichtlichem Weg, zuzufügen; sie konnte nicht einmal einen besonderen Skandal hervorrufen, weil man sie immer mit größter Leichtigkeit in Schranken halten konnte. Aber all das war nur für den Fall richtig, daß Nastasja Filippowna sich dafür entschied, so zu handeln, wie es alle anderen Frauen in ähnlichen Fällen tun, und nicht in ihrer Exzentrizität alles Maß überschritt. Aber hier kam dem klugen Tozki seine Menschenkenntnis zustatten: Er merkte, daß Nastasja Filippowna selbst sehr wohl einsah, wie wenig sie ihm durch die Gerichte schaden konnte, und daß sie ganz andere Gedanken in ihrem Kopf umherwälzte; das verrieten ihm ihre funkelnden Augen. Da ihr nichts wertvoll war und am wenigsten ihre eigene Person (es bedurfte eines sehr klaren, eindringenden Verstandes, um in diesem Augenblick zu erkennen, daß sie schon längst aufgehört hatte, ihrer eigenen Person irgendwelchen Wert beizulegen, und um als Skeptiker und zynisch denkender Weltmann doch an die Ernsthaftigkeit dieses Gefühles zu glauben), so war Nastasja Filippowna imstande, sich selbst in häßlicher Art, etwa durch Sibirien und Zuchthaus, unwiederbringlich zugrunde zu richten, nur um den Menschen zu beschimpfen, gegen den sie einen so unmenschlichen Haß nährte. Afanasi Iwanowitsch hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er ein wenig feige oder, besser ausgedrückt, im höchsten Grad auf Bewahrung des Dekors bedacht war. Hätte er zum Beispiel gewußt, daß man ihn auf seiner Hochzeit ermorden werde oder sich dabei sonst etwas sehr Unpassendes, Lächerliches und in der Gesellschaft nicht Übliches begeben werde, so hätte er gewiß einen großen Schreck bekommen, aber nicht sowohl eben darüber, daß man ihn ermorden, ihn schwer verwunden oder ihm vor aller Augen ins Gesicht speien werde usw., als vielmehr darüber, daß ihm dies unter Verletzung alles Brauches und Anstandes widerfahren werde. Und gerade so etwas war von Nastasja Filippowna zu erwarten, wiewohl sie noch darüber schwieg; aber er wußte, daß sie ihn durch und durch kannte und folglich wußte, wie sie ihn am empfindlichsten treffen könne. Und da die Heirat in der Tat bisher nur in Aussicht genommen war, so gab Afanasi Iwanowitsch nach und fügte sich der Forderung Nastasja Filippownas.
An seinem Entschluß wirkte auch noch ein anderer Umstand mit: Man konnte kaum begreifen, wie unähnlich das Gesicht dieser neuen Nastasja Filippowna dem früheren geworden war. Früher war sie nur ein recht hübsches Mädchen gewesen, aber jetzt ... Tozki konnte es sich lange Zeit nicht vergeben, daß er sie vier Jahre lang angesehen hatte, ohne zu rechtem Verständnis ihres Gesichts zu gelangen. Allerdings fällt es in solchen Fällen auch sehr ins Gewicht, wenn auf beiden Seiten eine plötzliche innere Umwandlung vorgeht. Übrigens erinnerte er sich auch an einzelne Momente in der Vergangenheit, wo ihm manchmal sonderbare Gedanken gekommen waren, wenn er zum Beispiel in diese Augen hineinblickte: man konnte in ihnen sozusagen eine tiefe, geheimnisvolle Finsternis ahnen. Diese Augen blickten, als ob sie einem ein Rätsel aufgäben. In den letzten zwei Jahren hatte er sich oft über die Veränderung gewundert, die mit Nastasja Filippownas Gesichtsfarbe vorgegangen war: Das junge Mädchen war erschreckend blaß, merkwürdigerweise aber dadurch sogar noch schöner geworden. Tozki, der, wie alle Lebemänner, anfangs mit Geringschätzung daran gedacht hatte, für wie billigen Preis ihm dieses des Lebens noch unkundige Wesen zugefallen war, war in der letzten Zeit an der Richtigkeit seiner Ansicht einigermaßen irre geworden. Jedenfalls hatte er noch im letzten Frühjahr beabsichtigt, Nastasja Filippowna in Bälde mit irgendeinem verständigen, ordentlichen, in einem andern Gouvernement angestellten Beamten gut zu verheiraten und ihr eine hübsche Summe als Mitgift zu geben. (Oh, wie schrecklich und boshaft lachte Nastasja Filippowna jetzt über diesen Plan!) Aber jetzt war Afanasi Iwanowitsch, entzückt über ihren neuen Reiz, sogar auf den Gedanken gekommen, ob er von diesem Weib nicht von neuem Vorteil ziehen könne. Er beschloß, Nastasja Filippowna in Petersburg wohnen zu lassen und mit allem Komfort und Luxus zu umgeben. Konnte er das eine nicht haben, so dafür ein anderes: Mit einer Nastasja Filippowna konnte man sich schon sehen lassen und in einem gewissen Kreis sich sogar ein feines Renommee erwerben. In diesem Punkt aber legte Afanasi Iwanowitsch auf sein Renommee großen Wert.
Jetzt wohnte nun Nastasja Filippowna schon fünf Jahre in Petersburg, und natürlich hatte während eines so langen Zeitraums vieles sich geklärt und eine bestimmte Gestalt angenommen. Afanasi Iwanowitschs Lage war wenig tröstlich; das Schlimmste war dabei, daß er, nachdem er sich einmal feig gezeigt hatte, nun nachher schlechterdings nicht zur Ruhe kommen konnte. Er fürchtete sich – und wußte selbst nicht einmal, wovor; er fürchtete sich einfach vor Nastasja Filippowna. Eine Zeitlang, nämlich während der beiden ersten Jahre, hatte er geargwöhnt, daß Nastasja Filippowna selbst den Wunsch hege, ihn zu heiraten, aber infolge eines besonderen Hochmuts schweige und beharrlich auf seinen Antrag warte. Das wäre ja von ihrer Seite ein sonderbarer Anspruch gewesen; aber Afanasi Iwanowitsch war argwöhnisch geworden: er runzelte die Stirn und überließ sich seinen trüben Gedanken. Zu seiner großen und (so ist das Menschenherz nun einmal beschaffen!) einigermaßen unangenehmen Überraschung überzeugte er sich jedoch bei einer bestimmten Gelegenheit davon, daß, auch wenn er ihr seine Hand anböte, sie sie nicht annehmen würde. Lange Zeit konnte er das nicht begreifen. Es schien ihm nur eine Erklärung dafür möglich: daß der Stolz »des beleidigten, phantastischen Weibes« so weit gehe, daß es ihr mehr Freude mache, einmal ihre Verachtung durch eine abschlägige Antwort zum Ausdruck zu bringen, als ihre Stellung für alle Zeit zu konsolidieren und ein unerhörtes Glück zu erlangen. Das Schlimmste war, daß Nastasja Filippowna in erschreckendem Maße die Herrschaft über ihn gewann. Auch auf eine Abfindungssumme, selbst auf eine sehr hoch bemessene, ging sie nicht ein, und obwohl sie den ihr angebotenen Komfort annahm, lebte sie doch sehr bescheiden und legte in diesen fünf Jahren fast nichts zurück. Afanasi Iwanowitsch hatte ein sehr schlaues Mittel versucht, um seine Ketten zu sprengen: Unmerklich und kunstvoll suchte er sie auf geschickte Weise durch ideale Lockungen zu verführen; aber all die verkörperten Ideale, Husaren, Gesandtschaftssekretäre, Dichter, Romanschriftsteller und sogar Sozialdemokraten, nichts machte auf Nastasja Filippowna irgendwelchen Eindruck, gerade als ob sie statt des Herzens einen Stein in der Brust hätte und ihre Gefühle für alle Zeit vertrocknet und erstorben wären. Sie führte ein sehr zurückgezogenes Leben, las viel, beschäftigte sich sogar mit den Wissenschaften und liebte die Musik. Bekannte hatte sie nur wenige: sie verkehrte nur mit ein paar armen, komischen Beamtenfrauen und einigen alten Schauspielerinnen; namentlich aber hegte sie eine warme Zuneigung zu der zahlreichen Familie eines achtungswerten Lehrers und wurde auch ihrerseits in dieser Familie sehr geliebt und, wenn sie zu Besuch kam, mit Freuden empfangen. Ziemlich oft fanden sich abends bei ihr fünf oder sechs Bekannte zusammen, nicht leicht mehr. Tozki erschien recht häufig und pünktlich. In der letzten Zeit war es auch dem General Jepantschin nicht ohne große Mühe gelungen, Nastasja Filippownas Bekanntschaft zu machen. Gleichzeitig machte sich auf höchst leichte, mühelose Weise auch ein junger Beamter namens Ferdyschtschenko mit ihr bekannt, ein recht kommuner, vulgärer Hansnarr, der sich als einen Bruder Lustig gab und gern trank. Des weiteren war ein eigentümlicher junger Mensch namens Ptizyn mit ihr bekannt; er war von bescheidenem Wesen und korrekten, glatten Manieren, stammte aus ärmlicher Familie und hatte sich zum Geldverleiher hinaufgearbeitet. Schließlich wurde auch Gawrila Ardalionowitsch mit ihr bekannt ... Das Resultat war, daß Nastasja Filippowna zu einer eigenartigen Berühmtheit gelangte: jedermann wußte von ihrer Schönheit, aber das war auch alles; niemand konnte sich rühmen, etwas bei ihr erreicht zu haben, niemand Nachteiliges über sie erzählen. Durch dieses Renommee und durch ihre Bildung und ihr feines Benehmen und ihren scharfen Verstand, durch alles dies ließ sich Afanasi Iwanowitsch in der Absicht bestärken, einen gewissen Plan durchzuführen. Bis zu diesem Punkt hatten sich die Dinge entwickelt, als General Jepantschin selbst daran einen tätigen, hervorragenden Anteil zu nehmen begann.
Tozki legte, als er sich in so liebenswürdiger Weise an ihn mit der Bitte um seinen Rat in betreff einer seiner Töchter wandte, ihm durchaus ehrenhaft ein vollständiges und offenherziges Bekenntnis ab. Er eröffnete ihm, daß er entschlossen sei, vor keinem Mittel zurückzuschrecken, um seine Freiheit wiederzuerlangen; er werde sich nicht damit beruhigen, wenn sogar Nastasja Filippowna selbst ihm die Versicherung geben sollte, ihn künftig ganz in Ruhe lassen zu wollen; mit Worten werde er sich nicht zufriedengeben, er brauche eine vollständige Garantie. So verbündeten sich denn die beiden und beschlossen gemeinsam vorzugehen. Sie entschieden sich dafür, es zuerst mit den mildesten Mitteln zu versuchen und sozusagen nur die edelsten Saiten in Nastasjas Filippownas Herzen anzuschlagen. Beide fuhren zu ihr, und Tozki begann geradezu mit der Erklärung, seine Lage sei ihm unerträglich geworden; er gestand, daß er selbst an allem schuld sei, sprach es offen aus, daß er nicht umhin könne, sein früheres Verhalten gegen sie zu bereuen; aber er sei eben ein eingefleischter Genußmensch und habe sich selbst nicht in der Gewalt. Jetzt aber wolle er sich verheiraten, und das ganze Schicksal dieser im höchsten Grade wohlanständigen, noblen Ehe liege in ihren Händen; kurz, er erwarte alles von ihrem Edelmut. Dann begann in seiner Eigenschaft als Vater General Jepantschin zu reden; er sprach verstandesmäßig, unter Vermeidung des rührende Elements, erwähnte nur, daß er durchaus ihre Berechtigung anerkenne, über Afanasi Iwanowitschs Schicksal zu entscheiden, und paradierte geschickt mit seiner eigenen Demut, indem er darauf hinwies, daß das Schicksal seiner Tochter, ja vielleicht auch das seiner beiden anderen Töchter, jetzt von ihrer Entscheidung abhänge. Auf Nastasja Filippownas Frage, was man denn eigentlich von ihr verlange, gestand ihr Tozki mit der gleichen, ganz unverhüllten Offenheit wie vorher, er habe vor fünf Jahren einen solchen Schreck über sie bekommen, daß er sich auch jetzt nicht eher ganz beruhigen könne, als bis sich Nastasja Filippowna selbst mit irgend jemand verheirate. Er fügte sogleich hinzu, diese Bitte würde von seiner Seite natürlich ungehörig sein, wenn er nicht in betreff derselben gewisse Unterlagen hätte. Er habe sehr wohl bemerkt und wisse mit Bestimmtheit, daß ein junger Mann von sehr guter Herkunft, der mit seinen höchst achtungswerten Angehörigen zusammenlebe, nämlich Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, den sie ja ebenfalls kenne und bei sich empfange, sie schon seit langem mit aller Kraft der Leidenschaft liebe und gewiß sein halbes Leben für die bloße Hoffnung, ihre Neigung zu erwerben, hingeben würde. Dieses Geständnis habe ihm, dem Redenden, Gawrila Ardalionowitsch selbst gemacht, und zwar schon vor längerer Zeit, aus Freundschaft und im Drang seines reinen, jugendlichen Herzens; auch Iwan Fjodorowitsch, der ein Gönner des jungen Mannes sei, wisse darum schon lange. Ja, auch ihr selbst sei, wenn er, Afanasi Iwanowitsch, nicht irre, die Liebe des jungen Mannes schon längst bekannt, und es scheine ihm sogar, daß sie diese Liebe wohlwollend ansehe. Selbstverständlich sei es ihm ganz besonders peinlich, von alledem zu reden. Aber wenn sie seiner Versicherung Glauben schenken wolle, daß in seinem Herzen neben dem egoistischen Wunsch, sein eigenes Glück zu zimmern, auch der Wunsch für ihr Wohlergehen lebendig sei, dann werde sie begreifen, daß er schon lange mit Befremden und mit schmerzlicher Empfindung ihre Vereinsamung gesehen habe; sie bewege sich da in einem undefinierbaren Dunkel und wolle nicht an eine mögliche Erneuerung ihres Lebens glauben, das doch in der Liebe und im Familienglück eine Auferstehung erfahren und auf diese Weise ein neues Ziel gewinnen könne. So, wie sie jetzt lebe, werde sie ihre vielleicht glänzenden Fähigkeiten zugrunde richten; sie liebäugle aus freien Stücken mit ihrem Gram und gebe sich einer romanhaften Überspannung hin, die weder ihres klaren Verstandes noch ihres edlen Herzens würdig sei. Er wiederholte noch einmal, niemand könne es peinlicher sein, davon zu reden, als ihm, und schloß, er könne nicht die Hoffnung aufgeben, daß Nastasja Filippowna ihm nicht mit Verachtung antworten werde, wenn er ihr seinen aufrichtigen Wunsch ausspreche, ihr Geschick für die Zukunft sicherzustellen, und ihr eine Summe von fünfundsiebzigtausend Rubeln anbiete. Er fügte zur Erklärung hinzu, die Summe sei ihr unter allen Umständen bereits in seinem Testament zugedacht; kurz, es handle sich hier ganz und gar nicht um irgendwelche Entschädigung. Warum wolle sie schließlich nicht glauben, daß er den vom menschlichen Standpunkt verständlichen Wunsch habe, wenigstens irgendwie sein Gewissen zu erleichtern, usw., usw. Und so brachte er alles vor, was eben in ähnlichen Fällen über dieses Thema gesagt zu werden pflegt. Afanasi Iwanowitsch sprach lange und mit Aufgebot seiner ganzen Redekunst; dabei ließ er noch so en passant die interessante Bemerkung einfließen, daß er von diesen fünfundsiebzigtausend Rubeln jetzt zum erstenmal habe ein Wort fallenlassen, und daß selbst der hier danebensitzende Iwan Fjodorowitsch bisher nicht davon gewußt habe; kurz, daß Niemand etwas davon wisse.
Nastasja Filippownas Antwort setzte die beiden Freunde in Erstaunen.
Da war nicht die geringste Spur von ihrer früheren Spottlust, Feindseligkeit und haßerfüllten Gesinnung, keine Spur von jenem früheren Lachen, von dem immer noch bei der bloßen Erinnerung dem armen Tozki ein kalter Schauer über den Rücken lief. Nein, ganz im Gegenteil: sie schien sich sogar darüber zu freuen, daß sie endlich mit jemand offenherzig und freundschaftlich reden könne. Sie gestand, daß sie selbst schon lange gewünscht habe, um einen freundschaftlichen Rat zu bitten; nur ihr Stolz habe sie davon zurückgehalten; aber jetzt, wo das Eis gebrochen sei, könne ihr nichts erwünschter sein. Anfangs mit einem traurigen Lächeln, dann aber mit heiterem, munterem Lachen gestand sie, daß von ihrem früheren stürmischen Wesen jedenfalls nichts mehr übrig geblieben sei; schon längst habe sie ihre Ansichten über die Dinge teilweise geändert, und obwohl sie im Herzen dieselbe geblieben sei, so müsse sie doch sehr vieles als vollendete Tatsache anerkennen; was geschehen sei, sei geschehen; was vergangen sei, sei vergangen; daher erscheine es ihr sogar seltsam, daß Afanasi Iwanowitsch immer noch ängstlich sei. Dann wandte sie sich an Iwan Fjodorowitsch und erklärte ihm mit einer Miene, die die größte Hochachtung zum Ausdruck brachte, sie habe schon längst sehr viel von seinen Töchtern gehört und sei schon lange gewohnt, sie aufrichtig hochzuschätzen. Schon der bloße Gedanke, daß sie imstande sei, ihnen irgendwie zu nützen, mache sie glücklich und stolz. Es sei richtig, daß sie sich jetzt sehr bedrückt und einsam fühle, sehr einsam; Afanasi Iwanowitsch habe ihre Empfindungen erraten; sie habe allerdings den Wunsch, wenn auch nicht durch die Liebe, so doch durch den Besitz einer eigenen Familie ein neues Leben zu beginnen und sich eines neuen Ziels bewußt zu werden; aber was Gawrila Ardalionowitsch angehe, so könne sie in dieser Hinsicht fast noch gar nichts sagen. Es habe ja freilich den Anschein, daß er sie liebe, und sie fühle, daß es ihr möglich sein würde, auch ihrerseits ihn liebzugewinnen, wenn sie auf die Beständigkeit seiner Zuneigung vertrauen dürfe; aber auch wenn sie an seine Aufrichtigkeit glauben wolle, sei er doch noch sehr jung; da sei es für sie schwer, einen Entschluß zu fassen. Was ihr übrigens am meisten an ihm gefalle, sei, daß er eifrig arbeite und allein die ganze Familie unterhalte. Sie habe gehört, daß er ein energischer Mann sei, der seinen eigenen Wert kenne, Karriere machen und sich vorwärtsbringen wolle. Sie habe auch gehört, daß Nina Alexandrowna Iwolgina, Gawrila Ardalionowitschs Mutter, eine vortreffliche, höchst achtungswerte Frau sei und seine Schwester Warwara Ardalionowna ein sehr interessantes, energisches Mädchen; sie habe viel über sie von Herrn Ptizyn gehört. Sie habe gehört, daß die beiden Damen ihr unglückliches Schicksal heldenmütig ertrügen; sie wünsche sehr, ihre Bekanntschaft zu machen; aber es sei noch die Frage, ob diese sie freudig in ihre Familie aufnehmen würden. Alles zusammengefaßt, sage sie nichts gegen die Möglichkeit dieser Ehe; aber das bedürfe noch längerer Überlegung, und sie wünsche nicht, daß man sie dränge. Was die fünfundsiebzigtausend Rubel anlange, so habe sich Afanasi Iwanowitsch unnötigerweise soviel Mühe gegeben, darüber zu reden. Sie kenne selbst den Wert des Geldes und werde die Summe natürlich annehmen. Sie danke Afanasi Iwanowitsch für sein Zartgefühl, daß er nicht nur Gawrila Ardalionowitsch gegenüber, sondern auch dem General gegenüber nicht davon gesprochen habe, wiewohl eigentlich kein Grund vorhanden sei, weshalb der erstere davon nicht vorher Kenntnis haben solle. Wenn sie in seine Familie eintrete, so habe sie keinen Anlaß, sich dieses Geldes zu schämen. Jedenfalls beabsichtige sie nicht, irgend jemand wegen irgend etwas um Verzeihung zu bitten, und wünsche, daß das alle wüßten. Sie werde Gawrila Ardalionowitsch nicht eher heiraten, als bis sie die Überzeugung gewonnen habe, daß weder er noch seine Angehörigen irgendwelche verheimlichten Ansichten über sie hegten. Jedenfalls meine sie, daß sie an nichts eine Schuld trage; und es wäre sehr gut, wenn Gawrila Ardalionowitsch erführe, in welcher Art sie diese ganzen fünf Jahre hindurch in Petersburg gelebt, in welchen Beziehungen sie während dieser Zeit zu Afanasi Iwanowitsch gestanden und ob sie viel Vermögen angesammelt habe. Wenn sie schließlich das Kapital jetzt annehme, so sehe sie es durchaus nicht als eine Bezahlung für den Verlust ihrer jungfräulichen Ehre an, an dem sie keine Schuld trage, sondern einfach als eine Entschädigung für das Leben, das ihr dadurch verdorben worden sei.
Sie geriet sogar (was übrigens nur natürlich war) bei all diesen Auseinandersetzungen so in Hitze und Erregung, daß General Jepantschin sehr zufrieden war und die Sache für erledigt hielt; aber Tozki, der nun einmal ängstlich geworden war, traute dem Frieden auch jetzt noch nicht ganz und fürchtete immer noch, es könnte unter den Blumen eine Schlange verborgen sein. Dennoch begannen die Unterhandlungen; derjenige Punkt, auf dem das ganze Manöver der beiden Freunde beruhte, nämlich die Möglichkeit, Nastasja für Ganja zu interessieren, gewann allmählich eine klarere, bestimmtere Gestalt, so daß selbst Tozki manchmal anfing, an die Möglichkeit des Gelingens zu glauben. Unterdessen sprach sich Nastasja Filippowna mit Ganja aus; Worte wurden dabei allerdings nicht viele gewechselt, als ob ihr Schamgefühl dabei gar zu sehr litte. Sie gestattete ihm, sie weiter zu lieben, erklärte aber auf das bestimmteste, sie wolle sich in keiner Weise binden; sie behalte sich bis zur Hochzeit (wenn es wirklich zur Hochzeit komme) das Recht vor, nein zu sagen, sogar bis zur letzten Stunde; ganz dasselbe Recht gestehe sie auch ihm zu. Bald darauf erfuhr Ganja durch einen dienstfertigen Zufall, daß der Widerwille seiner ganzen Familie gegen diese Ehe und gegen Nastasja Filippownas Person, der sich in wiederholten häuslichen Szenen geäußert hatte, bereits mit vielen Einzelheiten zu Nastasja Filippownas Kenntnis gelangt war; sie selbst redete mit ihm nicht darüber, obgleich er es täglich erwartete. Es ließe sich übrigens noch vieles von all den unangenehmen Geschichten erzählen, die anläßlich dieser Brautwerbung und der darauf bezüglichen Verhandlungen vorkamen; aber wir haben auch so schon vorgegriffen, auch erschien manches davon erst in Form sehr unbestimmter Gerüchte. So hatte zum Beispiel Tozki irgendwoher erfahren, daß Nastasja Filippowna in irgendwelche nicht näher bekannten, geheimen Beziehungen zu den Jepantschinschen jungen Damen getreten sei – ein ganz unglaubwürdiges Gerücht. Dagegen schenkte er einem anderen Gerücht unwillkürlich Glauben und wurde dadurch in große Beängstigung versetzt: er hörte als sicher, Nastasja Filippowna wisse ganz genau, daß Ganja sie nur des Geldes wegen heiraten wolle; daß Ganja ein schwarzes, habgieriges, unverträgliches, neidisches und grenzenlos egoistisches Herz habe; daß Ganja zwar wirklich früher leidenschaftlich danach gestrebt habe, sie zu erobern, daß er aber, seitdem die beiden Freunde beschlossen hätten, diese nunmehr von beiden Seiten beginnende Leidenschaft zu ihrem Vorteil auszubeuten und ihn dadurch zu erkaufen, daß sie ihm Nastasja Filippowna als rechtmäßige Gattin verkauften, die bisher Geliebte nun grimmig hasse; daß in seinem Herzen Leidenschaft und Haß jetzt in sonderbarer Weise vereinigt seien und er zwar schließlich nach qualvollem Hin-und Herschwanken eingewilligt habe, »das liederliche Frauenzimmer« zu heiraten, aber sich selbst im stillen geschworen habe, sich später dafür bitter an ihr zu rächen und sie schwer dafür »büßen zu lassen«, wie er sich selbst ausgedrückt habe. Alles dies wisse Nastasja Filippowna und bereite im geheimen irgend etwas vor. Tozki war dermaßen verängstigt, daß er nicht einmal dem General Jepantschin etwas von seinen Befürchtungen mitteilte; aber es kamen auch Augenblicke vor, in denen er, wie das schwachherzige Menschen zu tun pflegen, den Kopf wieder aufrichtete und schnell neuen Mut faßte; so ermutigte es ihn zum Beispiel außerordentlich, als Nastasja Filippowna endlich den beiden Freunden das Versprechen gab, sie werde am Abend ihres Geburtstages das entscheidende Wort sprechen.
Aber dagegen erwies sich ein ganz seltsames und ganz unglaubliches Gerücht, das den achtenswerten Iwan Fjodorowitsch selbst betraf, leider mehr und mehr als richtig. Auf den ersten Blick erschien dabei alles als der bare Unsinn. Es war schwer zu glauben, daß Iwan Fjodorowitsch bei seinem würdigen, hohen Lebensalter, bei seinem vortrefflichen Verstand und seiner praktischen Lebenskenntnis usw., usw. sich in Nastasja Filippowna verliebt haben sollte, und zwar gleich dermaßen, daß diese wunderliche Verwirrung fast einer Leidenschaft ähnelte. Worauf er dabei seine Hoffnungen gründete, das war schwer auszudenken; vielleicht sogar auf Ganjas eigenen Beistand. Tozki vermutete wenigstens etwas Derartiges; er vermutete, daß eine beinahe ohne Worte abgeschlossene, auf gegenseitigem Verständnis beruhende Verabredung zwischen dem General und Ganja bestehe. Übrigens ist bekannt, daß ein Mensch, der in den Bann einer Leidenschaft gerät, namentlich wenn er schon bei Jahren ist, vollständig blind wird und sich Hoffnungen macht, wo für ihn nicht die geringste Aussicht ist, ja, alles gesunde Urteil verliert und, obwohl sonst ein Ausbund von Klugheit, nun wie ein törichtes Kind handelt. Man wußte, daß der General vorhatte, Nastasja Filippowna zu ihrem Geburtstag einen wundervollen Perlenschmuck zu schenken, der enorm viel Geld kostete, und sich von diesem Geschenk viel versprach, obgleich er Nastasja Filippownas Uneigennützigkeit kannte. Am Abend vor ihrem Geburtstag war er wie in einem Fieber, wiewohl er sich geschickt beherrschte. Von ebendiesem Perlenschmuck hatte auch die Generalin Jepantschina gehört. Allerdings hatte Lisaweta Prokofjewna schon seit längerer Zeit Proben von der Flatterhaftigkeit ihres Gatten gehabt und sich sogar zum Teil daran gewöhnt; aber eine solche Gelegenheit durfte sie doch nicht unbenutzt vorübergehen lassen: das Gerücht von dem Perlenkauf regte sie außerordentlich auf. Der General merkte das zum Glück noch rechtzeitig, indem die Generalin schon am Abend vor dem Geburtstag ein paar Anspielungen darauf machte; er ahnte, daß die eigentliche Auseinandersetzung ihm noch bevorstand, und fürchtete sich davor. Dies war der Grund, weshalb er an dem Morgen, mit dem wir unsere Erzählung begonnen haben, schlechterdings keine Lust hatte, im Schoß der Familie sein Frühstück einzunehmen. Noch bis zur Ankunft des Fürsten war er entschlossen gewesen, sich mit dringenden Geschäften zu entschuldigen und der Sache aus dem Weg zu gehen. Aus dem Weg zu gehen bedeutete bei dem General manchmal nichts anderes als die Flucht ergreifen. Er wollte wenigstens diesen einen Tag und namentlich den heutigen Abend ohne Unannehmlichkeiten genießen. Da stellte sich plötzlich, wie gerufen, der Fürst ein. »Den hat mir Gott gesandt!« dachte der General im stillen, als er zu seiner Gemahlin ins Zimmer trat.
Die Generalin war auf ihre Abstammung stolz. Wie mußte ihr da zumute sein, als sie so geradezu und ohne alle Vorbereitung hörte, daß dieser letzte Sprößling des Myschkinschen Fürstengeschlechts, über den ihr bereits einiges zu Ohren gekommen war, nichts weiter als ein kläglicher Idiot und beinah ein Bettler sei und Almosen annehme! Denn der General haschte bei der Schilderung, die er von ihm entwarf, nach Effekt, um gleich von vornherein das Interesse seiner Gattin für ihn zu erwecken, ihre Gedanken nach einer andern Seite abzulenken und infolge dieser Erregung der Frage nach dem Perlenschmuck zu entgehen.
Bei besonderen Ereignissen riß die Generalin gewöhnlich die Augen sehr weit auf, bog den Oberkörper etwas zurück und blickte, ohne ein Wort zu sagen, starr vor sich hin. Sie war eine hochgewachsene Frau, von gleichem Alter wie ihr Mann, mit dunklem, größtenteils schon ergrautem, aber immer noch dichtem Haar, mit etwas gekrümmter Nase, mager, mit gelben, eingefallenen Wangen und schmalen, welken Lippen. Ihre Stirn war hoch, aber nicht breit; die grauen, ziemlich großen Augen hatten mitunter einen recht ungewöhnlichen Ausdruck. Sie hatte früher die Schwäche gehabt, zu glauben, daß ihr Blick außerordentlichen Eindruck mache, und diese Überzeugung war ihr unausrottbar verblieben.
»Empfangen? Sie sagen, ich soll ihn empfangen, jetzt, auf der Stelle?«
Dabei riß die Generalin die Augen auf, so weit es nur ging, und blickte den vor ihr auf und ab gehenden Iwan Fjodorowitsch an.
»Oh, du brauchst mit ihm gar keine Umstände zu machen, liebe Frau, falls du überhaupt Lust hast, ihn zu sehen«, beeilte sich der General erläuternd hinzuzufügen. »Er ist das reine Kind und dabei so bemitleidenswert; er leidet an irgendwelchen Krankheitsanfällen; er kommt soeben aus der Schweiz, direkt von der Bahn, trägt einen sonderbaren Anzug, wohl nach deutscher Art, und hat überdies buchstäblich keine Kopeke in seinem Besitz; er weint beinah. Ich habe ihm fünfundzwanzig Rubel geschenkt und will ihm bei uns in einem Bureau eine kleine Stelle als Schreiber verschaffen. Und euch, mesdames, bitte ich, ihn zu bewirten, da er, wie es scheint, auch recht hungrig ist ...«
»Sie setzen mich in Erstaunen«, erwiderte die Generalin in derselben Art wie vorher, »hungrig und Anfälle! Was sind denn das für Anfälle?«
»Oh, sie wiederholen sich nicht oft, und überdies ist er sonst wie ein Kind, übrigens ein gebildeter Mensch. Ich wollte euch bitten, mesdames«, wandte er sich wieder zu seinen Töchtern, »ihn ein bißchen zu examinieren; es wäre doch gut, wenn man wüßte, wozu er zu brauchen ist.«
»Ex-a-mi-nie-ren?« fragte die Generalin in gedehntem Ton und ließ höchst erstaunt ihre Augen wieder von ihren Töchtern zu ihrem Mann und umgekehrt herüberrollen.
»Ach, liebe Frau, so mußt du das nicht auffassen ... übrigens ganz, wie es dir gefällig ist; ich wollte ihm eine kleine Freundlichkeit erweisen und ihn bei uns verkehren lassen; denn das ist beinahe ein gutes Werk.«
»Bei uns verkehren lassen? Aus der Schweiz kommt er?«
»Die Schweiz kann dabei nicht hinderlich sein; übrigens noch einmal: ganz wie du willst. Ich wünschte es deswegen, weil er erstens dein Namensvetter und vielleicht sogar ein Verwandter von dir ist, und weil er zweitens nicht weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll. Ich dachte sogar, du würdest dich für ihn ein wenig interessieren, da er ja doch zu unserer Familie gehört.«
»Selbstverständlich, Mama, wenn wir mit ihm keine Umstände zu machen brauchen«, sagte Alexandra, die Älteste. »Überdies wird er von seiner Reise hungrig sein; warum sollen wir ihm da nicht etwas zu essen geben, wenn er nicht weiß, wo er bleiben soll?«
»Und obendrein ist er das reine Kind; man kann mit ihm noch Blindekuh spielen.«
»Blindekuh spielen? Wieso?«
»Ach, Mama, hören Sie doch, bitte, auf, sich so anzustellen!« unterbrach Aglaja sie ärgerlich.
Die Mittlere, Adelaida, ein lachlustiges Ding, konnte sich nicht länger halten und lachte los.
»Rufen Sie ihn her, Papa; Mama erlaubt es«, entschied Aglaja. Der General klingelte und gab Befehl, den Fürsten zu rufen.
»Aber nur unter der Bedingung, daß ihm jedenfalls eine Serviette um den Hals gebunden wird, wenn er sich an den Tisch setzt«, erklärte die Generalin. »Ruft Fjodor oder Mawra ... es soll einer hinter ihm stehen und auf ihn aufpassen, wenn er ißt. Verhält er sich denn wenigstens ruhig, wenn er seine Anfälle bekommt? Schlägt er nicht mit den Armen um sich?«
»Er ist sogar im Gegenteil sehr wohlerzogen und hat sehr gute Manieren. Etwas zu naiv ist er manchmal ... Aber da ist er ja selbst! Hier stelle ich euch den Fürsten Myschkin vor, den Letzten dieses Geschlechts, einen Namensvetter und vielleicht sogar Verwandten; nehmt ihn freundlich auf! Es findet gleich das Frühstück statt, Fürst; erweisen Sie uns also die Ehre ...! Mich aber entschuldigen Sie, bitte; ich habe mich schon verspätet und muß mich beeilen ...«
»Man weiß schon, wohin Sie es so eilig haben«, sagte die Generalin würdevoll.
»Ich muß eilen, ich muß eilen, liebe Frau; ich habe mich schon verspätet. Gebt ihm auch eure Alben, mesdames, damit er euch etwas hineinschreibt; er ist ein Kalligraph, wie man ihn selten findet, ein wahres Talent! Dort bei mir in meinem Arbeitszimmer hat er in altertümlicher Schrift geschrieben: ›Der Abt Pafnuti hat dies eigenhändig unterzeichnet‹ ... Nun, auf Wiedersehen!«
»Pafnuti? Abt? So warten Sie doch, warten Sie doch, wohin wollen Sie denn, und was ist das für ein Pafnuti?« rief die Generalin eigensinnig, ärgerlich und beinah in Aufregung ihrem davoneilenden Gatten nach.
»Ja, ja, liebe Frau, das war so ein Abt in alten Zeiten ... Aber ich muß zum Grafen; er wartet auf mich, schon lange; und vor allen Dingen: er hat mir die Zeit selbst bestimmt ... Auf Wiedersehen, Fürst!«
Der General entfernte sich mit schnellen Schritten.
»Ich weiß, zu welchem Grafen er es so eilig hat!« bemerkte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton und lenkte gereizt ihre Blicke auf den Fürsten. »Ja, was war doch gleich?« begann sie, indem sie sich mürrisch und ärgerlich zu erinnern suchte. »Wovon redeten wir nur? Ach ja: was war das für ein Abt?«
»Mama!« begann Alexandra, und Aglaja stampfte sogar mit dem Füßchen.
»Stören Sie mich nicht, Alexandra Iwanowna!« schalt die Generalin, »ich will das auch wissen. Setzen Sie sich, Fürst, da auf diesen Sessel mir gegenüber; nein, hierher, rücken Sie mehr in die Sonne, ins Licht, damit ich Sie sehen kann! Nun also, was war das für ein Abt?«
»Der Abt Pafnuti«, antwortete der Fürst höflich und ernst.
»Pafnuti? Das ist interessant; also was war mit ihm?«
Die Generalin fragte ungeduldig, schnell, in scharfem Ton, ohne die Augen von dem Fürsten wegzuwenden, und als der Fürst antwortete, nickte sie zu jedem seiner Worte mit dem Kopf.
»Der Abt Pafnuti lebte im vierzehnten Jahrhundert«, begann der Fürst. »Er stand einem Kloster an der Wolga vor, in unserem jetzigen Gouvernement Kostroma. Er war durch sein frommes Leben weit und breit bekannt; er reiste auch zur Goldenen Horde, half die damals schwebenden Angelegenheiten ordnen und unterzeichnete ein Schriftstück; von dieser Unterschrift habe ich ein Faksimile gesehen. Die Schrift gefiel mir, und ich übte mich in ihr. Als der General vorhin sehen wollte, wie ich schriebe, um mir eine passende Stellung anzuweisen, schrieb ich einige Sätze in verschiedenen Schriftgattungen nieder und unter anderem auch den Satz ›Der Abt Pafnuti hat dies eigenhändig unterzeichnet‹ in der eigenen Schrift des Abtes Pafnuti. Das gefiel dem General sehr, und so hat er es denn jetzt erwähnt.«
»Aglaja«, sagte die Generalin, »merke es dir: Pafnuti! Oder notiere es dir lieber; ich vergesse dergleichen sonst immer. Übrigens hatte ich gedacht, die Sache würde interessanter sein. Wo ist denn diese Unterschrift?«
»Ich glaube, sie ist im Arbeitszimmer des Generals geblieben, auf dem Tisch.«
»Schickt doch gleich jemand hin und laßt sie herholen!«
»Ich werde sie Ihnen lieber noch einmal schreiben, wenn es Ihnen recht ist.«
»Gewiß, Mama«, sagte Alexandra, »aber jetzt wäre es das beste, wenn wir frühstückten; wir sind hungrig.«
»Auch das«, erwiderte die Generalin. »Kommen Sie, Fürst; haben Sie großen Hunger?«
»Ja, ich habe jetzt allerdings großen Hunger und sage Ihnen meinen besten Dank.«
»Das ist sehr nett, daß Sie so höflich sind, und ich finde, daß Sie überhaupt nicht so ein ... Sonderling sind, wie man Sie uns geschildert hat. Kommen Sie! Setzen Sie sich hierher, mir gegenüber!« sagte sie, als sie ins Eßzimmer gekommen waren, geschäftig und nötigte den Fürsten zum Sitzen, »ich möchte Sie gern ansehen können. Alexandra, Adelaida, sorgt ihr beide für den Fürsten! Nicht wahr, er ist gar nicht so ... krank? Vielleicht ist auch die Vorsichtsmaßregel mit der Serviette nicht nötig ... Hat man Ihnen beim Essen eine Serviette umgebunden, Fürst?«
»Früher, als ich etwa sieben Jahre alt war, hat man das wohl getan; aber jetzt lege ich mir die Serviette gewöhnlich auf die Knie, wenn ich esse.«
»So ist das auch in der Ordnung. Und Ihre Anfälle?«
»Anfälle?« fragte der Fürst ein wenig verwundert. »Anfälle kommen jetzt bei mir nur sehr selten vor. Übrigens, ich weiß nicht, es wird mir gesagt, das hiesige Klima werde mir schädlich sein.«
»Er spricht gut«, bemerkte die Generalin, zu ihren Töchtern gewendet; sie nickte immer noch zu jedem Wort des Fürsten mit dem Kopf, »ich hatte das gar nicht erwartet. Es war also wie gewöhnlich nur dummes Zeug und Unwahrheit. Essen Sie, Fürst, und erzählen Sie, wo Sie geboren und wo Sie erzogen sind! Ich möchte alles wissen; Sie interessieren mich ganz außerordentlich.«
Der Fürst bedankte sich, und während er mit großem Appetit aß, begann er von neuem all das mitzuteilen, wovon er an diesem Morgen schon mehrmals zu reden Anlaß gehabt hatte. Die Generalin zeigte sich immer mehr befriedigt. Auch die jungen Damen hörten recht aufmerksam zu. Man suchte die Verwandtschaft festzustellen, wobei sich herausstellte, daß der Fürst seinen Stammbaum ziemlich gut im Kopf hatte; aber trotz aller Bemühung wollte sich zwischen ihm und der Generalin keinerlei Verwandtschaft ergeben. Nur zwischen den beiderseitigen Großvätern und Großmüttern hätte sich allenfalls eine entfernte Verwandtschaft annehmen lassen. Dieser trockene Gesprächsstoff gefiel der Generalin ganz ausnehmend, da sie fast nie Gelegenheit hatte, von ihrem Stammbaum zu sprechen, obwohl sie es sehr gern tat, und als sie vom Tisch aufstand, befand sie sich infolgedessen in angeregter Stimmung.
»Wir wollen alle in unser sogenanntes Klublokal gehen«, sagte sie, »und auch der Kaffee soll dorthin gebracht werden.« »Wir haben ein solches gemeinsames Zimmer«, wandte sie sich an den Fürsten, den sie führte, »es ist ganz einfach mein kleiner Salon, wo wir, wenn kein Besuch da ist, uns zusammenfinden und eine jede von uns sich in ihrer Weise beschäftigt: Alexandra hier, meine älteste Tochter, spielt Klavier oder liest oder stickt; Adelaida malt Landschaften und Porträts (sie wird nur leider mit nichts fertig), und Aglaja sitzt da und tut nichts. Mir geht die Arbeit ebenfalls nicht vonstatten; es kommt nichts Ordentliches dabei heraus. Nun, sehen Sie, da sind wir; setzen Sie sich hierher, Fürst, an den Kamin, und erzählen Sie! Ich möchte gern wissen, wie Sie zu erzählen verstehen. Ich möchte ganz genaue Kenntnis von allem erlangen, und wenn ich dann mit der alten Fürstin Bjelokonskaja zusammenkomme, will ich ihr viel von Ihnen erzählen. Ich möchte, daß alle Leute ebenfalls für Sie Interesse gewinnen. Nun also, reden Sie!«
»Aber Mama, es ist doch sehr sonderbar, so auf Befehl erzählen zu müssen«, bemerkte Adelaida, die unterdessen ihre Staffelei zurechtgerückt, Pinsel und Palette zur Hand genommen hatte und nun anfing, eine schon vor längerer Zeit begonnene Landschaft nach einem Kupferstich zu kopieren. Alexandra und Aglaja setzten sich nebeneinander auf ein kleines Sofa, legten die Hände zusammen und machten sich bereit, das Gespräch mitanzuhören. Der Fürst nahm wahr, daß sich von allen Seiten eine gespannte Aufmerksamkeit auf ihn richtete.
»Ich würde nichts erzählen, wenn es mir in solcher Weise befohlen würde«, bemerkte Aglaja.
»Warum denn? Was ist denn dabei weiter sonderbar? Warum soll er nicht erzählen? Wozu hat er denn seine Zunge? Ich will wissen, wie er zu reden versteht. Sprechen Sie also, worüber Sie wollen! Erzählen Sie, wie Ihnen die Schweiz gefallen hat, welches der erste Eindruck gewesen ist! Ihr werdet sehen, er wird unverzüglich anfangen und sehr hübsch erzählen.«
»Der erste Eindruck war ein sehr starker ...«, begann der Fürst.
»Seht ihr wohl?« unterbrach ihn die ungeduldige Lisaweta Prokofjewna, zu ihren Töchtern gewendet, »er hat schon angefangen.«
»Lassen Sie ihn doch wenigstens sprechen, Mama!« schalt Alexandra. »Dieser Fürst ist vielleicht ein arger Schelm und ganz und gar kein Idiot«, flüsterte sie ihrer Schwester Aglaja zu.
»Höchstwahrscheinlich verhält es sich so; ich merke das schon lange«, versetzte Aglaja. »Es ist häßlich von ihm, uns so eine Rolle vorzuspielen. Was hat er dabei für einen Zweck? Hofft er etwa, dadurch in unseren Augen zu gewinnen?«
»Der erste Eindruck war ein sehr starker«, sagte der Fürst noch einmal. »Als man mich aus Rußland wegbrachte und wir durch verschiedene deutsche Städte fuhren, blickte ich alles nur schweigend an und erkundigte mich, soviel ich mich erinnern kann, nach nichts. Das war nach einer Reihe starker, qualvoller Anfälle meiner Krankheit; jedesmal aber, wenn die Krankheit sich in dieser Weise steigerte und die Anfälle mehrmals hintereinander erfolgten, verfiel ich in vollständigen Stumpfsinn, verlor gänzlich das Gedächtnis, und wenn auch der Verstand noch weiterarbeitete, so war doch die logische Aufeinanderfolge der Gedanken anscheinend unterbrochen. Mehr als zwei oder drei Gedanken vermochte ich nicht folgerichtig miteinander zu verknüpfen. So ist mir das in der Erinnerung. Wenn aber dann die Anfälle nachließen, wurde ich wieder gesund und kräftig wie jetzt. Ich weiß noch, daß die Traurigkeit, die mich erfüllte, ganz unerträglich war; ich hätte am liebsten losgeweint; ich befand mich dauernd in größter Erregung und Unruhe. Einen furchtbaren Eindruck machte es auf mich, daß dies alles mir fremd war; denn soviel begriff ich. Das Fremde drückte mich nieder. Aber (daran erinnere ich mich aufs deutlichste) ich erwachte völlig aus dieser geistigen Umnachtung eines Abends in Basel bei der Ankunft in der Schweiz, und was mich erweckte, das war das Geschrei eines Esels auf dem Marktplatz. Dieser Esel war für mich eine großartige Überraschung und gefiel mir aus nicht recht verständlichem Grunde außerordentlich, und gleichzeitig wurde in meinem Kopf gleichsam alles auf einmal wieder hell.«
»Ein Esel? Das ist sonderbar!« bemerkte die Generalin. »Übrigens, eigentlich ist dabei nichts Sonderbares; die eine oder die andere von uns wird sich noch in einen Esel verlieben«, fügte sie hinzu und blickte die lachenden Mädchen zornig an. »Das ist alles schon in der Mythologie vorgekommen. Fahren Sie fort, Fürst!«
»Seitdem liebe ich die Esel sehr. Ich habe sogar eine gewisse Sympathie mit ihnen. Ich begann, mich nach ihnen zu erkundigen (denn ich hatte früher noch nie welche gesehen), und überzeugte mich auch alsbald selbst davon, daß sie höchst nützliche, arbeitsame, kräftige, geduldige, billig zu unterhaltende, ausdauernde Tiere sind, und infolge dieses Esels fing mir auf einmal die ganze Schweiz zu gefallen an, so daß meine frühere Traurigkeit vollständig verschwand.«
»Das alles ist ja sehr seltsam; aber das von dem Esel konnte auch wegbleiben; gehen wir nun zu einem anderen Thema über! Warum lachst du denn fortwährend, Aglaja? Und du, Adelaida? Der Fürst hat die Geschichte von dem Esel sehr schön erzählt. Er hat selbst einen gesehen; aber du, was hast du gesehen? Du bist doch nicht im Ausland gewesen.«
»Ich habe schon einen Esel gesehen, Mama«, versetzte Adelaida.
»Und ich habe schon einen gehört«, fügte Aglaja hinzu. Alle drei brachen wieder in ein Gelächter aus, in das der Fürst einstimmte.
»Das ist sehr häßlich von euch«, schalt die Generalin. »Nehmen Sie es ihnen nicht übel, Fürst; sie sind sonst gute Mädchen. Ich zanke fortwährend mit ihnen, habe sie aber doch sehr lieb. Sie sind nur flatterhaft, leichtsinnig und ein bißchen verdreht.«
»Aber was sollte ich denn übelnehmen?« erwiderte der Fürst lachend. »Auch ich hätte die Gelegenheit zu lachen nicht unbenutzt gelassen. Aber ich trete trotzdem für den Esel ein: der Esel ist ein gutherziges, nützliches Geschöpf.«
»Sind Sie denn auch gutherzig, Fürst? Ich frage aus wirklichem Interesse«, fragte die Generalin.
Alle lachten wieder los.
»Da ist Ihnen wieder dieser nichtswürdige Esel eingefallen; ich hatte gar nicht an ihn gedacht!« rief die Generalin. »Bitte, glauben Sie mir, Fürst, ich beabsichtigte keinerlei ...«
»Keinerlei Anspielung? Oh, das glaube ich Ihnen gern, ohne Zweifel!«
Der Fürst lachte unstillbar.
»Das ist sehr nett von Ihnen, daß Sie lachen. Ich sehe, daß Sie ein recht gutherziger junger Mann sind«, sagte die Generalin.
»Manchmal bin ich nicht gutherzig«, erwiderte der Fürst.
»Aber ich habe ein gutes Herz«, bemerkte die Generalin überraschenderweise; »ich kann sogar sagen, daß ich immer gutherzig bin, und das ist mein einziger Fehler; denn man darf nicht immer gutherzig sein. Ich ärgere mich sehr oft über meine Töchter da, und besonders über Iwan Fjodorowitsch; aber es ist schnurrig, daß ich gerade, wenn ich mich ärgere, am allergutherzigsten bin. Ich war vorhin, vor Ihrer Ankunft, recht böse geworden und stellte mich, als verstände ich nicht, was man zu mir sagte, und wolle es nicht verstehen. Das kommt bei mir öfter vor; ich bin darin wie ein Kind. Aglaja hat mich deswegen gescholten, und ich danke dir, Aglaja. Übrigens ist das alles Unsinn. Ich bin nicht so dumm, wie ich scheine und wie mich meine lieben Töchter gern darstellen möchten. Ich habe einen energischen Charakter und halte mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg. Ich sage das übrigens alles ohne Groll. Komm her, Aglaja, und gib mir einen Kuß ... nun, nun, genug der Zärtlichkeit!« bemerkte sie, als Aglaja ihr herzlich den Mund und die Hand küßte. »Fahren Sie nur fort, Fürst! Vielleicht erinnern Sie sich noch an etwas, was interessanter ist als der Esel.«
»Ich kann trotz alledem nicht begreifen, wie jemand so geradezu loserzählen kann«, sagte Adelaida noch einmal. »Ich brächte das nicht fertig.«
»Aber der Fürst bringt es fertig, weil der Fürst eben überaus verständig, mindestens zehnmal oder vielleicht zwölfmal so verständig ist wie du. Hoffentlich fühlst du das nun selbst. Liefern Sie ihnen den Beweis, Fürst; fahren Sie fort! Den Esel können wir nun aber wirklich endlich beiseite lassen. Nun, was haben Sie außer dem Esel im Ausland gesehen?«
»Auch das von dem Esel war verständig«, sagte Alexandra. »Der Fürst hat seinen Krankheitszustand sehr interessant geschildert, und wie ihm infolge eines äußeren Anstoßes alles wieder zu gefallen anfing. Mir ist es immer interessant gewesen, wie Menschen den Verstand verlieren und dann wieder gesund werden. Namentlich wenn das plötzlich erfolgt.«
»Nicht wahr? Nicht wahr?« sagte die Generalin eifrig. »Ich sehe, daß auch du manchmal verständig bist. Na, nun habt ihr aber genug gelacht! Sie blieben ja wohl bei dem landschaftlichen Eindruck der Schweiz stehen, Fürst. Also bitte!«
»Wir kamen in Luzern an und fuhren dann über den See. Ich empfand, wie schön er war, fühlte mich aber dabei entsetzlich bedrückt«, sagte der Fürst.
»Warum?« fragte Alexandra.
»Ich verstehe es nicht. Ich fühle mich beim ersten Anblick solcher Naturschönheiten jedesmal bedrückt und unruhig; es ist eine aus Vergnügen und Unruhe gemischte Empfindung. Übrigens hing das alles noch mit meiner Krankheit zusammen.«
»Ach, ich möchte das zu gern einmal sehen«, sagte Adelaida. »Und ich begreife nicht, warum wir nicht endlich einmal ins Ausland reisen. Ich kann schon seit zwei Jahren keinen Gegenstand für ein Bild finden:
›Ost und Süd sind längst geschildert ...‹
Suchen Sie mir doch einen Gegenstand für ein Bild, Fürst!«
»Ich verstehe davon nichts. Aber ich möchte meinen: es ist weiter nichts erforderlich, als zu sehen und dann zu malen.«
»Zu sehen verstehe ich eben nicht.«
»Aber in was für Rätseln sprecht ihr denn da? Ich verstehe euch ja gar nicht!« unterbrach die Generalin sie. »Was heißt das: ›Zu sehen verstehe ich nicht?‹ Du hast doch Augen; nun, dann sieh doch! Wenn du hier nicht zu sehen verstehst, wirst du es auch im Ausland nicht lernen. Erzählen Sie lieber, was Sie selbst gesehen haben, Fürst!«
»Ja, das wird das beste sein«, stimmte ihr Adelaida bei.
»Der Fürst hat ja im Ausland sehen gelernt.«
»Das weiß ich nicht; ich habe dort nur meine Gesundheit gebessert; ich weiß nicht, ob ich da auch sehen gelernt habe. Ich bin übrigens dort fast die ganze Zeit über sehr glücklich gewesen.«
»Glücklich! Sie verstehen es, glücklich zu sein?« rief Aglaja. »Warum sagen Sie dann, daß Sie da nicht sehen gelernt haben? Sie werden in dieser Kunst noch unser Lehrer werden!«
»Ach ja, bitte, lehren Sie uns!« rief Adelaida lachend.
»Ich vermag Sie nichts zu lehren«, versetzte der Fürst, gleichfalls lachend. »Ich habe fast die ganze Zeit meines Aufenthalts im Ausland in diesem Schweizer Dorf verlebt; nur selten machte ich einen kleinen Ausflug; was kann ich Sie da lehren? Anfangs beschränkte sich die Besserung darauf, daß das Gefühl öden Mißmuts aufhörte; aber bald fing ich an zu genesen; dann wurde mir jeder Tag lieber und teurer, so daß sich mir diese Beobachtung aufdrängte. Ich legte mich immer sehr zufrieden schlafen und fühlte mich noch glücklicher beim Aufstehen. Aber woher das kam, das ist allerdings recht schwer zu erklären.«
»Sie waren also so zufrieden, daß Sie sich nirgend anderswohin wünschten, sich nirgend anderswohin gezogen fühlten?« fragte Alexandra.
»Zuerst, ganz am Anfang, sehnte ich mich weg, ja, und ich verfiel in große Unruhe. Ich dachte immer darüber nach, wie ich mir mein Leben einrichten könnte, und suchte mein künftiges Schicksal zu erkennen. Besonders zu gewissen Zeiten war ich sehr unruhig. Sie wissen, es gibt solche Augenblicke, namentlich wenn man ganz allein ist. Wir hatten dort einen kleinen Wasserfall; er fiel hoch vom Berg herab wie ein dünner Faden, fast senkrecht, weiß, geräuschvoll und schäumend; er fiel hoch herunter und schien doch ziemlich niedrig zu sein; er war eine halbe Werst entfernt, und es kam einem vor, als ob bis zu ihm hin nur fünfzig Schritte wären. Ich horchte bei Nacht gern auf sein Geräusch; das waren die Zeiten, wo ich manchmal in sehr große Unruhe geriet. Ebenso ging es mir manchmal um die Mittagszeit; ich stieg wohl allein irgendwohin in die Berge und stand dann allein inmitten derselben da, ringsum alte, große, harzige Tannen; oben auf einem Felsen die Ruinen einer alten mittelalterlichen Burg; unser Dörfchen unten in der Ferne, kaum sichtbar; die Sonne brannte, der Himmel war tiefblau, es herrschte eine furchtbare Stille. In solchen Augenblicken zog es mich mitunter weg, und ich hatte immer die Vorstellung, wenn ich nur immer geradeaus gehen könnte, immer weiter und weiter, und die Linie überschreiten könnte, wo Himmel und Erde einander berühren, da würde sich jedes Rätsel lösen, und ich würde sofort ein neues Leben erblicken, ein Leben, das tausendmal frischer und lärmender wäre als das bei uns; ich malte mir so eine große Stadt aus wie Neapel und darin lauter Paläste und Lärm und Getöse und Leben ... Ja, in was für Phantasien erging ich mich da! Aber dann schien es mir ein andermal, daß man auch im Gefängnis ein inhaltlich reiches Leben führen könne.«
»Diesen letzten löblichen Gedanken habe ich schon, als ich zwölf Jahre alt war, in meinem Lesebuch gelesen«, bemerkte Aglaja.
»Das ist lauter Philosophie«, fügte Adelaida hinzu. »Sie sind ein Philosoph und sind hergekommen, um uns zu unterweisen.«
»Da haben Sie vielleicht recht«, erwiderte der Fürst lächelnd. »Vielleicht bin ich tatsächlich ein Philosoph, und wer weiß, vielleicht habe ich wirklich die Absicht, andere zu belehren. Sehr wohl möglich, ja, ja, sehr wohl möglich.«
»Ihre Philosophie ist ganz von demselben Schlag wie Ewlampia Nikolajewnas Philosophie«, erwiderte wieder Aglaja. »Das ist eine Beamtenwitwe, die als arme Klientin manchmal zu uns kommt. Bei der dreht sich alles im Leben um die Wohlfeilheit; so billig wie nur möglich zu leben, das ist ihr Ideal, und sie redet auch von nichts anderem als von Kopeken; aber wohl zu beachten: sie hat Geld, das schlaue Frauenzimmer. Gerade so ist es auch mit Ihrem inhaltlich reichen Leben im Gefängnis und vielleicht auch mit Ihrer vierjährigen glücklichen Existenz im Dorf, für die Sie Ihr Neapel verkauft haben, und zwar, wie es scheint, mit Profit, wenn Sie dafür auch nur ein paar Kopeken bekommen haben.«
»Was das Leben im Gefängnis anlangt«, erwiderte der Fürst, »so kann man doch anderer Ansicht sein als Sie. Ich habe darüber einen Menschen erzählen hören, der zwölf Jahre im Gefängnis gesessen hatte; er war einer der Patienten meines Professors und machte eine Kur. Er hatte heftige Anfälle, war manchmal sehr unruhig, weinte viel und versuchte sogar einmal, sich das Leben zu nehmen. Sein Leben im Gefängnis war ein sehr trauriges gewesen, kann ich Ihnen versichern, aber keineswegs so ein Kopekenleben. Und dabei bestand seine ganze Bekanntschaft aus einer Spinne und aus einem Bäumchen, das unter seinem Fenster wuchs ... Aber ich will Ihnen lieber von einer Begegnung erzählen, die ich im vorigen Jahr mit einem andern Menschen hatte. Bei diesem lag ein sehr merkwürdiger Umstand vor, merkwürdig besonders deshalb, weil ein solcher Fall nur sehr selten vorkommt. Dieser Mensch wurde einmal mit anderen zusammen auf das Schafott geführt, und man las ihm seine Verurteilung zum Tode durch Erschießen wegen eines politischen Verbrechens vor. Zwanzig Minuten darauf wurde ihm seine Begnadigung vorgelesen und ein anderer Grad der Bestrafung festgesetzt; aber die zwanzig Minuten oder wenigstens die Viertelstunde zwischen den beiden Urteilen hatte er in der zweifellosen Überzeugung verlebt, daß er nach wenigen Minuten plötzlich sterben werde. Ich hörte ihm mit dem größten Interesse zu, wenn er manchmal von seinen damaligen Gefühlen erzählte, und richtete mehrmals meinerseits Fragen darüber an ihn. Er erinnerte sich an alles mit außerordentlicher Klarheit und sagte, er werde von diesen Minuten nie etwas vergessen. Etwa zwanzig Schritte vom Schafott entfernt, um welches eine Menge Volk und Soldaten herumstanden, waren drei Pfähle in die Erde gegraben, da der Verurteilten eine ziemliche Anzahl war. Man führte die drei ersten zu den Pfählen hin, legte ihnen das Sterbekostüm an (lange weiße Kittel), zog ihnen weiße Kapuzen über die Augen, damit sie die Gewehre nicht sehen könnten, und band sie fest; dann nahm jedem Pfahl gegenüber eine Abteilung Soldaten Aufstellung. Mein Bekannter stand als achter in der Reihe, mußte also in dem dritten Trupp zu den Pfählen gehen. Ein Geistlicher ging bei allen mit einem Kruzifix umher. Nun war es soweit, daß er nur noch fünf Minuten zu leben hatte, nicht mehr. Er sagte, diese fünf Minuten seien ihm als ein endloser Zeitraum erschienen, als ein gewaltiger Reichtum; er habe die Vorstellung gehabt, als ob diese fünf Minuten noch so viel Leben für ihn einschlössen, daß er an die letzten Augenblicke noch gar nicht zu denken brauche; er habe daher noch allerlei Dispositionen darüber getroffen, habe die Zeit berechnet, die zum Abschiednehmen von seinen Kameraden erforderlich sei, und hierfür zwei Minuten angesetzt; dann habe er noch zwei Minuten dazu bestimmt, zum letzten Mal über sich selbst nachzudenken, und die dann noch verbleibende, um zum letzten Mal um sich zu schauen. Er hatte es sehr gut im Gedächtnis, daß er gerade in dieser Weise über seine Zeit verfügt und sie so berechnet hatte. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, gesund und kräftig gewesen, als er dem Tode so nahe war. Er erinnerte sich, daß er beim Abschied von seinen Kameraden an einen derselben eine ziemlich nebensächliche Frage gerichtet und die Antwort mit großem Interesse gehört hatte. Dann, nachdem er von seinen Kameraden Abschied genommen hatte, kamen die beiden Minuten, die er dazu bestimmt hatte, über sich selbst nachzudenken; er wußte von vornherein, worüber er nachdenken würde: Er wollte sich möglichst schnell und klar eine Vorstellung davon machen, wie das zugehe, daß er jetzt existiere und lebe und in drei Minuten bereits irgend etwas sein werde, ein Jemand oder ein Etwas, also wer denn? Und wo? Über all diese Fragen gedachte er in diesen zwei Minuten ins klare zu kommen! Nicht weit davon stand eine Kirche, und das vergoldete Dach ihrer Kuppel glänzte im hellen Sonnenschein. Er erinnerte sich, daß er unverwandt nach diesem Dach und den davon ausgehenden Strahlen hingeblickt habe; er habe sich von diesen Strahlen gar nicht losreißen können; er habe die Vorstellung gehabt, als gehörten diese Strahlen zu seiner neuen Natur und als werde er in drei Minuten irgendwie mit ihnen zusammenfließen ... Die Ungewißheit und der Widerwille gegen dieses Neue, das geschehen und sogleich herankommen werde, seien furchtbar gewesen; aber er sagte, nichts habe ihm während dieser Zeit größere Pein bereitet als der unaufhörliche Gedanke: ›Wie aber, wenn ich nun nicht zu sterben brauchte? Wenn ich weiterleben könnte? Welche unendliche Perspektive! Und das alles würde dann mein sein! Ich würde dann jede Minute in eine ganze Ewigkeit verwandeln; nichts von meiner Zeit würde ich verlieren, jede Minute berechnen, keinen Augenblick nutzlos verschwenden!‹ Er sagte, dieser Gedanke habe sich bei ihm schließlich in einen solchen Ingrimm umgewandelt, daß er sogar gewünscht habe, nur möglichst bald erschossen zu werden.«
Der Fürst schwieg plötzlich; alle hatten erwartet, daß er noch weiterreden und aus dem Erzählten Schlußfolgerungen ziehen werde.
»Sind Sie zu Ende?« fragte Aglaja.
»Wie beliebt? Ja, ich bin zu Ende«, erwiderte der Fürst, der eine Weile in Gedanken versunken dagesessen hatte und nun wieder zu sich kam.
»Aber zu welchem Zweck haben Sie uns denn das erzählt?«
»Eine besondere Absicht hatte ich nicht dabei ... es ist mir eingefallen ... ich kam im Gespräch darauf ...«
»Sie brechen sehr kurz ab«, bemerkte Alexandra. »Sie wollten gewiß daraus folgern, Fürst, daß man keinen Augenblick nach Kopeken abschätzen kann und daß fünf Minuten mitunter wertvoller sind als ein Schatz Goldes. Das ist alles sehr löblich; aber gestatten Sie doch eine Frage: wie hat sich denn nun dieser Freund verhalten, der Ihnen eine solche Leidensgeschichte erzählt hat? Seine Strafe ist ja umgewandelt worden, und man hat ihm also dieses endlose Leben geschenkt. Was hat er denn nachher mit diesem Reichtum angefangen? Hat er denn nun jede Minute sorgsam ausgenutzt?«
»Oh nein, er hat mir selbst gesagt (denn ich habe ihn danach gefragt), daß er keineswegs so gelebt, sondern viele, viele Minuten verloren habe.«
»Nun also, da haben Sie einen Beleg dafür, daß man tatsächlich nicht imstande ist, das Leben vollständig auszukosten. Es muß wohl einen Grund geben, weshalb das unmöglich ist.«
»Ja, es muß aus irgendeinem Grunde unmöglich sein«, wiederholte der Fürst. »Ich habe mir das selbst gesagt ... Aber ich weiß nicht, wie es kommt: ich glaube es doch nicht so recht ...«
»Das heißt, Sie glauben, daß Sie verständiger leben werden als alle anderen Menschen?« fragte Aglaja.
»Ja, auch das habe ich manchmal geglaubt.«
»Und Sie glauben es noch?«
»Und ... ich glaube es noch«, versetzte der Fürst und sah Aglaja mit demselben stillen, ja schüchternen Lächeln an wie vorher; dann aber lachte er sofort wieder auf, und sein auf sie gerichteter Blick wurde fröhlich und heiter.
»Sehr bescheiden gesprochen«, bemerkte Aglaja in einem Ton, der beinah gereizt klang.
»Wie tapfer Sie doch alle sind! Da lachen Sie nun, und auf mich wirkte seine ganze Erzählung so stark, daß ich nachher davon träumte, und namentlich von diesen fünf Minuten ...«
Er ließ seine Augen noch einmal prüfend und ernst über seine Zuhörerinnen hinschweifen.
»Sie zürnen mir doch nicht aus irgendeinem Grund?« fragte er plötzlich; er war anscheinend verlegen, blickte aber doch allen gerade in die Augen.
»Aber weswegen denn?« riefen alle drei Mädchen erstaunt.
»Nun, weil ich sozusagen den Schulmeister spiele ...«
Alle lachten.
»Wenn Sie mir zürnen, dann werden Sie mir, bitte, wieder gut!« sagte er. »Ich weiß ja selbst, daß ich weniger als andere gelebt habe und weniger als alle andern vom Leben verstehe. Ich rede vielleicht manchmal sehr wunderlich ...«
Hier geriet er tatsächlich ganz in Verwirrung.
»Wenn Sie sagen, daß Sie glücklich waren, so haben Sie nicht weniger gelebt als andere, sondern mehr; warum verstellen Sie sich dann also und entschuldigen sich?« begann Aglaja in scharfem, zänkischem Ton. »Sie brauchen sich übrigens nicht darüber zu beunruhigen, daß Sie uns belehren; von einem solchen Triumph Ihrerseits kann gar nicht die Rede sein. Bei Ihrem Quietismus kann man auch ein Leben, das hundert Jahre dauert, mit Glück anfüllen. Mag man Ihnen nun eine Hinrichtung oder einfach einen Finger zeigen, Sie werden aus dem einen und aus dem andern in gleicher Weise einen löblichen Gedanken schöpfen und dabei zufrieden und glücklich sein. Auf die Art läßt sich das Leben ertragen.«
»Ich verstehe nicht, warum du dich immer so ereiferst«, sagte die Generalin, die schon lange die Gesichter der Redenden beobachtet hatte, »und wovon ihr eigentlich redet, daraus kann ich auch nicht klug werden. Von was für einem Finger ist denn die Rede? Was ist das für ein Unsinn? Der Fürst spricht sehr schön; nur ist das, was er sagt, ein bißchen zu traurig. Warum entmutigst du ihn? Als er anfing, lachte er, und jetzt ist er ganz verstört.«
»Ach was, Mama! Aber es ist schade, Fürst, daß Sie keine Hinrichtung mit angesehen haben; ich hätte Sie gern über einen Punkt befragt.«
»Ich habe eine Hinrichtung mit angesehen«, versetzte der Fürst.
»Wirklich?« rief Aglaja. »Das hätte ich mir von vornherein denken sollen! Das setzt dem Ganzen die Krone auf. Nun also, wenn Sie eine Hinrichtung mit angesehen haben, wie können Sie dann sagen, daß Sie die ganze Zeit über glücklich gelebt haben? Habe ich nicht recht?«
»Fand denn die Hinrichtung in Ihrem Dorf statt?« fragte Adelaida.
»Ich habe ihr in Lyon beigewohnt; ich war mit Schneider dorthin gefahren. Gleich nachdem wir angekommen waren, stießen wir auf diese Szene.«
»Nun, hat es Ihnen gefallen? War viel Erbauliches und Nützliches dabei?« fragte Aglaja.
»Es hat mir ganz und gar nicht gefallen, und ich war danach sogar etwas krank; aber ich gestehe, daß ich wie angeschmiedet dastand und hinsah und die Augen nicht davon abwenden konnte.«
»Ich hätte auch nicht wegsehen können«, sagte Aglaja.
»Es wird dort nicht gern gesehen, wenn sich Frauen dabei zum Zuschauen einfinden, und es stehen über solche Frauen sogar mißbilligende Bemerkungen in den Zeitungen.«
»Also wenn man findet, daß sich das nicht für Frauen schickt, so will man damit sagen, rechtfertigend sagen, daß es für Männer schicklich ist. Eine köstliche Logik! Und Sie denken gewiß ebenso.«
»Erzählen Sie uns doch etwas von der Hinrichtung!« unterbrach Adelaida sie.
»Ich möchte es jetzt nicht gern tun«, erwiderte der Fürst in sichtlicher Verlegenheit und mit düsterer Miene.
»Sie wollen es wohl aus Schonung für uns unterlassen?« fragte Aglaja spöttisch.
»Das nicht; aber ich möchte es nicht, weil ich von dieser Hinrichtung schon vorhin erzählt habe.«
»Wem haben Sie denn davon erzählt?«
»Ihrem Kammerdiener, während ich wartete.«
»Welchem Kammerdiener?« erscholl es von allen Seiten. »Nun, dem, der da im Vorzimmer sitzt, mit dem grauen Haar und dem rötlichen Gesicht; ich habe im Vorzimmer gesessen, bis ich zu Iwan Fjodorowitsch hineingehen durfte.«
»Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin.
»Der Fürst ist ein Demokrat«, erklärte Aglaja kurz.
»Nun, wenn Sie es Alexei erzählt haben, können Sie es uns auch nicht abschlagen.«
»Ich will es unter allen Umständen hören«, wiederholte Adelaida ihr Verlangen.
»Als Sie mich vorhin nach einem Gegenstand für ein Gemälde fragten«, wandte sich der Fürst zu ihr (er hatte sehr schnell und zutraulich wieder Mut gefaßt), »da kam mir wirklich der Gedanke, Ihnen einen solchen an die Hand zu geben: das Gesicht eines Verurteilten zu zeichnen, eine Minute vor dem Niederfallen des Beiles der Guillotine, wenn er noch auf dem Schafott steht, also bevor er sich auf das Brett legt.«
»Das Gesicht? Nur das Gesicht?« fragte Adelaida. »Das wird ein sonderbarer Gegenstand sein; was wird denn dabei für ein Bild herauskommen?«
»Ich wüßte nicht, warum man das nicht zeichnen sollte«, versetzte der Fürst beharrlich und eifrig. »Ich habe unlängst in Basel ein solches Bild gesehen. Ich würde es Ihnen sehr gern beschreiben ... Ich werde es auch ein andermal tun ... Es hat mir einen starken Eindruck gemacht.«
»Das Baseler Bild müssen Sie mir jedenfalls später einmal beschreiben«, sagte Adelaida. »Jetzt aber verdeutlichen Sie mir, bitte, das Bild von der Hinrichtung! Können Sie es so schildern, wie Sie es sich vorstellen? Wie soll man dieses Gesicht zeichnen? Das Gesicht allein? Wie sieht denn dieses Gesicht aus?«
»Es war genau eine Minute vor dem Tod«, begann der Fürst sehr bereitwillig (er schien von seinen Erinnerungen ganz hingerissen zu sein und sogleich alles übrige zu vergessen), »in dem Augenblick, wo er die Stufen hinaufgestiegen war und soeben das Schafott betreten hatte. Da blickte er nach der Seite hin, wo ich stand; ich sah ihm ins Gesicht und verstand alles ... Freilich, wie kann ich das mit Worten wiedergeben? Ich würde innig wünschen, daß Sie oder sonst jemand das zeichneten! Das beste wäre, wenn Sie es täten! Ich dachte gleich damals: ein solches Bild wird nützlich sein. Wissen Sie, man müßte darin alles zur Darstellung bringen, was vorhergegangen war, alles, alles. Er hatte, wie ich hörte, im Gefängnis gesessen und seine Hinrichtung frühestens in einer Woche erwartet; er rechnete auf die gewöhnlichen Formalitäten, darauf, daß das Todesurteil noch irgendwohin geschickt werden müsse und erst nach Ablauf einer Woche wieder zurückkommen werde. Aber diesmal nahm durch irgendeinen Zufall die Sache einen kürzeren Lauf. Um fünf Uhr morgens schlief er noch. Es war Ende Oktober; um fünf Uhr ist es da noch kalt und dunkel. Der Gefängnisaufseher trat, von einer Schildwache begleitet, leise herein und berührte sacht seine Schulter; er richtete sich halb auf, stützte sich auf den Ellbogen und sah das Licht: ›Was gibt's?‹ – ›Um zehn Uhr ist die Hinrichtung.‹ Verschlafen, wie er war, konnte er es nicht glauben und wollte Einwendungen machen: das Urteil werde erst in einer Woche zurückkommen. Aber sobald er völlig wach geworden war, hörte er auf zu streiten und schwieg. So erzählte man. Dann sagte er: ›Es ist doch schrecklich, so plötzlich ...‹ und verstummte wieder und vermochte nun kein Wort mehr zu sagen. Nun vergehen drei, vier Stunden, die durch die bekannten Dinge ausgefüllt werden: durch den Besuch des Geistlichen, durch das Frühstück, bei dem ihm Wein, Kaffee und gebratenes Rindfleisch gereicht werden (aber ist das nicht der reine Hohn? Bei einiger Überlegung sagt man sich ja, welche Grausamkeit darin liegt; aber andererseits handeln diese harmlosen Leute in bester Meinung und sind überzeugt, daß das Humanität ist); dann folgt die Toilette (Sie wissen wohl, worin die Toilette eines Hinzurichtenden besteht); schließlich fährt man ihn durch die Stadt zum Schafott ... Ich denke mir, daß er, auch während er so fuhr, die Vorstellung gehabt hat, es bleibe ihm noch eine endlose Zeit zum Leben übrig. Ich glaube, er hat unterwegs gewiß gedacht: ›Es dauert noch lange; noch drei Straßen lang habe ich zu leben; jetzt fahre ich durch diese, dann kommt noch jene, dann noch jene, wo rechts der Bäckerladen ist ... es ist noch eine ganze Weile, bis wir zu dem Bäckerladen kommen!‹ Ringsumher eine Menge Volk, Geschrei, Lärm, zehntausend Gesichter und Augenpaare – all das muß er ertragen, und das ärgste ist der Gedanke: ›Da sind nun zehntausend Menschen, und keiner von ihnen wird hingerichtet; aber ich werde hingerichtet!‹ Nun, das ist alles erst die Vorbereitung. Auf das Schafott führte eine kleine Treppe hinauf; vor dieser Treppe brach er plötzlich in Tränen aus, und dabei war er ein starker, kräftiger Mann, ein gewalttätiger Verbrecher, wie man sagte. Die ganze Zeit über war beständig der Geistliche bei ihm; er fuhr auch auf dem Wagen neben ihm und redete fortwährend; der Verurteilte hörte kaum hin, und wenn er anfing zuzuhören, so verstand er vom dritten Wort an nichts mehr. So muß das wohl gewesen sein. Endlich begann er die Treppe hinanzusteigen; da ihm die Füße gefesselt waren, konnte er nur ganz kleine Schritte machen. Der Geistliche, wohl ein verständiger Mensch, sprach nicht mehr, sondern hielt ihm immer ein Kruzifix zum Küssen hin. Schon am Fuß der Treppe war er sehr blaß; als er aber hinaufgestiegen war und auf dem Schafott stand, wurde er auf einmal weiß wie ein Blatt Papier, ganz wie ein Blatt weißes Schreibpapier. Wahrscheinlich wurden ihm die Beine schwach und steif, und es wandelte ihn eine Übelkeit an, wie wenn er in der Kehle ein Würgen und infolgedessen eine Art Kitzel fühlte – haben Sie diese Empfindung nicht auch schon manchmal bei Schreck oder in besonders furchtbaren Augenblicken gehabt, wenn der ganze Verstand zwar noch da ist, aber keine Kraft mehr hat? Ich meine, wenn einem beispielsweise unentrinnbares Verderben droht, das Haus über einem zusammenstürzt, dann bekommt man auf einmal ein schreckliches Verlangen, sich hinzusetzen und die Augen zu schließen und zu warten: komme, was kommen mag ...! Da nun, als diese Schwäche begann, hielt ihm der Geistliche auf einmal ganz schnell, mit einer raschen Bewegung und ohne ein Wort zu sagen, das Kruzifix dicht an die Lippen (es war so ein kleines, silbernes Kruzifix), und das tat er zu wiederholten Malen, alle Augenblicke. Und sowie das Kruzifix seine Lippen berührte, öffnete er jedesmal die Augen und schien sich wieder für ein paar Sekunden zu beleben, und die Beine gingen weiter. Das Kruzifix küßte er begierig und hastig, als beeile er sich, für jeden Fall eine Art von Reisevorrat mitzunehmen; aber schwerlich hatte er in diesem Augenblick irgendwelche frommen Gedanken. So ging es, bis er dicht bei dem Brett war ... Es ist merkwürdig, daß nur selten ein Verurteilter in diesen letzten Sekunden in Ohnmacht fällt! Im Gegenteil ist der Kopf sehr lebendig und arbeitet wahrscheinlich mit aller Kraft, mit aller Kraft, wie eine in Gang befindliche Maschine; ich stelle mir vor, daß allerlei Gedanken darin nur so pochen, unvollendete und vielleicht auch lächerliche, fremdartige Gedanken: ›Der Mensch, der da zusieht, hat eine Warze auf der Stirn; an dem Rock des Scharfrichters ist unten der eine Knopf verrostet ...‹, und dabei weiß man alles und erinnert sich an alles; und da ist ein Punkt, den man auf keine Weise vergessen kann, und in Ohnmacht fallen kann man auch nicht, und alles dreht und bewegt sich um ihn, um diesen Punkt. Und wenn man nun bedenkt, daß das so bis zur letzten Viertelsekunde fortgeht, wo der Kopf schon auf dem Brett liegt und wartet und ...
weiß, was kommen wird, und auf einmal über sich das Geräusch gleitenden Eisens hört! Das hört man unbedingt! Ich, wenn ich daläge, ich würde absichtlich darauf aufpassen und danach hinhören! Dieses Geräusch dauert vielleicht nur den zehnten Teil eines Augenblicks; aber man hört es unbedingt! Und nun denken Sie sich, daß man bis auf den heutigen Tag darüber streitet, ob nicht möglicherweise der Kopf, wenn er abgeschlagen ist, noch vielleicht eine Sekunde lang weiß, daß er abgeschlagen ist – welch eine Vorstellung! Und wie, wenn er es gar fünf Sekunden lang weiß ...! Zeichnen Sie das Schafott so, daß nur die oberste Stufe deutlich und nah zu sehen ist; der Verurteilte hat sie betreten: man sieht seinen Kopf, das Gesicht ist weiß wie ein Blatt Papier; der Geistliche hält ihm das Kruzifix hin; der streckt begierig seine bläulichen Lippen danach aus und sieht, was vor ihm ist, und –weiß alles. Das Kruzifix und der Kopf, die bilden den eigentlichen Gegenstand des Bildes; die Gesichter des Geistlichen, des Scharfrichters und seiner bei den Gehilfen und ein paar Köpfe und Augen weiter unten, das alles braucht nur im Hintergrund dargestellt zu sein wie im Nebel, nur als Beiwerk ... So denke ich mir das Bild.«
Der Fürst schwieg und blickte die Damen alle an.
»Das sieht nun freilich nicht wie Quietismus aus«, sprach Alexandra vor sich hin.
»Und jetzt, bitte, erzählen Sie uns, wie Sie verliebt waren!« sagte Adelaida.
Der Fürst blickte sie erstaunt an.
»Tun Sie mir den Gefallen!« fuhr Adelaida schnell fort.
»Sie sind uns ja allerdings auch noch die Beschreibung des Baseler Bildes schuldig; aber jetzt möchte ich hören, wie Sie verliebt waren; leugnen Sie nicht, Sie sind verliebt gewesen! Zudem werden Sie, sobald Sie zu erzählen anfangen, aufhören ein Philosoph zu sein.«
»Jedesmal, wenn Sie mit einer Erzählung fertig sind, schämen Sie sich sofort dessen, was Sie erzählt haben«, bemerkte Aglaja plötzlich. »Woher kommt das?«
»Was redest du da für dummes Zeug!« schalt die Generalin und blickte Aglaja mißbilligend an.
»Ja, das war sehr unverständig«, stimmte Alexandra ihr bei.
»Glauben Sie nicht, daß sie das wirklich meint, Fürst!« wandte sich die Generalin an diesen; »sie redet absichtlich so, aus irgendeiner Tücke; so dumm ist sie gar nicht. Nehmen Sie es nicht übel, daß die Mädchen Sie so quälen! Gewiß führen sie irgend etwas im Schilde; aber sie sind schon sehr für Sie eingenommen. Ich kenne ihre Gesichter.«
»Auch ich kenne die Gesichter der jungen Damen«, erwiderte der Fürst mit besonders starker Betonung.
»Wieso?« fragte Adelaida neugierig.
»Was wissen Sie von unsern Gesichtern?« fragten auch die beiden andern in lebhafter Spannung.
Aber der Fürst schwieg mit ernster Miene; alle warteten auf seine Antwort.
»Ich werde es Ihnen später sagen«, versetzte er leise und ernst.
»Sie wollen sich durchaus bei uns interessant machen«, rief Aglaja. »Und was machen Sie dabei für ein feierliches Gesicht!«
»Nun gut«, sagte Adelaida wieder in ihrer hastigen Art. »Aber wenn Sie ein solcher Kenner von Gesichtern sind, dann sind Sie sicherlich auch verliebt gewesen; ich habe also richtig vermutet. Erzählen Sie uns also davon!«
»Ich bin nicht verliebt gewesen«, antwortete der Fürst ebenso leise und ernst wie vorher; »ich ... ich war auf andere Weise glücklich.«
»Wie denn? Wodurch denn?«
»Nun gut, ich will es Ihnen erzählen«, sagte der Fürst; er schien in tiefes Nachdenken versunken zu sein.
»Da schauen Sie mich nun alle mit solcher Neugier an«, begann er, »daß Sie mir am Ende noch böse werden, wenn ich diese Neugier nicht befriedige. Nein, nein, ich scherze nur«, fügte er schnell mit einem Lächeln hinzu. »Dort ... dort gab es viele Kinder, und ich bin die ganze Zeit über mit Kindern zusammen gewesen, nur mit Kindern. Es waren die Kinder jenes Dorfes, eine ganze Schar, die die Schule besuchte. Unterrichtet habe ich sie nicht, oh nein; dazu war ein Schullehrer dort, Jules Thibaut; ich habe sie wohl auch dies und das gelehrt; größtenteils aber war ich ohne solche Absicht mit ihnen zusammen, und die ganzen vier Jahre habe ich in dieser Weise verlebt. Weiter hatte ich keine Wünsche. Ich sagte ihnen alles, ohne ihnen etwas zu verheimlichen. Ihre Eltern und Verwandten waren alle auf mich ärgerlich, weil die Kinder zuletzt ohne mich gar nicht mehr leben konnten und mich immer umdrängten, und der Schullehrer wurde schließlich mein ärgster Feind. Ich hatte dort viele Feinde, alle um der Kinder willen. Sogar Schneider machte mir Vorwürfe. Und was fürchteten sie eigentlich? Man kann einem Kind alles sagen, geradezu alles; mich hat oft die Wahrnehmung überrascht, wie schlecht die Erwachsenen die Kinder kennen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Man darf den Kindern nichts unter dem Vorwand verheimlichen, sie seien noch zu klein, und es sei für sie noch zu früh, dies und jenes zu wissen. Welch ein trauriger, unglücklicher Gedanke! Und wie gut merken es die Kinder selbst, daß die Väter sie für zu klein und unverständig halten, während sie doch in Wirklichkeit alles verstehen! Die Erwachsenen wissen nicht, daß die Kinder selbst in den schwierigsten Angelegenheiten oft einen sehr guten Rat geben können. Oh Gott, wenn einen so ein hübsches Vögelchen vertrauensvoll und glücklich anblickt, da schämt man sich ja, es zu betrügen! Vögelchen nenne ich die Kinder, weil die Vögelchen das Schönste sind, was es auf der Welt gibt. Übrigens waren alle Leute im Dorf namentlich wegen eines bestimmten Falles über mich aufgebracht ... Thibaut aber beneidete mich einfach; am Anfang schüttelte er immer den Kopf und wunderte sich darüber, wie es zuging, daß die Kinder bei mir alles begriffen und bei ihm fast nichts; aber als ich ihm dann sagte, wir beide könnten sie nichts lehren, sondern umgekehrt sie uns, da lachte er mich aus. Und wie mochte er mich nur beneiden und verleumden, da er doch selbst in stetem Verkehr mit den Kinder lebte! Durch den Verkehr mit Kindern aber wird die Seele gesund ... Es war da im Schneiderschen Institut ein Patient, ein sehr unglücklicher Mensch. Sein Unglück war ein so furchtbares, daß es kaum seinesgleichen hatte. Er war zur Heilung von Geistesstörung eingeliefert worden; aber nach meiner Meinung war er nicht geistig gestört, sondern litt nur entsetzlich, und das war seine ganze Krankheit. Und wenn Sie nun wüßten, was ihm zuletzt unsere Kinder wurden ...! Aber von diesem Patienten will ich Ihnen lieber ein andermal erzählen; jetzt möchte ich erzählen, wie das alles anfing. Die Kinder liebten mich zuerst nicht. Ich war so groß und immer so unbeholfen; ich weiß, daß ich unschön bin ..., dazu kam endlich noch, daß ich Ausländer war. Die Kinder machten sich anfangs über mich lustig, und dann fingen sie sogar an, mit Steinen nach mir zu werfen, als sie gesehen hatten, daß ich Marie küßte. Ich habe sie aber nur ein einziges Mal geküßt ... Nein, lachen Sie nicht!« warf der Fürst hastig ein, um ein Lächeln seiner Zuhörerinnen zu hemmen, »von Liebe war dabei ganz und gar nicht die Rede. Wenn Sie wüßten, was für ein unglückliches Geschöpf sie war, würden Sie selbst sie ebenso bemitleiden, wie ich es tat. Sie war aus unserem Dorf. Ihre Mutter war eine alte Frau, die in ihrem kleinen, ganz baufälligen, zweifenstrigen Häuschen das eine Fenster mit einer Art Ladentisch versehen hatte; aus diesem Fenster verkaufte sie mit Erlaubnis der Dorfobrigkeit Schnüre, Zwirn, Tabak, Seife, alles immer für ganz wenige Groschen, und davon lebte sie. Sie war krank: die Füße waren ihr dauernd geschwollen, so daß sie immer auf einem Fleck sitzen mußte. Marie war ihre Tochter, zwanzig Jahre alt, schwächlich und mager; schon längst hatte sich bei ihr die Schwindsucht zu entwickeln begonnen; aber trotzdem ging sie immer auf Tagelohn zu schwerer Arbeit in die Häuser: sie scheuerte die Fußböden, wusch Wäsche, fegte die Höfe und versorgte das Vieh. Ein durchreisender französischer Kommis verführte sie und nahm sie mit sich fort, ließ sie aber eine Woche darauf unterwegs im Stich und machte sich heimlich davon. Sich durchbettelnd, kehrte sie wieder nach Hause zurück, ganz schmutzig, in Lumpen, mit zerrissenen Schuhen; sie war eine ganze Woche lang zu Fuß gewandert, hatte im Freien übernachtet und sich stark erkältet; ihre Füße waren wund, die Hände geschwollen und rissig. Übrigens war sie auch vorher nicht hübsch gewesen; nur die Augen waren still, gut und unschuldig. Sie war im höchsten Grade schweigsam. Einmal, noch vor jenem Vorfall, fing sie bei der Arbeit auf einmal an zu singen, und ich weiß noch, daß alle sich wunderten und zu lachen anfingen: ›Marie singt! Was stellt das vor? Marie singt!‹ Sie wurde schrecklich verlegen, und ihr Gesang verstummte dann für ihr ganzes Leben. Damals hatten die Leute sie noch freundlich behandelt; aber als sie krank und heruntergekommen zurückgekehrt war, da hatte niemand mit ihr auch nur das geringste Mitleid. Wie grausam die Menschen in solchen Fällen sind! Was für herzlose Anschauungen sie von solchen Dingen haben! Als erste empfing die Mutter sie mit Zorn und Verachtung: ›Du hast mich jetzt entehrt!‹ Sie war auch die erste, die sie der Schande preisgab: als man im Dorf hörte, daß Marie zurückgekommen sei, da kamen alle eilig herbeigelaufen, um sie zu sehen, und fast das ganze Dorf versammelte sich in dem Häuschen der Alten: Greise, Kinder, Frauen, Mädchen, alle, alle, eine ergrimmte Menge. Marie lag hungrig und zerlumpt auf dem Fußboden zu den Füßen der Alten und weinte. Als alle herbeigelaufen kamen, bedeckte sie ihr Gesicht mit dem aufgelösten, wirren Haar und drückte es gegen den Boden. Alle Umstehenden betrachteten sie, als ob sie ein Scheusal wäre. Die alten Männer brachen den Stab über sie und schalten sie, die jungen Leute machten sich sogar über sie lustig, die Frauen schimpften auf sie und verdammten sie und sahen sie mit solcher Verachtung an wie eine ekle Spinne. Die Mutter ließ das alles geschehen, saß selbst dabei, nickte mit dem Kopf und billigte diese Roheiten. Die Mutter war damals schon sehr krank und dem Tode nahe (zwei Monate darauf starb sie auch wirklich); sie wußte, daß sie bald sterben werde, wollte sich aber trotzdem bis zu ihrem Tod nicht mit ihrer Tochter versöhnen; sie redete sogar kein Wort mit ihr, jagte sie zum Schlafen auf den Flur hinaus und gab ihr fast nichts zu essen. Sie mußte ihre kranken Füße oft in warmes Wasser stellen; Marie wusch sie ihr alle Tage und versorgte ihre Mutter; aber diese nahm alle Dienstleistungen der Tochter schweigend hin, ohne ihr auch nur ein einziges freundliches Wort zu sagen. Marie ertrug alles, und als ich dann später mit ihr bekannt wurde, nahm ich wahr, daß sie diese Behandlung sogar selbst für gerecht erachtete und sich selbst für das allerschlechteste Geschöpf hielt. Als die Mutter dauernd an das Bett gefesselt war, kamen die alten Frauen des Dorfes der Reihe nach zu ihr, um sie zu pflegen; das ist dort so Sitte. Nun bekam Marie überhaupt nichts mehr zu essen; im Dorf aber jagten alle Leute sie fort, und nicht einmal Arbeit wollte ihr jemand geben. Alle behandelten sie wie eine Verworfene, und die Männer betrachteten sie gar nicht mehr als Weib, solche unflätigen Schimpfworte gebrauchten sie ihr gegenüber. Manchmal, indes nur sehr selten, warfen sie ihr, wenn sie sich sonntags betrunken hatten, des Spaßes halber ein paar Groschen hin, einfach auf die Erde, und Marie hob sie schweigend auf. Sie fing schon damals an, Blut zu husten. Schließlich waren ihre Lumpen schon vollständig zu Fetzen geworden, so daß sie sich schämte, sich im Dorf blicken zu lassen; barfuß ging sie schon von ihrer Heimkehr an. Da begann die ganze Kinderschar (es waren über vierzig Schulkinder) sie zu verhöhnen und sogar mit Schmutz nach ihr zu werfen. Sie bat den Hirten, er möchte ihr erlauben, die Kühe zu hüten; aber der Hirt jagte sie weg. Da fing sie an, ohne seine Erlaubnis mit der Herde auf den ganzen Tag auszuziehen. Da sie dem Hirten sehr viel Nutzen brachte und er dies bemerkte, so trieb er sie nun nicht mehr fort und gab ihr sogar manchmal die Überreste seines Mittagessens, Brot und Käse. Er hielt das für eine große Gnade von seiner Seite. Als die Mutter gestorben war, schämte sich der Pastor nicht, Marie in der Kirche vor allem Volk an den Pranger zu stellen. Marie stand, so wie sie war, in ihren Lumpen, am Sarg. Es hatten sich eine Menge Leute eingefunden, um zu sehen, wie sie weinen und hinter dem Sarg hergehen werde; da wandte sich der Pastor (er war noch ein junger Mann, und sein ganzer Ehrgeiz ging darauf, ein großer Prediger zu werden) an alle Anwesenden und zeigte auf Marie. ›Die ist es, die an dem Tod dieser achtenswerten Frau die Schuld trägt‹ (das war unwahr, da die Mutter schon seit zwei Jahren krank gewesen war); ›da steht sie vor euch und wagt nicht aufzublicken, weil Gottes Finger sie gezeichnet hat; da ist sie nun, barfuß und in Lumpen, ein abschreckendes Beispiel für diejenigen, die vom Pfad der Tugend abirren möchten! Und wer ist es? Es ist ihre eigene Tochter!‹, und in dieser Art immer weiter. Und denken Sie sich: diese Gemeinheit gefiel fast allen; aber ... nun ereignete sich etwas ganz Besonderes: die Kinder traten für Marie ein; denn zu dieser Zeit waren die Kinder alle schon auf meiner Seite und hatten Marie liebgewonnen. Das war so zugegangen. Ich wollte gern etwas für Marie tun; es war dringend nötig, daß ihr jemand Geld gab; aber Geld hatte ich dort nie auch nur eine Kopeke in meinem Besitz. Ich hatte eine kleine Brillantnadel; die verkaufte ich an einen Trödler, der in den Dörfern herumzog und mit alten Kleidern handelte. Er gab mir dafür acht Franken, obwohl sie gut vierzig wert war. Lange Zeit bemühte ich mich, Marie allein zu treffen; endlich begegneten wir einander außerhalb des Dorfes, an einem Zaun, auf einem Seitenpfad, der in die Berge führte, bei einem Baum. Dort gab ich ihr die acht Franken und sagte ihr, sie möchte damit sparsam umgehen, da ich nicht mehr hätte; und dann küßte ich sie und sagte, sie solle nicht denken, daß ich irgendwelche unlautere Absicht hätte; ich hätte sie nicht etwa geküßt, weil ich in sie verliebt wäre, sondern weil sie mir sehr leid täte und ich sie gleich von Anfang an durchaus nicht für eine Schuldbeladene, sondern nur für eine Unglückliche gehalten hätte. Ich wollte sie gern gleich bei dieser Begegnung trösten und ihr deutlich machen, daß sie sich gar nicht für soviel schlechter als alle zu halten brauche; aber sie schien das gar nicht zu verstehen. Ich merkte das gleich, obwohl sie fast die ganze Zeit über schwieg und mit niedergeschlagenen Augen vor mir stand und sich furchtbar schämte. Als ich zu Ende war, küßte sie mir die Hand, und ich griff sofort nach der ihrigen und wollte sie ihr küssen; aber sie zog sie schnell weg. In diesem Augenblick erspähten uns auf einmal die Kinder, ein ganzer Schwarm; ich erfuhr später, daß sie mir schon lange nachspioniert hatten. Sie fingen an zu pfeifen, in die Hände zu klatschen und zu lachen; Marie aber lief eiligst davon. Ich wollte zu den Kindern etwas sagen; aber sie warfen nach mir mit Steinen. Noch an demselben Tag erfuhren alle, was vorgefallen war, das ganze Dorf; alle fielen sie wieder über Marie her und wurden ihr noch mehr feind. Ich hörte sogar, daß man vorhatte, sie zu einer Strafe zu verurteilen; indes ging das, Gott sei Dank, noch so vorüber. Aber dafür ließen ihr die Kinder gar keine Ruhe mehr; sie verhöhnten sie noch ärger als vorher und bewarfen sie mit Schmutz; sie jagten ihr nach, und sie floh dann vor ihnen mit ihrer schwachen Brust, ganz außer Atem, und die Kinder schreiend und schimpfend hinter ihr her. Einmal begann ich sogar, mich mit ihnen herumzuschlagen. Dann versuchte ich mit ihnen zu reden und redete zu ihnen jeden Tag, sooft ich nur dazu die Möglichkeit hatte. Manchmal blieben sie stehen und hörten zu, obwohl sie immer noch schimpften. Ich erzählte ihnen, wie unglücklich Marie sei; bald hörten sie denn auch auf zu schimpfen und gingen schweigend fort. Allmählich kam es dazu, daß wir miteinander Gespräche führten; ich verheimlichte ihnen nichts, sondern erzählte ihnen alles. Sie hörten sehr neugierig zu und begannen bald, Marie zu bemitleiden. Einzelne fingen an, wenn sie ihr begegneten, sie freundlich zu grüßen; es ist dort Sitte, wenn man einander begegnet, ob man sich nun kennt oder nicht, sich zu grüßen und guten Tag zu sagen. Ich kann mir vorstellen, wie erstaunt Marie darüber war. Eines Tages verschafften sich zwei kleine Mädchen etwas Essen, trugen es ihr hin, gaben es ihr und kamen dann zu mir, um es mir zu sagen. Sie erzählten mir, Marie habe geweint, und sie hätten sie jetzt sehr lieb. Bald fingen alle an, sie liebzuhaben, und gleichzeitig auf einmal auch mich. Sie kamen nun oft zu mir und baten immer, ich möchte ihnen etwas erzählen; ich muß wohl gut erzählt haben, weil sie mir sehr gern zuhörten. In der Folgezeit lernte und las ich immer nur in der Absicht, es ihnen nachher zu erzählen, und so habe ich ihnen in den ganzen nächsten drei Jahren immer etwas erzählt. Als mir dann alle, auch Schneider, Vorwürfe darüber machten, daß ich mit den Kindern wie mit Erwachsenen spräche und ihnen nichts verheimlichte, antwortete ich ihnen, man müsse sich schämen, den Kindern etwas vorzulügen; sie erführen ja doch alles, wie sehr man es ihnen auch zu verbergen suche, und erführen es vielleicht auf eine häßliche Weise; wenn sie es aber von mir hörten, so sei das nicht der Fall. Ein jeder brauche sich nur an seine eigene Kindheit zu erinnern. Aber sie stimmten mir nicht bei ... Daß ich Marie geküßt hatte, war zwei Wochen vor dem Tod ihrer Mutter gewesen, und als der Pastor jene Leichenrede hielt, waren schon alle Kinder auf meiner Seite. Ich erzählte ihnen sofort wieder, wie sich der Pastor benommen hatte, und sagte ihnen, wie ich darüber urteilte; alle waren sie über ihn empört, einige so sehr, daß sie ihm die Fenster einwarfen. Dies verbot ich ihnen, weil das nicht mehr recht war; aber im Dorf hatten alle sofort alles erfahren und beschuldigten mich nun, ich verdürbe die Kinder. Dann erfuhren alle auch, daß die Kinder Marie lieb hatten, und bekamen darüber einen gewaltigen Schreck; Marie jedoch fühlte sich schon ganz glücklich. Man verbot den Kindern, mit ihr zusammenzukommen; aber sie liefen heimlich zu ihr, nach dem ziemlich weit (fast eine halbe Werst) vom Dorf entfernten Weideplatz der Herde; sie brachten ihr dies und das zum Essen mit, manche aber liefen auch einfach hin, um sie zu umarmen, zu küssen und ihr zu sagen: ›Je vous aime, Marie!‹, und dann Hals über Kopf wieder zurückzurennen. Marie verlor infolge dieses unerwarteten Glücks fast ihren Verstand; so etwas hätte sie sich nie träumen lassen; sie schämte sich und freute sich zugleich. Besondere Freude machte es den zu ihr hinlaufenden Kindern und namentlich den kleinen Mädchen, ihr mitzuteilen, daß ich sie, Marie, liebte und sehr viel mit ihnen von ihr spräche. Sie berichteten ihr, daß ich ihnen alles erzählt hätte und daß sie sie jetzt sehr lieb hätten und bemitleideten und ihr immer treu bleiben würden. Dann kamen sie zu mir gelaufen und erzählten mir mit Gesichtchen, die von freudigem Eifer strahlten, sie hätten soeben mit Marie gesprochen, und sie lasse mich grüßen. Abends ging ich oft nach dem Wasserfall; dort befand sich ein nach dem Dorf zu ganz verdeckter Platz, um den herum Pappeln standen; da versammelten sich die Kinder abends um mich; manche liefen sogar heimlich aus dem Dorf weg. Ich glaube, ihr ganz besonderes Entzücken war meine Liebe zu Marie, und dies war während meines ganzen dortigen Aufenthalts der einzige Punkt, in dem ich sie täuschte. Ich ließ ihnen ihren Glauben, daß ich Marie liebte, das heißt, in sie verliebt sei, und sagte ihnen nicht, daß ich sie in Wirklichkeit nur sehr bemitleidete; ich sah an allem, daß es ihnen besser so gefiel, wie sie sich das selbst ausgedacht und unter sich zurechtgelegt hatten, und darum schwieg ich und tat, als hätten sie es erraten. Und wie feinfühlig und zärtlich waren diese kleinen Herzen: unter anderm meinten sie, das dürfe doch nicht sein, daß ihr guter Léon Marie so liebe und diese Marie so schlecht gekleidet sei und keine Schuhe habe. Denken Sie sich, sie beschafften ihr Schuhe und Strümpfe und Wäsche und sogar einige Kleidungsstücke; auf welche kluge Weise sie das zustande brachten, ist mir unbegreiflich; der ganze Schwarm wirkte dabei zusammen. Wenn ich sie darüber befragte, lachten sie nur lustig, und die kleinen Mädchen klatschten in die Hände und küßten mich. Manchmal ging auch ich heimlich zu Marie hin. Sie war schon sehr krank und konnte kaum noch gehen; schließlich war es ihr gar nicht mehr möglich, dem Hirten irgendwelche Dienste zu leisten; aber sie zog doch jeden Morgen mit der Herde aus. Sie setzte sich abseits hin; es war da an einem abschüssigen, beinah senkrechten Felsen ein Vorsprung; dort setzte sie sich im innersten Winkel, wo niemand sie sehen konnte, auf einen Stein und saß da fast regungslos den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zu der Stunde, wo die Herde heimging. Sie war infolge der Schwindsucht schon so schwach, daß sie meist mit geschlossenen Augen, den Kopf gegen den Felsen gelehnt, dasaß und, mühsam atmend, halb schlummerte; ihr Gesicht war so mager geworden wie bei einem Skelett, und an Stirn und Schläfen trat ihr der Schweiß heraus. In diesem Zustand fand ich sie immer vor. Ich kam stets nur auf einen Augenblick und wünschte auch nicht, von den Leuten gesehen zu werden. Sobald ich mich zeigte, fuhr Marie sofort zusammen, öffnete die Augen und stürzte auf mich zu, um mir die Hände zu küssen. Ich entzog sie ihr nicht mehr, weil ihr dies eine Wonne war; die ganze Zeit über, während ich bei ihr saß, zitterte und weinte sie; einige Male versuchte sie allerdings auch zu reden; aber es war schwer, sie zu verstehen. Vor Aufregung und Entzücken war sie wie von Sinnen. Mitunter kamen auch die Kinder mit mir; sie stellten sich dann gewöhnlich in der Nähe auf und bewachten uns vor irgend etwas und vor irgend jemand; das war für sie ein ganz besonderes Vergnügen. Wenn wir fortgingen, blieb Marie wieder allein, regungslos wie vorher, mit geschlossenen Augen, den Kopf an den Felsen gelehnt; vielleicht träumte sie von irgend etwas. Eines Tages war sie am Morgen nicht mehr imstande, zu der Herde hinauszugehen, und blieb in ihrem öden Haus. Die Kinder erfuhren es sogleich und kamen an diesem Tag fast alle zu ihr gelaufen, um sie zu besuchen; sie lag mutterseelenallein auf ihrem Bett. Zwei Tage lang waren es nur die Kinder, die sie pflegten, indem sie abwechselnd hinkamen; aber als dann im Dorf bekannt wurde, daß Marie wirklich schon im Sterben liege, stellten sich auch die alten Frauen aus dem Dorf bei ihr ein, saßen an ihrem Lager und versorgten sie. Es schien, daß man im Dorf mit Marie Mitleid zu fühlen begann; wenigstens hielt man die Kinder nicht mehr zurück und schalt sie nicht mehr wie früher. Marie lag die ganze Zeit im Halbschlummer, der aber infolge des furchtbaren Hustens sehr unruhig war. Die Kinder wurden von den alten Frauen fortgejagt, kamen aber doch ans Fenster gelaufen, manchmal nur auf einen Augenblick, nur um zu sagen: ›Bonjour, notre bonne Marie!‹ Sowie diese sie aber sah oder hörte, kehrte ihr die Lebenskraft zurück, und sie versuchte mit Anstrengung, ohne auf die alten Frauen zu hören, sich aufzurichten und auf den Ellbogen zu stützen, nickte den Kindern zu und dankte ihnen. Sie brachten ihr wie früher mitunter ein paar gute Bissen mit; aber sie aß fast gar nichts mehr. Ich versichere Ihnen, dank den Kindern ist sie beinah glücklich gestorben. Die Kinder machten, daß sie ihr schweres Leid vergaß; sie hatte das Gefühl, daß sie von ihnen Vergebung empfangen habe; denn sie hielt sich bis zu ihrem Lebensende für eine große Sünderin. Die Kinder schlugen gleichsam wie kleine Vögel mit den Flügelchen an das Fenster der Kranken und riefen ihr jeden Morgen zu: ›Nous t'aimons, Marie.‹ Sie starb sehr bald. Ich hatte geglaubt, sie würde weit länger leben. Am Tag vor ihrem Tod kam ich vor Sonnenuntergang zu ihr; sie schien mich zu erkennen, und ich drückte ihr zum letzten Mal die Hand; ach, wie ausgetrocknet war diese Hand! Und am folgenden Morgen kam unerwartet jemand zu mir und sagte mir, daß Marie gestorben sei. Nun ließen sich die Kinder nicht zurückhalten: sie schmückten ihren Sarg reich mit Blumen und setzten ihr einen Kranz auf den Kopf. Der Pastor schmähte in der Kirche die Tote nicht mehr; die wenigen Menschen, die sich zur Beerdigung eingefunden hatten, waren nur aus Neugier gekommen; aber als der Sarg weggetragen werden sollte, da stürzten die Kinder alle mit einemmal herbei, um ihn selbst zu tragen. Da dazu ihre Kraft nicht ausreichte, so halfen einige von ihnen wenigstens nach Möglichkeit, und die übrigen liefen hinter dem Sarg her, und alle weinten. Maries Grab ist seitdem von den Kindern beständig schön in Ordnung gehalten worden: sie schmücken es jedes Jahr mit Blumen und haben ringsherum Rosensträucher gepflanzt. Aber von dieser Beerdigung an begann mich das ganze Dorf um der Kinder willen zu befehden. Die Hauptanstifter waren der Pastor und der Schullehrer. Den Kindern wurde jeder Verkehr mit mir streng verboten, und Schneider verpflichtete sich sogar, darüber zu wachen. Wir kamen aber doch zusammen und verständigten uns von weitem durch Zeichen; auch schickten sie mir kleine Briefchen. In der folgenden Zeit schob sich das alles wieder zurecht; aber damals fühlten wir uns ganz wohl dabei, und ich war den Kindern durch diese Verfolgung sogar noch nähergerückt. Im letzten Jahr versöhnte ich mich sogar beinah mit Thibaut und dem Pastor. Schneider aber disputierte mit mir viel über meine verderbliche ›Methode‹, mit den Kindern umzugehen. Aber von einer wirklichen ›Methode‹ war bei mir ja gar nicht die Rede! Zuletzt (es war schon kurz vor meiner Abreise) sprach Schneider mir gegenüber einen recht seltsamen Gedanken aus: er sagte zu mir, er habe jetzt die sichere Überzeugung gewonnen, daß ich selbst ein vollständiges Kind sei; ich hätte nur an Wuchs und Gesicht Ähnlichkeit mit einem Erwachsenen; aber was die Entwicklung der Seele, des Charakters und vielleicht auch des Verstandes anlange, sei ich kein Erwachsener, und ich würde so bleiben, auch wenn ich sechzig Jahre alt würde. Ich lachte darüber herzlich; er hat natürlich unrecht; denn ich bin ja doch kein kleines Kind! Eines ist allerdings daran wahr, nur eines: ich bin wirklich nicht gern mit Erwachsenen, mit Großen zusammen (ich habe das schon längst an mir beobachtet); ich bin nicht gern mit ihnen zusammen, weil ich sie nicht verstehe. Was sie auch mit mir sprechen und wie gut sie auch gegen mich sein mögen, ich fühle mich doch stets in ihrer Gesellschaft bedrückt und bin heilfroh, wenn ich so bald wie möglich zu meinen Kameraden gehen kann, und meine Kameraden waren immer die Kinder, aber nicht, weil ich selbst ein Kind war, sondern weil es mich einfach zu den Kindern hinzog. Wenn ich, noch am Anfang meines Aufenthalts in dem Dorf, allein in die Berge gegangen war, um meinem Kummer nachzuhängen, und wenn ich dann, namentlich mittags, wo sie aus der Schule kamen, diesem lärmenden Schwarm begegnete, der mit seinen Bücherranzen und Schiefertafeln schreiend, lachend und spielend einherrannte, dann strebte auf einmal meine ganze Seele zu diesen Kindern hin. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich empfand bei jeder Begegnung mit ihnen ein außerordentlich starkes Gefühl von Glückseligkeit. Ich blieb stehen und lachte vor Freude, wenn ich sah, wie ihre kleinen, flinken Beinchen in beständiger Bewegung waren, wie die kleinen Jungen und Mädchen miteinander dahinrannten, wie sie lachten und weinten (denn viele hatten auf dem Weg von der Schule nach Haus schon Zeit gefunden, sich zu prügeln, zu heulen, sich wieder zu versöhnen und weiterzuspielen), und ich vergaß dann meinen ganzen Kummer. Später, während dieser ganzen drei Jahre, konnte ich gar nicht begreifen, weshalb die Menschen sich überhaupt grämen. Mein ganzes Dasein drehte sich um die Kinder. Ich nahm gar nicht in Aussicht, das Dorf jemals wieder zu verlassen, und es kam mir nicht in den Sinn, daß ich einmal wieder hierher nach Rußland fahren würde. Ich meinte, ich würde immer dort bleiben; aber ich sah schließlich ein, daß Schneider doch nicht länger die Kosten meines Unterhalts tragen konnte. Und dann kam eine so wichtige Angelegenheit hinzu, daß Schneider selbst mich zum Reisen drängte und mir das Fahrgeld zur Reise hierher gab. Ich will nun sehen, was eigentlich vorliegt, und jemanden um Rat fragen. Vielleicht wird sich mein äußeres Schicksal vollständig ändern; aber das ist nicht so wichtig und nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, daß sich bereits mein ganzes Leben geändert hat. Ich habe dort viel verlassen, sehr viel. Alles ist entschwunden. Ich saß im Waggon und dachte: ›Jetzt gehe ich nun zu den Menschen; ich verstehe vielleicht noch nichts davon, aber es hat ein neues Leben für mich begonnen.‹ Ich nahm mir vor, meine Aufgabe redlich und standhaft zu erfüllen. Ich werde mich im Verkehr mit den Menschen vielleicht unbehaglich und bedrückt fühlen. Ich habe mir vorgenommen, von vornherein gegen alle höflich und offen zu sein; mehr wird ja doch niemand von mir verlangen. Vielleicht werden mich die Leute auch hier für ein Kind halten; nun, meinetwegen! Es halten mich auch alle, ich weiß nicht warum, für einen Idioten, und ich war tatsächlich einmal so krank, daß ich damals mit einem Idioten Ähnlichkeit hatte; aber wie kann ich jetzt ein Idiot sein, da ich doch selbst begreife, daß man mich für einen Idioten hält? Wenn ich so in ein Zimmer trete, so denke ich: ›Da halten mich nun die Leute für einen Idioten, und ich bin doch verständig, aber sie merken das nicht einmal ...‹ Dieser Gedanke kommt mir oft. Als ich in Berlin aus meinem Dörfchen ein paar kleine Briefe erhielt, die die Kinder sich beeilt hatten sogleich an mich zu schreiben, da empfand ich erst so ganz, wie lieb ich sie hatte. Es ist ein sehr schmerzliches Gefühl, wenn man den ersten Brief bekommt! Wie betrübt sie waren, als sie mir bei meiner Abreise das Geleit gaben! Schon einen Monat vorher sagten sie häufig: ›Léon s'en va, Léon s'en va pour toujours!‹ Wir kamen wie früher jeden Abend bei dem Wasserfall zusammen und sprachen immer von unserer bevorstehenden Trennung. Mitunter ging es ebenso heiter zu wie vorher; aber wenn sie dann von mir Abschied nahmen, um schlafen zu gehen, umarmten sie mich fest und herzlich, was sie früher nicht getan hatten. Manche kamen heimlich, ohne daß die andern es merkten, einzeln zu mir gelaufen, nur um mich ganz allein, nicht vor aller Augen, zu umarmen und zu küssen. Als es so weit war, daß ich mich auf den Weg machen mußte, begleitete mich der ganze Schwarm nach der Eisenbahnstation, die von unserem Dorf ungefähr eine Werst entfernt war. Sie nahmen sich zusammen, um nicht zu weinen; aber viele konnten sich doch nicht beherrschen und weinten laut, namentlich die Mädchen. Wir beeilten uns, um nicht zu spät zu kommen; aber unterwegs kam doch bald dieser, bald jener aus dem Haufen zu mir hingestürzt, umschlang mich mit seinen kleinen Ärmchen und küßte mich, obgleich er dadurch den ganzen Trupp aufhielt; aber wiewohl wir es eilig hatten, blieben doch alle stehen und warteten, bis er in dieser Weise Abschied genommen hatte. Als ich in den Waggon gestiegen war und sich der Zug in Bewegung setzte, schrien sie alle ›Hurra!‹ und standen noch lange da, bis der Zug ganz abgefahren war. Und auch ich blickte nach ihnen zurück ... Wissen Sie, als ich vorhin hier eintrat und Ihre lieben Gesichter sah (ich achte jetzt sehr auf die Gesichter) und Ihre ersten Worte hörte, da wurde mir zum ersten Mal seit jener Zeit leicht ums Herz. Ich sagte mir vorhin schon, daß ich vielleicht geradezu ein Glückskind bin; ich weiß ja, daß man nicht erwarten kann, so bald solche Menschen zu treffen, die man sofort liebgewinnt, und nun habe ich Sie, kaum daß ich von der Bahn gekommen bin, sogleich getroffen. Ich weiß sehr wohl, daß sich alle Leute schämen, von ihren Gefühlen zu reden; aber Ihnen gegenüber, sehen Sie, rede ich von meinen Gefühlen und schäme mich nicht vor Ihnen. Ich bin menschenscheu und werde vielleicht lange nicht wieder zu Ihnen kommen. Mißdeuten Sie meine Worte nicht: ich sage das nicht etwa, weil mir der Verkehr mit Ihnen nicht von hohem Wert wäre; glauben Sie auch nicht, daß ich mich durch irgend etwas gekränkt fühlte! Sie fragten mich vorhin nach Ihren Gesichtern und was ich darin bemerkt hätte; ich will es Ihnen mit dem größten Vergnügen sagen. Sie, Adelaida Iwanowna, haben ein glückliches Gesicht, das sympathischste von allen dreien. Ganz abgesehen davon, daß Sie sehr schön sind, sagt man sich bei Ihrem Anblick: ›Sie hat ein Gesicht wie eine gute Schwester.‹ Sie treten einfach und heiter an jemand heran, verstehen es aber auch, das Herz desselben schnell zu erkennen. So denke ich über Ihr Gesicht. Auch Sie, Alexandra Iwanowna, haben ein schönes und sehr liebes Gesicht; aber vielleicht haben Sie einen geheimen Kummer; Ihr Herz ist ohne Zweifel sehr gut, aber Sie sind nicht heiter. Sie haben einen besonderen Zug im Gesicht, ungefähr wie die Holbeinsche Madonna in Dresden. Da haben Sie meine Meinung auch über Ihr Gesicht. Kann ich gut raten? Sie nehmen ja selbst an, daß ich diese Fähigkeit besitze. Was aber Ihr Gesicht anlangt, Lisaweta Prokofjewna«, wandte er sich plötzlich zur Generalin, »so habe ich auf Grund desselben nicht nur die Vermutung, sondern die völlige Überzeugung, daß Sie ein vollständiges Kind sind, in all und jeder Hinsicht, in allem Guten und in allem Schlechten, obwohl Sie bereits in einem solchen Lebensalter stehen. Sie sind doch nicht böse, weil ich das alles so offen ausspreche? Sie wissen ja, wofür ich die Kinder halte. Und glauben Sie nicht, daß ich Ihnen das alles über Ihre Gesichter soeben lediglich aus Naivität so frei heraus gesagt habe; oh nein, durchaus nicht! Vielleicht hatte auch ich meine besondere Absicht dabei.«
Als der Fürst nun schwieg, blickten alle, selbst Aglaja, namentlich aber Lisaweta Prokofjewna, ihn vergnügt an. »Da habt ihr ihn ja nett examiniert!« rief sie. »Ja, meine verehrten Damen, ihr dachtet, ihr würdet ihn wie einen armen Schlucker protegieren, und nun hat er selbst euch nur zur Not für eine seiner würdige Gesellschaft erklärt und noch dazu gleich vorher angekündigt, daß er nur selten herkommen werde. Seht ihr wohl, da sind wir nun, worüber ich mich freue, die Blamierten, und am allermeisten Iwan Fjodorowitsch. Bravo, Fürst! Wir hatten vorhin die Weisung erhalten, wir sollten Sie examinieren. Was Sie aber von meinem Gesicht sagten, das ist durchaus richtig: ich bin ein Kind und weiß das. Ich habe es schon früher gewußt als Sie, und Sie haben nur meine eigene Ansicht in knapper Form zum Ausdruck gebracht. Ich meine, daß Ihr Charakter mit dem meinigen völlig übereinstimmt, und freue mich sehr darüber; die beiden sind sich ähnlich wie ein Ei dem andern. Nur sind Sie ein Mann und ich eine Frau, auch bin ich nicht in der Schweiz gewesen; das ist der ganze Unterschied.«
»Sachte, sachte, Mama!« rief Aglaja. »Der Fürst sagt ja, daß er bei all seinen freimütigen Auseinandersetzungen eine besondere Absicht hatte und nicht ohne Hintergedanken gesprochen hat.«
»Ja, ja!« stimmten ihr die andern lachend bei.
»Zieht ihn nicht auf, liebe Kinder; es wird vielleicht noch so herauskommen, daß er schlauer ist als ihr alle drei zusammen. Ihr werdet ja sehen. Aber warum haben Sie nichts von Aglaja gesagt, Fürst? Aglaja wartet darauf, und ich ebenfalls.«
»Ich kann im Augenblick nichts über sie sagen. Ich werde es später tun.«
»Warum denn? Sie scheint doch eine eigenartige Persönlichkeit zu sein.«
»Oh ja, das ist sie. Sie sind eine hervorragende Schönheit, Aglaja Iwanowna. Sie sind so schön, daß man sich ordentlich fürchtet, Sie anzusehen.«
»Ist das alles? Und ihre Eigenschaften?« setzte ihm die Generalin hartnäckig zu.
»Über die Schönheit ist schwer zu urteilen; ich bin noch nicht so weit, daß ich meine Ansicht aussprechen könnte. Die Schönheit ist ein Rätsel.«
»Damit haben Sie Aglaja ein Rätsel aufgegeben«, sagte Adelaida. »Nun rate einmal, Aglaja! Aber schön ist sie, Fürst; nicht wahr?«
»Außerordentlich schön!« antwortete der Fürst lebhaft und blickte Aglaja ganz entzückt an. »Fast so schön wie Nastasja Filippowna, obwohl das Gesicht von ganz anderer Art ist ...!«
Alle sahen einander erstaunt an.
»Wie we-er?« fragte die Generalin gedehnt. »Wie Nastasja Filippowna? Wo haben Sie Nastasja Filippowna gesehen? Was für eine Nastasja Filippowna?«
»Gawrila Ardalionowitsch hat vorhin ihr Bild Iwan Fjodorowitsch gezeigt.«
»Wie? Er hat meinem Mann ihr Porträt gebracht?«
»Nur um es ihm zu zeigen. Nastasja Filippowna hatte ihm heute ihr Bild geschenkt, und da brachte er es her, um es zu zeigen.«
»Ich will es sehen!« rief die Generalin heftig. »Wo ist dieses Bild? Wenn sie es ihm geschenkt hat, so muß er es haben, und er ist gewiß noch im Arbeitszimmer. Er kommt mittwochs immer her, um hier zu arbeiten, und geht nie vor vier Uhr weg. Laßt Gawrila Ardalionowitsch sogleich herrufen! Oder nein! Ich sehne mich nicht übermäßig danach, ihn zu sehen. Tun Sie mir den Gefallen, bester Fürst, gehen Sie in das Arbeitszimmer, lassen Sie sich von ihm das Bild geben und bringen Sie es her! Sagen Sie, ich wolle es gern einmal sehen! Seien Sie so freundlich!«
»Er ist ein guter Mensch, aber doch gar zu einfältig«, sagte Adelaida, als der Fürst hinausgegangen war.
»Ja, gar zu einfältig«, stimmte Alexandra ihr bei, »so daß er sogar ein bißchen komisch erscheint.«
Die eine wie die andere schien das, was sie dachte, nicht vollständig auszusprechen.
»Mit unseren Gesichtern hat er sich übrigens gut aus der Affäre gezogen«, bemerkte Aglaja. »Er hat uns allen geschmeichelt, sogar unserer Mama.«
»Bitte, keine Spötteleien!« rief die Generalin. »Er hat nicht geschmeichelt, sondern ich fühle mich geschmeichelt.«
»Meinst du, daß er sich nur aus der Affäre ziehen wollte?« fragte Adelaida.
»Mir scheint, er ist gar nicht so einfältig«, versetzte Aglaja.
»Was redet ihr da!« ereiferte sich die Generalin. »Meiner Ansicht nach seid ihr noch komischer als er. Er ist ein schlichter Mensch und hat seinen Kopf für sich, selbstverständlich im besten Sinne. Ganz wie ich.«
»Es war gewiß eine Dummheit, daß ich mir das von dem Bild entschlüpfen ließ«, sagte sich der Fürst, während er nach dem Arbeitszimmer ging, und fühlte dabei einige Gewissensbisse. »Aber ... vielleicht habe ich gut daran getan, daß ich davon anfing ...«
Es ging ihm ein sonderbarer, noch nicht ganz klarer Gedanke durch den Kopf.
Gawrila Ardalionowitsch saß noch im Arbeitszimmer und war in seine Papiere vertieft. Er schien in der Tat sein Gehalt von der Aktiengesellschaft nicht ohne Gegenleistung zu beziehen. Er wurde furchtbar verlegen, als der Fürst nach dem Bild fragte und erzählte, auf welche Weise die Damen von diesem Bild etwas erfahren hatten. »Donnerwetter! Wozu brauchten Sie davon zu schwatzen?« rief er in grimmigem Ärger. »Sie verstehen ja nichts davon ... So ein Idiot!« murmelte er vor sich hin. »Verzeihung, ich habe es gesagt, ohne mir etwas dabei zu denken. Das Gespräch kam zufällig darauf. Ich sagte, Aglaja sei fast ebenso schön wie Nastasja Filippowna.«
Ganja bat ihn, ihm über das Gespräch Genaueres mitzuteilen, und der Fürst erzählte. Ganja sah ihn wieder spöttisch an.
»Ich möchte wissen, was Sie sich um Nastasja Filippowna ...«, murmelte er, versank aber, ohne den Satz zu beenden, in Gedanken.
Er war in sichtlicher Unruhe. Der Fürst erinnerte ihn an das Bild.
»Hören Sie, Fürst«, sagte Ganja auf einmal, wie wenn ein plötzlicher Gedanke in seinem Kopf aufleuchtete, »ich habe eine große Bitte an Sie ... Aber ich weiß wirklich nicht ...«
Er wurde verwirrt und sprach den begonnenen Satz nicht zu Ende. Es schien, als ob er einen Entschluß fassen wolle, aber mit sich selbst kämpfe. Der Fürst wartete schweigend. Ganja sah ihn noch einmal mit einem forschenden, durchdringenden Blick an.
»Fürst«, begann er von neuem, »man ist dort auf mich augenblicklich ... infolge eines ganz sonderbaren Umstandes ... an dem ich keine Schuld trage ... nun, kurz, das gehört nicht hierher ... man ist dort auf mich, wie es scheint, ein wenig böse, so daß ich für einige Zeit nicht ohne besondere Aufforderung hingehen möchte. Ich muß jetzt aber ganz notwendig mit Aglaja Iwanowna sprechen. Ich habe hier für jeden Fall ein paar Worte an sie geschrieben« (er hatte auf einmal einen kleinen, zusammengefalteten Zettel in der Hand) »und weiß nun nicht, wie ich sie ihr zugehen lassen soll. Möchten Sie es nicht übernehmen, Fürst, dieses Blättchen an Aglaja Iwanowna abzugeben, jetzt gleich, aber nur an Aglaja Iwanowna allein, das heißt so, daß es niemand sieht, verstehen Sie? Es handelt sich nicht um irgendwelche arge Heimlichkeit, es ist nichts Derartiges ... aber ... wollen Sie es tun?«
»Die Sache ist mir nicht sehr angenehm«, antwortete der Fürst.
»Ach, Fürst, ich bin in der äußersten Notlage!« bat Ganja. »Sie wird vielleicht antworten ... Seien Sie versichert, daß nur die dringende Notwendigkeit, die allerdringendste Notwendigkeit mich veranlaßt, mich an Sie zu wenden ...! Durch wen sollte ich es sonst hinschicken ...? Die Sache ist sehr wichtig ... außerordentlich wichtig für mich ...«
Ganja war in größter Angst, der Fürst könnte es ihm abschlagen, und blickte ihm, furchtsam bittend, in die Augen.
»Nun, meinetwegen, ich werde es übergeben.«
»Aber ja nur so, daß es niemand bemerkt!« bat der erfreute Ganja. »Und noch eins, Fürst: ich kann mich doch wohl auf Ihr Ehrenwort verlassen, nicht wahr?«
»Ich werde es niemandem zeigen«, erwiderte der Fürst.
»Das Billett ist nicht versiegelt, aber ...« Ganja merkte, daß er in seiner übergroßen Sorge zuviel sagte, und hielt verlegen inne.
»Oh, ich werde es nicht lesen«, versetzte der Fürst ganz schlicht, nahm das Bild und verließ das Arbeitszimmer.
Als Ganja allein geblieben war, griff er sich an den Kopf.
»Ein Wort von ihr, und ich ... und ich breche vielleicht wirklich diese Beziehungen ab ...!«
Vor Aufregung und gespannter Erwartung war er nicht imstande, sich wieder an seine Papiere zu setzen, sondern schritt im Arbeitszimmer von einer Ecke nach der andern.
Der Fürst ging sehr nachdenklich zurück; der Auftrag war ihm unangenehm; unangenehm war ihm auch der Gedanke, daß Ganja mit Aglaja in Korrespondenz stand. Aber als er noch zwei Zimmer zu passieren hatte, um wieder in den Salon zu gelangen, blieb er plötzlich stehen, als ob ihm etwas einfiele, blickte ringsum, trat ans Fenster, recht nahe an das Licht, und begann Nastasja Filippownas Bild zu betrachten.
Er hätte gern etwas enträtselt, was in diesem Gesicht verborgen lag und ihn vorhin frappiert hatte. Der Eindruck von vordem war ihm haftengeblieben, und er beeilte sich jetzt, ihn von neuem nachzuprüfen. Dieses durch seine Schönheit und noch durch sonst etwas auffallende Gesicht übte jetzt auf ihn eine noch stärkere Wirkung aus. Ein grenzenloser Stolz, eine grenzenlose Verachtung, die fast wie Haß aussah, lagen in diesem Gesicht und zu gleicher Zeit etwas Zutrauliches, erstaunlich Offenherziges; dieser Kontrast erweckte bei dem, der diese Züge betrachtete, sogar ein gewisses Mitleid. Diese blendende Schönheit war geradezu unerträglich, die Schönheit des blassen Gesichts, der beinah eingefallenen Wangen und der glühenden Augen; eine seltsame Schönheit! Der Fürst betrachtete das Bild wohl eine Minute lang; dann zuckte er auf einmal zusammen, blickte rings um sich, führte das Bild eilig an seine Lippen und küßte es. Als er eine Minute darauf in den Salon trat, war sein Gesicht wieder vollkommen ruhig.
Aber als er in das Eßzimmer gelangte, das noch durch ein Zimmer vom Salon getrennt war, stieß er in der Tür beinah mit der herauskommenden Aglaja zusammen. Sie war allein.
»Gawrila Ardalionowitsch hat mich gebeten, Ihnen dies hier zu übergeben«, sagte der Fürst, indem er ihr das Billett hinreichte. Aglaja blieb stehen, nahm das Billett und blickte den Fürsten seltsam an. In ihrem Blick lag nicht die geringste Verlegenheit, nur ein gewisses Erstaunen mochte daraus hervorschimmern, und auch dieses Erstaunen schien sich nur auf den Fürsten zu beziehen. Aglaja forderte durch ihren Blick von ihm gleichsam Rechenschaft darüber, wie es zuginge, daß er in dieser Angelegenheit mit Ganja im Bunde sei; und sie benahm sich dabei mit aller Ruhe und von oben herab. Zwei oder drei Sekunden lang standen sie einander gegenüber; endlich zeigte sich auf ihrem Gesicht eine schwache Nuance von Spott; sie lächelte leise und ging vorüber.
Die Generalin betrachtete eine Zeitlang schweigend und mit einem leisen Ausdruck von Geringschätzung Nastasja Filippownas Bild, das sie mit ausgestrecktem Arm sehr weit von den Augen hielt.
»Ja, schön ist sie«, sagte sie endlich, »sogar sehr schön. Ich habe sie zweimal gesehen, aber nur von weitem. Also eine solche Schönheit bewundern Sie?« wandte sie sich plötzlich an den Fürsten.
»Eine solche ... ja ...«, antwortete der Fürst mit einiger Überwindung.
»Gerade eine solche?«
»Ja.«
»Warum denn?«
»In diesem Gesicht ... liegt so viel Leid ...«, sagte der Fürst; es schien, als kämen diese Worte unwillkürlich aus seinem Mund, und als antwortete er nicht auf die Frage, sondern spräche für sich.
»Das ist übrigens vielleicht nur eine Phantasie von Ihnen«, bemerkte die Generalin kurz und warf mit einer hochmütigen Gebärde das Bild von sich weg auf den Tisch.
Alexandra nahm es in die Höhe, Adelaida trat zu ihr, und beide begannen es zu betrachten.
In diesem Augenblick kehrte Aglaja wieder in den Salon zurück.
»Das ist eine gewaltige Macht!« rief auf einmal Adelaida, die über die Schulter ihrer Schwester hinweg das Bild mit größtem Interesse ansah.
»Wieso? Inwiefern eine Macht?« fragte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton.
»Eine solche Schönheit ist eine Macht«, erwiderte Adelaida enthusiastisch. »Mit einer solchen Schönheit kann man die Welt umdrehen!«
In ihre Gedanken versunken ging sie zu ihrer Staffelei. Aglaja sah das Bild nur flüchtig an, kniff die Augen zusammen, schob die Unterlippe vor, ging zur Seite und setzte sich da mit zusammengelegten Händen hin.
Die Generalin klingelte.
»Rufe Gawrila Ardalionowitsch her; er ist im Arbeitszimmer«, befahl sie dem eintretenden Diener.
»Aber Mama!« rief Alexandra mit bedeutsamer Betonung.
»Ich will ihm nur wenige Worte sagen, und damit basta!« erklärte die Generalin schnell in bestimmtem, scharfem Ton, der jede Widerrede abschnitt.
Sie befand sich offenbar in gereizter Stimmung.
»Sehen Sie, Fürst, bei uns hier gibt es jetzt lauter Geheimnisse, lauter Geheimnisse! Die Etikette verlangt das, obwohl es eine Dummheit ist. Und noch dazu bei einer Sache, bei der die größte Offenheit, Klarheit und Ehrlichkeit erforderlich ist. Es sind Eheschließungen im Werke; aber diese Ehen wollen mir gar nicht gefallen ...«
»Mama, was reden Sie da?« unterbrach Alexandra sie wieder eilig, um sie von weiteren Äußerungen zurückzuhalten.
»Was willst du, liebe Tochter? Gefallen sie denn dir selbst? Daß der Fürst dabei zuhört, tut nichts; wir sind ja Freunde. Ich und er wenigstens. Es heißt: ›Gott sucht sich Menschen‹, aber natürlich gute Menschen; schlechte und launische kann er nicht gebrauchen, die sich heute so entscheiden und morgen wieder anders reden. Verstehen Sie wohl, Alexandra Iwanowna? Meine Töchter sagen, Fürst, ich sei wunderlich; aber ich habe ein klares, gesundes Urteil. Denn das Herz ist die Hauptsache, und alles übrige ist dummes Zeug. Verstand ist freilich auch nötig, gewiß ... vielleicht ist der Verstand sogar die allergrößte Hauptsache. Lache nicht, Aglaja; ich widerspreche mir nicht: ein Weib mit Herz ohne Verstand ist ebenso unglücklich wie ein Weib mit Verstand ohne Herz. Das ist eine alte Wahrheit. Ich bin ein Weib mit Herz ohne Verstand und du eines mit Verstand ohne Herz; wir sind beide unglücklich und müssen beide viel leiden.«
»Inwiefern sind Sie denn so unglücklich, Mama?« konnte Adelaida sich nicht enthalten zu fragen; sie war anscheinend von der ganzen Gesellschaft die einzige, die ihre heitere Stimmung nicht verloren hatte.
»Erstens weil ich so gelehrte Töchter habe«, trumpfte die Generalin sie auf. »Und da dies eine schon ganz hinreichend ist, so brauche ich das übrige nicht erst lange aufzuzählen. Aber nun genug des Geredes! Wir wollen einmal sehen, wie ihr beide (von Aglaja rede ich nicht) mit eurem Verstand und mit eurer Redekunst euch herauswickeln werdet, und ob Sie, verehrte Alexandra Iwanowna, mit Ihrem geschätzten Herrn Gemahl glücklich sein werden ... Ah!« rief sie, als sie den eintretenden Ganja erblickte, »da kommt noch so ein Ehekandidat. Guten Morgen!« erwiderte sie auf Ganjas Verbeugung, ohne ihn zum Sitzen aufzufordern. »Sie wollen eine Ehe eingehen?«
»Eine Ehe ...? Wieso ...? Was für eine Ehe ...?« murmelte Gawrila Ardalionowitsch ganz verblüfft.
Er war schrecklich verlegen.
»Sie wollen sich verheiraten? frage ich, wenn Ihnen dieser Ausdruck lieber ist.«
»N-nein ... ich ... n-nein«, log Gawrila Ardalionowitsch, und Schamröte ergoß sich über sein Gesicht.
Er warf eilig einen Blick auf die abseits sitzende Aglaja und ließ seine Augen schnell wieder weitergleiten. Aglaja sah ihn kalt, gerade und ruhig an, ohne die Augen von ihm abzuwenden, und beobachtete seine Verwirrung.
»Nein? Sie haben nein gesagt?« setzte die unerbittliche Lisaweta Prokofjewna das Verhör beharrlich fort. »Gut, ich werde es mir merken, daß Sie heute, Mittwoch vormittag, auf meine Frage mit nein geantwortet haben. Was haben wir heute für einen Tag – Mittwoch?«
»Ich glaube, Mittwoch, Mama«, antwortete Adelaida.
»Ihr wißt doch nie die Wochentage. Und was für ein Datum?«
»Den siebenundzwanzigsten«, antwortete Ganja.
»Den siebenundzwanzigsten? Das ist nützlich zu wissen wegen einer gewissen Berechnung. Adieu, Sie haben wohl viel zu tun, und für mich ist es Zeit, daß ich mich anziehe und ausfahre; nehmen Sie Ihr Bild wieder mit! Empfehlen Sie mich der unglücklichen Nina Alexandrowna ...! Auf Wiedersehen, mein lieber Fürst! Kommen Sie recht oft wieder her; ich will jetzt expreß zu der alten Bjelokonskaja fahren, um ihr von Ihnen zu erzählen. Und hören Sie, mein Lieber: ich glaube, daß Gott Sie speziell meinetwegen aus der Schweiz nach Petersburg geführt hat. Vielleicht haben Sie hier auch noch anderes zu tun; aber hauptsächlich sind Sie meinetwegen hergekommen. Gott hat es mit Absicht so geordnet ... Auf Wiedersehen, liebe Kinder! Liebe Alexandra, komm du mit mir!«
Die Generalin ging hinaus. Ganja, der ganz verstört, fassungslos und ergrimmt war, nahm das Bild vom Tisch und wandte sich mit einem schiefen Lächeln zum Fürsten: »Fürst, ich gehe jetzt gleich nach Hause. Wenn Sie Ihre Absicht, bei uns zu wohnen, nicht aufgegeben haben, so werde ich Sie hinführen; sonst kennen Sie ja nicht einmal Straße und Haus.«
»Warten Sie, Fürst«, sagte Aglaja, die sich plötzlich von ihrem Stuhl erhob; »Sie sollen mir noch etwas in mein Album schreiben. Papa hat gesagt, Sie seien ein Kalligraph. Ich werde es Ihnen gleich bringen.«
Sie verließ das Zimmer.
»Auf Wiedersehen, Fürst; ich gehe auch weg«, sagte Adelaida.
Sie drückte dem Fürsten fest die Hand, lächelte ihm freundlich und herzlich zu und ging hinaus. Den dabeistehenden Ganja sah sie gar nicht an.
»Das ist Ihr Werk!« rief zähneknirschend Ganja, der, sowie alle hinausgegangen waren, auf den Fürsten losstürzte. »Sie haben ihnen ausgeplaudert, daß ich heiraten will!« murmelte er hastig im Flüsterton, mit wütendem Gesicht und zornig funkelnden Augen. »Sie sind ein schamloser Schwätzer!«
»Ich versichere Ihnen, daß Sie sich irren«, antwortete der Fürst ruhig und höflich. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie heiraten wollen.«
»Sie haben vorhin gehört, wie Iwan Fjodorowitsch sagte, heute abend werde sich alles bei Nastasja Filippowna entscheiden, und das haben Sie weitergeredet! Sie lügen! Woher hätten die Damen es sonst wissen können? Wer, zum Teufel, konnte es ihnen mitteilen außer Ihnen? Hat mir die Alte etwa nicht zu verstehen gegeben, daß sie davon weiß?«
»Sie müssen am besten wissen, wer es den Damen mitgeteilt hat, wenn Sie der Ansicht sind, daß man Ihnen dergleichen zu verstehen gegeben hat; ich habe kein Wort davon gesagt.«
»Haben Sie mein Billett übergeben ...? Ist eine Antwort da?« unterbrach ihn Ganja, vor Ungeduld glühend.
Aber gerade in diesem Augenblick kam Aglaja zurück, und der Fürst hatte nicht mehr Zeit zu antworten.
»Hier, Fürst«, sagte Aglaja, indem sie ihr Album auf ein Tischchen legte. »Suchen Sie sich eine Seite aus und schreiben Sie mir etwas hinein! Hier ist eine Feder, noch dazu eine ganz neue. Es macht doch nichts aus, daß es eine Stahlfeder ist? Ich habe mir sagen lassen, die Kalligraphen schrieben nicht mit Stahlfedern.«
Während sie mit dem Fürsten sprach, schien sie gar nicht zu bemerken, daß Ganja ebenfalls da war. Aber während nun der Fürst die Feder in Ordnung brachte, eine Seite aussuchte und sich zum Schreiben bereit machte, trat Ganja zu dem Kamin heran, wo Aglaja unmittelbar rechts neben dem Fürsten stand, und sagte zu ihr mit zitternder, stockender Stimme aus nächster Nähe:
»Ein einziges Wort, nur ein einziges Wort von Ihnen – und ich bin gerettet.«
Der Fürst wandte sich rasch um und sah sie beide an. Auf Ganjas Gesicht lag der Ausdruck echter Verzweiflung; er schien diese Worte ohne jede Überlegung hervorgestoßen zu haben. Aglaja blickte ihn ein paar Sekunden lang mit ganz demselben ruhigen Erstaunen an wie eine Weile vorher den Fürsten, und es schien, daß dieses ruhige Erstaunen, diese Verwunderung, diese anscheinende völlige Verständnislosigkeit für das, was zu ihr gesagt war, in diesem Augenblick für Ganja schrecklicher war, als es die stärkste Verachtung hätte sein können.
»Was soll ich denn schreiben?« fragte der Fürst.
»Ich werde es Ihnen gleich diktieren«, erwiderte Aglaja, sich zu ihm wendend. »Sind Sie bereit? Nun, dann schreiben Sie: ›Ich lasse mich nicht auf Handelsgeschäfte ein.‹ Setzen Sie jetzt das Datum darunter! Zeigen Sie her!«
Der Fürst reichte ihr das Album hin.
»Vorzüglich! Sie haben es erstaunlich schön geschrieben; Ihre Handschrift ist eine ganz wundervolle! Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen, Fürst ... Warten Sie«, fügte sie hinzu, als ob ihr plötzlich etwas einfiele, »kommen Sie mit; ich will Ihnen etwas zum Andenken schenken.«
Der Fürst folgte ihr; als sie jedoch ins Eßzimmer kamen, blieb Aglaja stehen.
»Lesen Sie das da!« sagte sie, ihm Ganjas Billett reichend. Der Fürst nahm das Billett und blickte Aglaja erstaunt an.
»Ich weiß ja, daß Sie es nicht gelesen haben und nicht der Vertraute dieses Menschen sein können. Lesen Sie; es ist mein Wunsch, daß Sie es lesen.«
Das Billett war augenscheinlich in großer Eile geschrieben:
»Heute wird mein Schicksal entschieden werden; Sie wissen, in welcher Weise. Heute werde ich unwiderruflich mein Wort geben müssen. Ich habe keinerlei Anrecht auf Ihre Teilnahme und wage nicht, irgendwelche Hoffnungen zu hegen; aber Sie haben früher einmal ein Wort ausgesprochen, nur ein einziges Wort, und dieses Wort hat die ganze dunkle Nacht meines
Lebens erhellt und ist für mich ein Leuchtfeuer geworden. Sagen Sie jetzt noch ein solches Wort – und Sie werden mich damit vom Untergang erretten! Sagen Sie nur zu mir:
›Brich alle Beziehungen ab!‹,und ich tue es noch heute. Oh, was kostet es Sie, dieses eine Wort zu sagen! Ich erbitte dieses Wort nur als ein Zeichen Ihrer Teilnahme und Ihres Mitleids mit mir –nur in diesem Sinne! Weiter soll es nichts sein,nichts!
Ich wage nicht, irgendwelche Hoffnung zu hegen, weil ich solcher Hoffnung nicht würdig bin. Aber wenn Sie dieses Wort gesprochen haben werden, werde ich von neuem meine Armut auf mich nehmen und meine verzweifelte Lage mit Freuden ertragen. Ich werde in den Kampf eintreten; ich werde mich seiner freuen und in ihm neue Kraft gewinnen!
Senden Sie mir dieses Wort der Teilnahme (ich werde es nur als ein Wort der Teilnahme betrachten, das schwöre ich Ihnen!). Zürnen Sie nicht über die Kühnheit eines Verzweifelnden, Ertrinkenden, der eine letzte Anstrengung zu machen gewagt hat, um sich vor dem Untergang zu retten! G.I.«
»Dieser Mensch versichert«, sagte Aglaja scharf, als der Fürst zu Ende gelesen hatte, »daß das Wort ›Brechen Sie alle Beziehungen ab!‹ mich nicht kompromittieren und zu nichts verpflichten solle, und er gibt mir, wie Sie sehen, hierin, in diesem Billett, eine schriftliche Garantie dafür. Beachten Sie, wie naiv er einige Worte unterstrichen hat und in wie plumper Weise seine geheime Absicht hervorschaut! Er weiß übrigens, daß, wenn er alle Beziehungen abbräche, aber von selbst, allein, ohne auf ein Wort von mir zu warten und ohne mit mir auch nur davon zu reden, und ohne jede Hoffnung auf meine Hand, daß ich dann meine Gefühle gegen ihn ändern und vielleicht seine Freundin werden würde. Das weiß er genau! Aber er hat eine niedrige Gesinnung: er weiß es und kann sich doch nicht entschließen; er weiß es und verlangt doch Garantien. Er ist nicht imstande, auf Treu und Glauben einen Entschluß zu fassen. Er möchte, daß ich ihm, als Ersatz für die hunderttausend Rubel, die Hoffnung auf meine Hand gäbe. Was aber jenes frühere Wort anlangt, von dem er in seinem Billett spricht und das angeblich sein Leben erhellt hat, so lügt er frech. Ich habe ihm einfach einmal meine Teilnahme ausgesprochen. Aber er ist dreist und unverschämt; ihm ist damals sogleich der Gedanke durch den Kopf gegangen, da sei für ihn eine Hoffnung möglich; ich habe das sofort bemerkt. Seitdem hat er angefangen, auf mich Jagd zu machen; und so sucht er mich auch jetzt zu fangen. Aber genug davon; nehmen Sie dieses Billett und geben Sie es ihm zurück, unmittelbar, nachdem Sie unser Haus werden verlassen haben, selbstverständlich nicht früher!«
»Und welche Antwort soll ich ihm ausrichten?«
»Natürlich gar keine. Das ist die beste Antwort. Sie wollen also in seinem Haus wohnen?«
»Iwan Fjodorowitsch hat es mir vorhin selbst empfohlen«, antwortete der Fürst.
»Dann nehmen Sie sich vor ihm in acht; ich warne Sie; er wird es Ihnen jetzt nicht verzeihen, daß Sie ihm sein Billett zurückbringen.«
Aglaja drückte dem Fürsten leicht die Hand und ging hinaus. Ihr Gesicht war ernst und finster, und sie lächelte nicht einmal, als sie dem Fürsten zum Abschied zunickte.
»Ich bin sogleich bereit; ich will nur mein Bündel holen«, sagte der Fürst zu Ganja. »Dann können wir gehen.«
Ganja stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß. Sein Gesicht wurde ganz dunkel vor Wut. Endlich traten beide auf die Straße, der Fürst mit seinem Bündel in der Hand.
»Und die Antwort? Die Antwort?« bestürmte ihn Ganja. »Was hat sie Ihnen gesagt? Haben Sie ihr meinen Brief übergeben?«
Der Fürst reichte ihm schweigend sein Billett hin. Ganja war wie versteinert. »Wie? Mein Billett!« rief er. »Er hat es ihr gar nicht einmal übergeben! Oh, das hätte ich mir im voraus sagen müssen! Oh, dieser ver-r-dammte ... Nun ist's erklärlich, daß sie vorhin nichts verstand! Aber wie kommt denn das, daß Sie es ihr nicht übergeben haben, Sie ver-r-dammter ...«
»Entschuldigen Sie, es gelang mir im Gegenteil sogleich, Ihr Billett zu übergeben, unmittelbar, nachdem Sie es mir eingehändigt hatten, und genau in der Art, wie Sie es wünschten. Ihr Billett befindet sich jetzt deshalb wieder in meinen Händen, weil Aglaja Iwanowna es mir soeben wieder zurückgegeben hat.«
»Wann? Wann?«
»Als ich mit der Eintragung in das Album fertig war und sie mich aufforderte, mit ihr hinauszukommen. Sie haben es wohl gehört? Wir gingen in das Eßzimmer; dort gab sie mir das Billett und befahl mir, es durchzulesen und Ihnen zurückzugeben.«
»Durch-zu-lesen!« schrie Ganja überlaut. »Durchzulesen! Und Sie haben es gelesen?«
Er blieb von neuem wie erstarrt mitten auf dem Trottoir stehen und war dermaßen erstaunt, daß er sogar den Mund aufriß.
»Ja, ich habe es gelesen, jetzt eben.«
»Und sie selbst, sie selbst hat es Ihnen zum Durchlesen gegeben? Sie selbst?«
»Ja, sie selbst; Sie können mir glauben, daß ich es ohne ihre Aufforderung nicht gelesen hätte.«
Ganja schwieg eine Minute lang und überlegte etwas mit qualvoller Anstrengung; aber plötzlich rief er:
»Es ist unmöglich! Sie konnte Sie nicht auffordern, den Brief zu lesen. Sie lügen! Sie haben ihn ohne Erlaubnis durchgelesen!«
»Ich sage die Wahrheit«, antwortete der Fürst in dem früheren, völlig ruhigen Ton »und seien Sie überzeugt: es tut mir sehr leid, daß dies auf Sie einen so unangenehmen Eindruck macht.«
»Aber, Sie Unseliger, sie hat Ihnen doch wenigstens etwas dabei gesagt, etwas geantwortet?«
»Ja, gewiß.«
»So sprechen Sie doch, sprechen Sie doch, zum Teufel!« Ganja stampfte mit dem in einem Überschuh steckenden rechten Fuß zweimal auf das Trottoir.
»Als ich den Brief durchgelesen hatte, sagte sie zu mir, Sie suchten sie zu fangen; Sie wünschten, sie zu kompromittieren, um Hoffnung auf ihre Hand zu erhalten, damit Sie dann, auf diese Hoffnung gestützt, eine andere Hoffnung auf hunderttausend Rubel ohne Verlust fahrenlassen könnten. Wenn Sie das täten, ohne mit ihr eine Art von Handelsgeschäft zu machen, und alle jene Beziehungen auf eigene Hand abbrächen, ohne von ihr vorher eine Garantie zu verlangen, dann würde sie vielleicht Ihre Freundin werden. Das ist alles, glaube ich. Ja, noch eins: als ich den Brief bereits zurückerhalten hatte und fragte, was für eine Antwort ich bestellen solle, da sagte sie, keine Antwort werde die beste Antwort sein. Ich meine, so war es; entschuldigen Sie, wenn ich den genauen Wortlaut vergessen habe; ich habe es Ihnen so mitgeteilt, wie ich es selbst verstanden habe.«
Ein grenzenloser Zorn bemächtigte sich Ganjas, und seine Wut kam unhemmbar zum Ausbruch.
»Ah! So steht es!« rief er zähneknirschend. »Also meine Briefe werden aus dem Fenster geworfen! Ah! Auf Handelsgeschäfte will sie sich nicht einlassen – nun, so werde ich es tun! Wir wollen einmal sehen! Ich habe noch viele Hilfsmittel ... wir wollen einmal sehen ...! Ich will sie schon kirre machen!«
Sein Gesicht verzerrte sich; er wurde ganz blaß; sein Mund schäumte; er drohte mit der Faust. So gingen sie einige Schritte. Vor dem Fürsten legte er sich nicht den geringsten Zwang auf; er benahm sich so, als wäre er in seinem Zimmer und ganz allein; den Fürsten betrachtete er geradezu als eine Null. Aber auf einmal fiel ihm etwas ein, und er kam zur Besinnung.
»Aber wie geht es zu«, wandte er sich plötzlich an den Fürsten, »wie geht es zu, daß Sie« (»so ein Idiot!« fügte er im stillen hinzu) »auf einmal eine solche Vertrauensstellung einnehmen, zwei Stunden nach der ersten Bekanntschaft? Wie geht das zu?«
Bei all seinen Qualen hatte nur noch der Neid gefehlt, der nun auf einmal sein Herz schmerzhaft packte.
»Das weiß ich Ihnen allerdings nicht zu erklären«, antwortete der Fürst.
Ganja warf ihm einen grimmigen Blick zu.
»Da hat sie Sie wohl ins Eßzimmer gerufen, um Ihnen ihr Vertrauen zu schenken? Denn daß sie Ihnen etwas schenken wolle, hatte sie ja vorher gesagt.«
»Ich kann es nicht anders auffassen als in dieser Weise.«
»Aber zum Teufel, wodurch haben Sie denn das verdient? Was haben Sie denn so Dankenswertes dort getan? Wodurch haben Sie so gefallen? Hören Sie einmal«, sagte er hastig (in seinem Geist war zur
Zeit alles gleichsam bunt durcheinandergeworfen und befand sich in ärgster Unordnung, so daß er mit seinen Gedanken nicht zurechtkommen konnte), »hören Sie einmal, können Sie sich nicht wenigstens einigermaßen erinnern und der Reihe nach erzählen, wovon Sie dort eigentlich gesprochen haben, alle Ihre Worte, von Anfang an? Haben Sie irgend etwas Eigenartiges geäußert, besinnen Sie sich nicht?«
»Oh ja, sehr wohl«, antwortete der Fürst. »Gleich am Anfang, als ich hereingekommen und mit den Damen bekannt geworden war, sprachen wir über die Schweiz.«
»Ach, hol die Schweiz der Teufel!«
»Dann über die Todesstrafe.«
»Über die Todesstrafe?«
»Ja, das Gespräch führte uns darauf ... Dann erzählte ich ihnen, wie ich dort vier Jahre gelebt habe, und eine Geschichte von einem armen Bauernmädchen ...«
»Ach, zum Teufel mit dem armen Bauernmädchen! Weiter!« drängte Ganja ungeduldig.
»Dann, wie Schneider mir seine Ansicht über meinen Charakter aussprach und mich nötigte ...«
»Hol Ihren Schneider der Henker; was scheren mich seine Ansichten! Weiter!«
»Dann fing ich bei irgendeinem Anlaß an, von Gesichtern zu sprechen, das heißt von dem Ausdruck der Gesichter, und sagte, Aglaja Iwanowna sei fast ebenso schön wie Nastasja Filippowna. Und da kam ich denn auch auf das Bild zu sprechen ...«
»Aber Sie haben nichts von dem mitgeteilt, Sie haben doch nichts von dem mitgeteilt, was Sie vorher im Arbeitszimmer gehört hatten? Nein? Nein?«
»Ich wiederhole Ihnen, daß ich es nicht getan habe.«
»Aber woher dann, zum Teufel ... Ha! Hat Aglaja den Brief etwa der Alten gezeigt?«
»Was das betrifft, kann ich Ihnen bestimmt garantieren, daß sie ihn ihr nicht gezeigt hat. Ich war die ganz Zeit dabei; sie hatte auch gar keine Zeit dazu.«
»Aber vielleicht haben Sie selbst etwas nicht bemerkt ... Oh, dieser ver-r-dammte Idiot!« schrie er auf einmal ganz außer sich, »er kann nicht einmal etwas erzählen!«
Ganja, der nun einmal ins Schimpfen hineingeraten war und keinen Widerstand fand, verlor allmählich alle Selbstbeherrschung, wie das bei manchen Menschen immer so geht. Es fehlte nicht viel, und er hätte vielleicht zu spucken begonnen, so wütend war er. Aber eben infolge dieser Wut war er auch wie blind; sonst hätte er längst bemerken müssen, daß dieser »Idiot«, den er so verächtlich behandelte, manche Dinge sehr schnell und genau durchschaute und außerordentlich klar darzustellen wußte. Aber auf einmal begab sich etwas Unerwartetes.
»Ich muß Ihnen bemerken, Gawrila Ardalionowitsch«, sagte der Fürst plötzlich, »daß ich zwar früher in der Tat so krank war, daß ich wirklich fast einem Idioten glich; aber jetzt bin ich schon längst wiederhergestellt, und daher ist es mir einigermaßen unangenehm, wenn man mich, mir ins Gesicht, einen Idioten nennt. Allerdings kann man Ihre Mißerfolge als Entschuldigung für Sie geltend machen; aber Sie haben mich in Ihrem Ärger schon zweimal mit Schimpfnamen belegt. Das mißfällt mir sehr, namentlich auch, da Sie es so ohne weiteres gleich beim Beginn unserer Bekanntschaft tun; und da wir uns jetzt gerade an einer Straßenkreuzung befinden, so ist es wohl das beste, wenn wir uns trennen: gehen Sie rechts nach Ihrer Wohnung, und ich werde nach links gehen. Ich bin im Besitz von fünfundzwanzig Rubeln und werde wohl irgendein Hotel garni finden.«
Ganja wurde höchst verlegen und errötete sogar vor Scham darüber, daß ihm sein Fehler so unerwartet vorgehalten wurde.
»Verzeihen Sie, Fürst!« rief er eifrig, indem er seinen scheltenden Ton schnell mit einem äußerst höflichen vertauschte, »ich bitte Sie inständig, verzeihen Sie mir! Sie sehen, in welcher entsetzlichen Lage ich mich befinde! Sie wissen noch fast nichts darüber; aber wenn Sie alles wüßten, würden Sie mich gewiß wenigstens einigermaßen entschuldigen, wiewohl selbstverständlich mein Verhalten unentschuldbar ist ...«
»Oh, ich beanspruche gar nicht so lange Entschuldigungen«, beeilte sich der Fürst zu erwidern. »Ich begreife ja, daß Ihnen Ihre Lage sehr unangenehm ist und Sie deswegen schimpfen. Nun, dann wollen wir nach Ihrer Wohnung gehen. Ich tue es nun mit Vergnügen ...«
»Nein, so darf ich ihn jetzt nicht davonlassen«, sagte sich Ganja im stillen, während er unterwegs dem Fürsten grimmige Blicke zuwarf. »Dieser schlaue Patron hat mir alle meine Geheimnisse entlockt und nun auf einmal die Maske abgeworfen ... Das hat etwas zu bedeuten. Nun, wir wollen sehen! Es wird sich alles entscheiden, alles, alles! Noch heute!«
Sie standen schon gerade vor dem Haus.
Ganjas Wohnung befand sich im dritten Stock, zu dem man auf einer sehr sauberen, hellen, breiten Treppe hinaufstieg, und bestand aus sechs oder sieben Stuben und Stübchen, die zwar nur ganz gewöhnlicher Art waren, aber doch jedenfalls nicht recht im Einklang standen mit dem Portemonnaie eines Beamten, der Familie hatte, auch wenn er zweitausend Rubel Gehalt bezog. Bei der Wohnung war jedoch die Aufnahme von Untermietern mit Beköstigung und Bedienung in Aussicht genommen, und sie war von Ganja und seiner Familie erst vor zwei Monaten gemietet worden; und zwar war dies zu Ganjas eigenem größten Mißvergnügen geschehen, auf die inständigen Bitten seiner Mutter Nina Alexandrowna und seiner Schwester Warwara Ardalionowna hin, die den Wunsch hatten, sich für ihrem Teil nützlich zu machen und die Einnahmen der Familie wenigstens um eine Kleinigkeit zu vermehren. Ganja ärgerte sich darüber und nannte das Halten von Untermietern eine Unanständigkeit; er schämte sich dessen gewissermaßen in der Gesellschaft, in der er als ein junger, eleganter Mann mit einer bedeutenden Zukunft sich zu bewegen pflegte. Dieser Druck der Verhältnisse und diese ganze widerwärtige Beengtheit bereiteten ihm tiefe seelische Schmerzen. Seit einiger Zeit regte er sich über jede Kleinigkeit maßlos und viel mehr, als sie wert war, auf, und wenn er sich dazu verstand, vorläufig noch nachzugeben und zu dulden, so tat er dies nur deshalb, weil er bereits entschlossen war, dies alles in nächster Zeit umzuändern und umzugestalten. Indessen stellten ihm gerade diese Umgestaltung, gerade der Ausweg, den er vor sich hatte, eine nicht leichte Aufgabe, eine Aufgabe, deren bevorstehende Lösung mühsamer und qualvoller zu werden drohte als alles Vorhergegangene.
Die Wohnung wurde von einem Korridor durchschnitten, der gleich beim Vorzimmer begann. Auf der einen Seite des Korridors befanden sich die drei Zimmer, die zum Vermieten an »gut empfohlene« Untermieter bestimmt waren; außerdem lag auf derselben Seite des Korridors, ganz am Ende, bei der Küche, ein viertes Zimmerchen, enger als alle übrigen, in welchem das Oberhaupt der Familie, der General a.D. Iwolgin, selbst wohnte; er schlief dort auf einem breiten Sofa und war verpflichtet, wenn er die Wohnung verließ und wiederkam, seinen Weg durch die Küche und über die Hintertreppe zu nehmen. In demselben Zimmerchen wohnte auch Gawrila Ardalionowitschs fünfzehnjähriger Bruder, der Gymnasiast Kolja; auch er mußte sich in diesem engen Raum behelfen, mußte hier seine Schulaufgaben erledigen und auf einem andern sehr alten, schmalen, kurzen Sofa und einem zerrissenen Laken schlafen; vor allen Dingen aber mußte er den Vater versorgen und beaufsichtigen; denn der Aufsicht wurde dieser von Tag zu Tag mehr bedürftig. Dem Fürsten wurde das mittlere der drei Zimmer angewiesen; in dem ersten Zimmer, rechts davon, wohnte Ferdyschtschenko, und das dritte, links, stand noch leer. Aber Ganja führte den Fürsten zunächst nach der von der Familie eingenommenen Wohnungshälfte. Diese Hälfte bestand aus einem Wohnzimmer, das sich, so oft es nötig war, in ein Eßzimmer verwandelte, ferner aus einem Salon, der jedoch Salon nur vormittags war und sich am Abend in Ganjas Arbeitszimmer und in sein Schlafzimmer verwandelte, und endlich aus einem dritten, engen und stets geschlossen gehaltenen Zimmer: dies war Nina Alexandrownas und Warwara Ardalionownas Schlafzimmer. Mit einem Wort: alles in dieser Wohnung war beengt und zusammengedrängt; Ganja knirschte im stillen nur so mit den Zähnen; obgleich er gegen seine Mutter respektvoll war und zu sein wünschte, so konnte man doch beim ersten Blick, den man in dieses Familienleben tat, bemerken, daß er hier einen argen Despotismus ausübte.
Nina Alexandrowna befand sich im Salon nicht allein; bei ihr saß Warwara Ardalionowna; beide waren mit Stricken beschäftigt und im Gespräch mit einem Gast, Iwan Petrowitsch Ptizyn, begriffen. Nina Alexandrowna mochte etwa fünfzig Jahre alt sein; sie hatte ein mageres, eingefallenes Gesicht und dunkle, schwarze Stellen unter den Augen. Ihr Aussehen war kränklich und etwas vergrämt; aber ihre Miene und ihr Blick machten doch einen ziemlich angenehmen Eindruck; gleich aus ihren ersten Worten konnte ein jeder auf ihren ernsten, echt würdevollen Charakter schließen. Trotz ihres traurigen Gesichtsausdrucks merkte man, daß es ihr an Festigkeit und Entschlossenheit nicht mangelte. Ihre Kleidung war sehr bescheiden, von dunkler Farbe und ganz von der Art, wie sie alle Frauen tragen; aber ihr Benehmen, ihre Ausdrucksweise und ihre gesamten Manieren bekundeten eine Frau, die sich ehemals in der besten Gesellschaft bewegt hatte.
Warwara Ardalionowna war ein Mädchen von ungefähr dreiundzwanzig Jahren, von mittlerer Statur, ziemlich mager, mit einem Gesicht, das, ohne übermäßig hübsch zu sein, doch die geheime Kunst besaß, auch ohne Schönheit zu gefallen und eine starke Anziehungskraft auszuüben. Der Blick ihrer grauen Augen konnte zeitweilig recht heiter und freundlich sein, war aber doch meist ernst und nachdenklich, manchmal sogar zu sehr, besonders in letzter Zeit. Festigkeit und Entschlossenheit waren auch in ihrem Gesicht ausgeprägt; man hatte aber die Empfindung, daß diese Festigkeit bei ihr mit noch größerer Energie und Tatkraft gepaart war als bei der Mutter. Warwara Ardalionowna war recht aufbrausend, und ihr Bruder fürchtete sich sogar mitunter vor den Ausbrüchen ihres hitzigen Temperaments. Diese Furcht teilte auch der Gast, der augenblicklich bei den Damen saß, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Dieser war ein noch ziemlich junger Mann, nämlich gegen dreißig Jahre alt, in bescheidener, aber anständiger Kleidung, von angenehmem, aber gewissermaßen allzu ehrbarem Wesen. Sein dunkelblondes Bärtchen ließ erkennen, daß er keine dienstliche Stellung einnahm. Er wußte beim Gespräch verständig und hübsch zu reden, verhielt sich aber meist schweigsam. Im ganzen genommen machte er einen recht angenehmen Eindruck. Er war Warwara Ardalionowna gegenüber augenscheinlich nicht unempfindlich und verbarg seine Gefühle nicht. Warwara Ardalionowna behandelte ihn freundschaftlich, zögerte aber noch, auf manche seiner Fragen zu antworten; ja, sie liebte solche Fragen nicht einmal; Ptizyn ließ sich übrigens dadurch in keiner Weise entmutigen. Nina Alexandrowna war gegen ihn freundlich und hatte in der letzten Zeit sogar angefangen, ihm viel Vertrauen zu schenken. Es war übrigens bekannt, daß er sich speziell damit beschäftigte, Geld auf mehr oder weniger sichere Pfänder zu hohen Prozenten auszuleihen. Mit Ganja war er sehr befreundet.
Ganja, der seine Mutter in sehr trockener Manier und seine Schwester gar nicht begrüßt hatte, stellte den Fürsten umständlich, aber in stockender Rede vor und führte dann sogleich Ptizyn mit sich aus dem Zimmer. Nina Alexandrowna sagte dem Fürsten ein paar freundliche Worte und gab ihrem Sohn Kolja, der durch die Tür hereinschaute, die Weisung, ihn in das mittlere Zimmer zu führen. Kolja war ein Knabe mit einem fröhlichen, recht netten Gesicht und zutraulichem, natürlichem Benehmen.
»Wo ist denn Ihr Gepäck?« fragte er, als er den Fürsten in das Zimmer führte.
»Ich habe nur ein Bündelchen; das habe ich im Vorzimmer gelassen.«
»Ich werde es Ihnen sofort holen. Unsere ganze Dienerschaft besteht aus der Köchin und Matrona, so daß auch ich mithelfen muß. Warja beaufsichtigt alles und ärgert sich viel über uns. Ganja sagt, Sie seien heute aus der Schweiz angekommen?«
»Ja.«
»Ist es in der Schweiz schön?«
»Ja, sehr schön.«
»Sind da Berge?«
»Ja.«
»Ich will Ihnen gleich Ihre Bündel holen.«
Warwara Ardalionowna trat ins Zimmer.
»Matrona wird Ihnen sofort das Bett überziehen. Haben Sie einen Koffer?«
»Nein, nur ein Bündelchen. Ihr Bruder ist es eben holen gegangen; es ist im Vorzimmer.«
»Es sind keine Bündel da außer diesem kleinen; wo haben Sie sie denn hingelegt?« fragte Kolja, der wieder ins Zimmer zurückkehrte.
»Außer diesem habe ich überhaupt keins«, erwiderte der Fürst, indem er sein Bündelchen in Empfang nahm.
»So, so! Und ich dachte schon, Ferdyschtschenko hätte es vielleicht weggenommen.«
»Schwatz keinen Unsinn!« sagte Warwara in strengem Ton. Auch dem Fürsten gegenüber bediente sie sich einer trockenen, nur soeben noch höflichen Redeweise.
»Chère Babette, mit mir könntest du etwas freundlicher umgehen; ich bin ja nicht Ptizyn.«
»Dich kann man noch durchhauen, Kolja, so dumm bist du noch. Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, können Sie sich an Matrona wenden; das Mittagessen findet um halb fünf statt. Sie können mit uns zusammen speisen oder auch auf Ihrem Zimmer, wie es Ihnen beliebt. Komm mit, Kolja, störe den Herrn nicht!«
»Nun, dann wollen wir gehen, du resolute Person!«
Beim Hinausgehen stießen sie mit Ganja zusammen.
»Ist der Vater zu Hause?« fragte Ganja seinen Bruder, und auf Koljas bejahende Antwort flüsterte er ihm etwas ins Ohr.
Kolja nickte mit dem Kopf und ging hinter Warwara Ardalionowna hinaus.
»Nur zwei Worte, Fürst! Ich habe über all diesen ... Geschäften ganz vergessen, es Ihnen zu sagen. Eine kleine Bitte: wenn es Sie nicht zu große Anstrengung kostet, so plaudern Sie weder hier von dem, was soeben zwischen mir und Aglaja vorgefallen ist, noch dort von dem, was Sie hier vorfinden werden; denn auch hier gibt es genug Widerwärtiges. Hol das alles der Teufel! ... Halten Sie wenigstens heute damit zurück!«
»Ich versichere Ihnen, daß ich weit weniger geplaudert habe, als Sie glauben«, versetzte der Fürst, etwas gereizt durch Ganjas Vorwürfe.
Die Beziehungen zwischen ihnen gestalteten sich offenbar immer schlechter und schlechter.
»Na, ich habe durch Ihre Schuld heute schon genug auszustehen gehabt. Mit einem Wort, ich bitte Sie darum.«
»Wollen Sie noch dies bedenken, Gawrila Ardalionowitsch: Wodurch war ich denn vorhin verpflichtet, von dem Bild zu schweigen, und warum durfte ich nicht davon reden? Sie hatten mich ja nicht um Verschwiegenheit ersucht.«
»Pfui, was für ein häßliches Zimmer!« bemerkte Ganja, indem er verächtlich um sich schaute. »So dunkel, und die Fenster gehen auf den Hof! Sie haben es in jeder Hinsicht bei uns schlecht getroffen ... Na, das ist nicht meine Sache; das Zimmervermieten ist nicht mein Ressort.«
Ptizyn blickte herein und rief Ganja ab; dieser verließ den Fürsten eilig und ging hinaus, trotzdem er eigentlich noch etwas hatte sagen wollen; aber er hatte damit gezaudert und sich gewissermaßen geschämt, davon anzufangen. Auch das Schimpfen über das Zimmer hatte seinen Grund nur in Ganjas Verlegenheit gehabt.
Kaum hatte sich der Fürst gewaschen und seine Toilette einigermaßen in Ordnung gebracht, als sich die Tür von neuem öffnete und eine neue Gestalt hereinschaute.
Dies war ein Herr von etwa dreißig Jahren, ziemlich groß gewachsen, breitschultrig, mit großem Kopf und krausem, rötlichem Haar. Sein Gesicht war fleischig und gerötet, die Lippen dick, die Nase breit und platt; die kleinen, verschwommenen, spöttischen Augen blinzelten fortwährend. Im ganzen machte sein Wesen den Eindruck ziemlicher Frechheit. Seine Kleidung war unsauber.
Er öffnete die Tür anfangs nur so weit, daß er den Kopf hindurchstecken konnte. Dieser hindurchgesteckte Kopf sah sich etwa fünf Sekunden lang im Zimmer um; dann öffnete sich die Tür langsam weiter, und die ganze Gestalt wurde auf der Schwelle sichtbar; aber der Besucher trat noch nicht herein, sondern fuhr von der Schwelle aus fort, den Fürsten mit zusammengekniffenen Augen zu mustern. Endlich machte er die Tür hinter sich zu, trat näher, setzte sich auf einen Stuhl, ergriff den Fürsten kräftig bei der Hand und zog ihn, sich schräg gegenüber, auf das Sofa nieder. »Mein Name ist Ferdyschtschenko«, sagte er, indem er dem Fürsten unverwandt und forschend ins Gesicht blickte.
»Nun, und?« antwortete der Fürst beinahe lachend.
»Ich bin hier Untermieter«, fuhr Ferdyschtschenko fort, ihn wie vorher anstarrend.
»Wünschen Sie mit mir bekannt zu werden?«
»Ach was!« brummte der Gast, wühlte sich in den Haaren, seufzte und blickte in die entgegengesetzte Ecke.
»Haben Sie Geld?« fragte er plötzlich, sich zum Fürsten hinwendend.
»Nur wenig.«
»Also wieviel?«
»Fünfundzwanzig Rubel.«
»Zeigen Sie mal her!«
Der Fürst zog den Fünfundzwanzigrubelschein aus der Westentasche und reichte ihn Ferdyschtschenko hin. Dieser faltete ihn auseinander, besah ihn, drehte ihn dann auf die andere Seite und hielt ihn gegen das Licht.
»Es ist doch recht merkwürdig«, sagte er wie in Nachdenken versunken; »woher werden sie nur so braun? Diese Fünfundzwanzigrubelscheine werden manchmal schrecklich braun, während andere im Gegenteil ganz ausbleichen. Da, nehmen Sie!«
Der Fürst nahm seine Banknote zurück. Ferdyschtschenko stand von seinem Stuhl auf.
»Ich bin gekommen, um Sie zu warnen: Erstens, leihen Sie mir niemals Geld; denn ich werde Sie unfehlbar darum bitten.«
»Gut.«
»Beabsichtigen Sie, hier zu bezahlen?«
»Allerdings.«
»Ich beabsichtige es nicht; fällt mir nicht ein. Ich wohne hier rechts von Ihnen, die erste Tür; haben Sie gesehen? Geben Sie sich nicht zu oft die Mühe, mich zu besuchen; ich werde schon zu Ihnen kommen; da können Sie unbesorgt sein. Haben Sie den General schon gesehen?«
»Nein.«
»Auch noch nicht gehört?«
»Natürlich nicht.«
»Na, Sie werden ihn ja noch zu sehen und zu hören bekommen; der versucht sogar, mich anzupumpen! Avis au lecteur! Leben Sie wohl! Kann man etwa leben, wenn man Ferdyschtschenko heißt? Wie?«
»Warum denn nicht?«
»Adieu!«
Er ging zur Tür. Der Fürst erfuhr später, daß dieser Herr es sich gewissermaßen zur pflichtmäßigen Aufgabe gemacht habe, alle Leute durch seine Originalität und Spaßhaftigkeit in Erstaunen zu versetzen, daß ihm das aber so gut wie nie gelang. Auf manche machte er sogar einen recht unangenehmen Eindruck, was ihm ein wirklicher Schmerz war; indes wurde er seiner Aufgabe darum doch nicht untreu. In der Tür gelang es ihm noch, eine besondere Leistung hinzuzufügen: er stieß nämlich dort auf einen eintretenden Herrn, ließ diesen neuen, dem Fürsten noch unbekannten Gast an sich vorbei ins Zimmer gehen und zwinkerte hinter dessen Rücken ein paarmal warnend nach ihm hin. So erreichte er doch noch einen effektvollen Abgang.
Der neue Herr war von hohem Wuchs, etwa fünfundfünfzig Jahre alt oder noch etwas darüber, ziemlich wohlbeleibt, mit einem purpurroten, fleischigen, aufgedunsenen Gesicht, das von einem dichten grauen Backenbart umrahmt war, mit einem Schnurrbart und großen, stark hervorstehenden Augen. Seine Erscheinung wäre recht stattlich gewesen, wenn sie nicht etwas Nachlässiges, Verlebtes und sogar Unsauberes gehabt hätte. Er trug einen alten, an den Ellbogen beinah schon durchgestoßenen Oberrock; auch seine Wäsche war schmutzig; außerhalb des Hauses konnte er sich so nicht sehen lassen. Um ihn herum roch es ein wenig nach Schnaps; aber sein Benehmen war eindrucksvoll, wiewohl etwas studiert und offenbar veranlaßt von dem leidenschaftlichen Wunsch, durch Würde zu imponieren. Der Herr näherte sich dem Fürsten langsam mit einem freundlichen Lächeln, ergriff schweigend seine Hand, die er dann in der seinigen behielt, und blickte ihm eine Weile ins Gesicht, wie wenn er wohlbekannte Züge darin wiederfände.
»Er ist es! Er ist es!« sprach er leise, aber in feierlichem Ton. »Als stände er leibhaftig vor mir! Ich hörte, wie da mehrmals ein mir bekannter, teurer Name genannt wurde, und erinnerte mich an die unwiederbringlich dahingeschwundene Vergangenheit ... Sie sind Fürst Myschkin?«
»Ganz richtig.«
»General a.D. Iwolgin, ein unglücklicher Mensch. Darf ich um Ihren Vornamen und Vatersnamen bitten?«
»Ljow Nikolajewitsch.«
»Es stimmt, es stimmt! Der Sohn meines Freundes und, ich kann wohl sagen, meines Spielkameraden Nikolai Petrowitsch!«
»Mein Vater hieß Nikolai Lwowitsch.«
»Lwowitsch«, verbesserte sich der General, aber nicht etwa eilig, sondern mit vollständigem Selbstbewußtsein, als ob er den richtigen Namen keineswegs vergessen, sondern sich nur zufällig versprochen hätte. Er setzte sich, ergriff auch den Fürsten bei der Hand und nötigte ihn, sich neben ihn zu setzen. »Ich habe Sie auf meinen Armen getragen.«
»In der Tat?« fragte der Fürst. »Mein Vater ist schon seit zwanzig Jahren tot.«
»Ja, seit zwanzig Jahren, seit zwanzig Jahren und drei Monaten. Wir haben zusammen die Schule besucht; ich ging dann gleich von der Schule zum Militär.«
»Mein Vater war ebenfalls beim Militär; er war Leutnant im Wasilkowschen Regiment.«
»Im Bjelomirschen. Seine Versetzung in das Bjelomirsche Regiment erfolgte ganz kurz vor seinem Tod. Ich stand ebenfalls dort und erwies ihm die letzte Ehre. Ihre Mutter ...«
Der General hielt inne, wie von einer traurigen Erinnerung überwältigt.
»Auch sie«, sagte der Fürst, »starb ein halbes Jahr darauf infolge einer Erkältung.«
»Nicht infolge einer Erkältung. Nicht infolge einer Erkältung, glauben Sie einem alten Mann! Ich war am Ort und bin bei ihrer Beerdigung zugegen gewesen. Vor Gram um ihren Fürsten ist sie gestorben, nicht infolge einer Erkältung. Ja, auch die Fürstin ist mir unvergeßlich! Oh Jugend, Jugend! Um ihretwillen wären der Fürst und ich, obgleich wir seit unserer Kindheit die besten Freunde gewesen waren, beinahe aneinander zu Mördern geworden.«
Der Fürst begann mit einigem Mißtrauen zuzuhören.
»Ich war in Ihre Mutter leidenschaftlich verliebt, als sie schon Braut war, die Braut meines Freundes. Der Fürst bemerkte das und war darüber höchst betroffen. Eines Morgens (es war noch nicht sieben Uhr) kommt er zu mir und weckt mich. Erstaunt ziehe ich mich an; Schweigen von beiden Seiten; ich begreife alles. Er zieht zwei Pistolen aus der Tasche. Übers Taschentuch. Ohne Zeugen. Wozu brauchten wir Zeugen, wenn wir einander in fünf Minuten in die Ewigkeit befördern wollten? Wir luden, zogen das Taschentuch auseinander, stellten uns ordnungsgemäß hin, setzten uns gegenseitig die Pistolen aufs Herz und sahen einander ins Gesicht. Plötzlich stürzen uns beiden die Tränen stromweise aus den Augen, und die Hände fangen uns an zu zittern. Beiden, beiden gleichzeitig! Na, da folgten nun natürlich Umarmungen und beiderseitiger Wettstreit im Edelmut. Der Fürst rief: ›Sie sei dein!‹ Ich rief: ›Sie sei dein!‹ Mit einem Wort ... mit einem Wort ... Sie wollen bei uns wohnen ... bei uns wohnen?«
»Ja, vielleicht, für einige Zeit«, antwortete der Fürst, etwas stockend.
»Fürst, Mama läßt Sie zu sich bitten«, rief Kolja, der durch die Tür hereinblickte.
Der Fürst wollte aufstehen, um hinzugehen; aber der General legte ihm die rechte Hand auf die Schulter und drückte ihn freundschaftlich wieder auf das Sofa nieder.
»Als aufrichtiger Freund Ihres Vaters möchte ich Sie im voraus auf einiges aufmerksam machen«, sagte der General. »Ich für meine Person habe, wie Sie selbst sehen, unter einer tragischen Katastrophe gelitten; aber ohne Gericht und Urteil, ohne Gericht und Urteil! Nina Alexandrowna ist eine vortreffliche Frau, und meine Tochter Warwara Ardalionowna eine vortreffliche Tochter! Durch die Verhältnisse gezwungen, vermieten wir Zimmer – ein unerhörter Niedergang der Familie! So muß es mir gehen, der ich hätte Generalgouverneur werden müssen ...! Aber das Zusammensein mit Ihnen wird uns immer eine Freude sein. Inzwischen spielt sich hier in meinem Haus eine schlimme Tragödie ab!«
Der Fürst blickte ihn fragend und mit großer Neugier an.
»Es ist eine Heirat im Werke, eine Heirat, wie sie selten vorkommt. Die Heirat eines zweideutigen Frauenzimmers und eines jungen Mannes, welcher Kammerjunker sein könnte. Dieses Weib soll in das Haus geführt werden, in dem meine Tochter und meine Frau leben! Aber solange ich atme, wird sie es nicht betreten! Ich werde mich auf die Schwelle legen; mag sie über mich hinwegschreiten ...! Mit Ganja rede ich jetzt fast gar nicht; ich vermeide es sogar, mit ihm zusammenzutreffen. Ich teile Ihnen das absichtlich vorher mit; wenn Sie bei uns wohnen, werden Sie ja doch ohnedies Zeuge dieser Vorgänge werden. Aber Sie sind der Sohn meines Freundes, und ich bin zu der Hoffnung berechtigt ...«
»Tun Sie mir doch den Gefallen, Fürst, und kommen Sie zu mir in den Salon!« rief Nina Alexandrowna, die nun selbst an der Tür erschien.
»Denke dir nur, liebe Frau«, rief der General, »es stellt sich heraus, daß ich den Fürsten auf meinen Armen gewiegt habe!«
Nina Alexandrowna warf dem General einen vorwurfsvollen, dem Fürsten einen prüfenden Blick zu, sagte jedoch kein Wort. Der Fürst folgte ihr; aber kaum waren sie in den Salon gekommen und hatten sich gesetzt, und kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, dem Fürsten eilig etwas halblaut mitzuteilen, als plötzlich der General ebenfalls im Salon erschien. Nina Alexandrowna verstummte sofort und beugte sich mit offensichtlichem Ärger über ihre Strickarbeit. Der General mochte vielleicht bemerken, daß sie sich ärgerte, ließ sich aber dadurch nicht aus seiner vorzüglichen Stimmung bringen.
»Der Sohn meines Freundes!« rief er, sich an Nina Alexandrowna wendend. »Und so unerwartet! Ich hatte schon lange nicht mehr darauf zu hoffen gewagt. Aber, liebe Frau, erinnerst du dich denn wirklich nicht mehr an den seligen Nikolai Lwowitsch? Du hast ihn noch kennengelernt ... in Twer?«
»Ich erinnere mich nicht an Nikolai Lwowitsch. War das Ihr Vater?« fragte sie den Fürsten.
»Jawohl; aber er ist, soviel ich weiß, nicht in Twer gestorben, sondern in Jelisawetgrad«, bemerkte, zum General gewendet, der Fürst schüchtern. »Ich habe es von Pawlischtschew gehört ...«
»Es war in Twer«, erklärte der General in bestimmtem Ton. »Seine Versetzung nach Twer hatte erst kurz vor seinem Tod stattgefunden, noch bevor sich seine Krankheit entwickelte. Sie selbst, Fürst, waren damals noch zu klein und können sich daher weder an die Versetzung noch an die Reise erinnern; Pawlischtschew aber kann sich geirrt haben, wiewohl er ein ganz vorzüglicher Mensch war.«
»Sie haben auch Pawlischtschew gekannt?«
»Er war ein seltener Mensch. Aber ich war bei dem Tod Ihres Vaters persönlich anwesend und segnete ihn auf dem Totenbett ...«
»Mein Vater starb ja als Angeklagter in Haft«, bemerkte der Fürst wieder, »wiewohl ich nie habe in Erfahrung bringen können, welches Vergehens er eigentlich beschuldigt wurde; er ist im Lazarett gestorben.«
»Oh, das war wegen der Geschichte mit dem Gemeinen Kolpakow. Der Fürst wäre zweifellos freigesprochen worden.«
»So? Wissen Sie das bestimmt?« fragte der Fürst lebhaft interessiert.
»Und ob!« rief der General. »Das Kriegsgericht ging dann auseinander, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben. Eine ganz unglaubliche Geschichte! Ja, man kann sogar sagen: eine geheimnisvolle Geschichte. Der Hauptmann und Kompaniechef Larionow lag im Sterben, und dem Fürsten wurden provisorisch dessen dienstliche Obliegenheiten übertragen; gut. Der Gemeine Kolpakow begeht einen Diebstahl; er entwendet einem Kameraden ein Paar Stiefel und vertrinkt sie; gut. Der Fürst (notabene, es war in Gegenwart des Feldwebels und des Korporals) macht Kolpakow gehörig herunter und droht, ihn auspeitschen zu lassen. Sehr gut. Kolpakow geht in die Kaserne, legt sich auf seine Pritsche und stirbt eine Viertelstunde darauf. Vortrefflich; aber doch ein unerwarteter, fast unglaublicher Vorgang. Wie dem nun auch sein mochte, Kolpakow wurde begraben; der Fürst erstattete Bericht, und dann wurde Kolpakow aus den Listen gestrichen. Man könnte meinen, es ließe sich gar nichts Besseres denken. Aber genau ein halbes Jahr später, bei der Brigademusterung, erscheint der Gemeine Kolpakow, als wäre überhaupt nichts vorgefallen, in der dritten Kompanie des zweiten Bataillons des Nowosemljaschen Infanterieregiments, das zu derselben Brigade und zu derselben Division gehörte wie unser Regiment!«
»Wie!« rief der Fürst, ganz außer sich vor Erstaunen.
»Es verhält sich nicht so; das ist ein Irrtum!« wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich zu ihm, wobei sie ihn ordentlich kummervoll ansah. »Mon mari se trompe.«
»Aber liebe Frau, ›se trompe‹, das ist leicht gesagt; aber kläre du doch selbst einmal einen solchen Fall auf! Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Ich würde der erste sein, der da sagte, qu'on se trompe.
Aber unglücklicherweise war ich Zeuge dieser Vorfälle und gehörte zugleich der Untersuchungskommission an. Alle Konfrontationen bewiesen, daß das derselbe, ganz derselbe Gemeine Kolpakow war, den man ein halbes Jahr vorher mit der üblichen Leichenparade unter Trommelwirbel beerdigt hatte. Es war tatsächlich ein seltener, fast unglaublicher Fall, das gebe ich zu; aber ...«
»Papa, es ist für Sie zum Mittagessen gedeckt«, meldete Warwara Ardalionowna, die ins Zimmer trat.
»Ah, das ist ja schön, ausgezeichnet! Ich habe auch schon gewaltigen Hunger ... Aber dieser Fall hat, kann man sagen, auch seine psychologische Seite ...«
»Die Suppe wird wieder kalt werden«, drängte Warwara ungeduldig.
»Gleich, gleich!« murmelte der General und verließ das Zimmer. »Und trotz aller Nachforschungen ...«, hörte man ihn noch auf dem Korridor sagen.
»Sie werden meinem Mann Ardalion Alexandrowitsch vieles nachsehen müssen, wenn Sie bei uns wohnen bleiben«, sagte Nina Alexandrowna zum Fürsten. »Er wird Sie übrigens nicht zu viel belästigen; er speist auch allein zu Mittag. Sie geben gewiß selbst zu, daß jeder seine Mängel und seine ... besonderen Eigentümlichkeiten hat und die Leute, auf die man mit Fingern zu zeigen pflegt, oft noch nicht einmal so arg sind wie manche andern Menschen. Nur um eins möchte ich Sie dringend bitten: Sollte mein Mann sich einmal an Sie wegen der Zahlung für das Logis wenden, so sagen Sie ihm, Sie hätten schon an mich bezahlt! Das heißt, auch was Sie Ardalion Alexandrowitsch gäben, würde bei der Abrechnung als von Ihnen bezahlt in Ansatz gebracht werden; aber ich bitte Sie einzig um der guten Ordnung willen darum ... Was ist das, Warja?«
Warja war in das Zimmer zurückgekehrt und reichte der Mutter schweigend Nastasja Filippownas Bild hin. Nina Alexandrowna zuckte zusammen und betrachtete es zuerst wie erschrocken, dann mit einem bedrückenden, bitteren Gefühl eine Zeitlang. Endlich richtete sie einen fragenden Blick auf Warja.
»Sie hat es ihm heute selbst geschenkt«, sagte Warja, »und heute abend wird sich bei ihnen alles entscheiden.«
»Heute abend!« wiederholte Nina Alexandrowna halblaut wie in Verzweiflung. »Nun, dann ist also nicht mehr daran zu zweifeln, und es bleibt uns nichts mehr zu hoffen: durch die Schenkung des Bildes hat sie sich deutlich genug erklärt ... Hat er es dir denn selbst gezeigt?« fügte sie erstaunt hinzu.
»Sie wissen doch, Mama, daß wir schon seit einem ganzen Monat kaum ein Wort miteinander reden. Ptizyn hat mir alles erzählt, und das Bild lag dort neben dem Tisch auf dem Fußboden; da habe ich es aufgehoben.«
»Fürst«, wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich an ihn, »ich wollte Sie fragen (und eben deswegen hatte ich Sie hierher bitten lassen), ob Sie mit meinem Sohn schon länger bekannt sind. Ich meine, er sagte, Sie seien erst heute von anderwärts hier angekommen?«
Der Fürst gab ihr in Kürze über sich Auskunft, indem er die größere Hälfte wegließ. Nina Alexandrowna und Warja hörten aufmerksam zu.
»Wenn ich Sie danach frage«, bemerkte Nina Alexandrowna, »so tue ich es nicht in der Absicht, etwas über Gawrila Ardalionowitsch herauszubekommen; geben Sie sich in dieser Hinsicht keinen irrigen Vorstellungen hin! Wenn er etwas hat, was er mir nicht selbst gestehen mag, so will ich das auch nicht hinter seinem Rücken in Erfahrung bringen. Ich fragte namentlich deswegen, weil Ganja vorhin, als Sie hinausgegangen waren, auf meine Frage nach Ihnen mir antwortete: ›Er weiß alles; man braucht sich vor ihm nicht zu genieren!‹ Was bedeutet das? Das heißt, ich möchte gern wissen, bis zu welchem Grade ...«
Auf einmal traten Ganja und Ptizyn ein. Nina Alexandrowna verstummte sofort. Der Fürst blieb auf seinem Stuhl neben ihr sitzen, während Warwara zur Seite ging. Nastasja Filippownas Bild lag an sehr sichtbarer Stelle auf Nina Alexandrownas Arbeitstisch gerade vor ihr. Als Ganja es erblickte, runzelte er die Stirn, nahm es ärgerlich vom Tisch und warf es auf seinen Schreibtisch, der am andern Ende des Zimmers stand.
»Also heute, Ganja?« fragte Nina Alexandrowna plötzlich.
»Was soll heute sein?« rief Ganja zusammenschreckend und fuhr plötzlich auf den Fürsten los. »Ah, ich verstehe, Sie haben auch hier ... Aber was ist denn das in aller Welt mit Ihnen? Eine Art Krankheit? Sind Sie nicht imstande, den Mund zu halten? Nun dann, bitte, begreifen Sie endlich, Durchlaucht ...«
»Hier trage ich die Schuld, Ganja, und kein andrer«, unterbrach ihn Ptizyn.
Ganja blickte ihn fragend an.
»Es ist ja doch so am besten, Ganja, um so mehr, da von der einen Seite die Sache erledigt ist«, murmelte Ptizyn; dann ging er zur Seite, setzte sich an einen Tisch, zog ein mit Bleistift beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche und blickte unverwandt darauf.
Ganja stand mit finsterer Miene da und erwartete mit innerlicher Unruhe eine Familienszene. Sich dem Fürsten gegenüber zu entschuldigen, kam ihm gar nicht in den Sinn.
»Wenn alles erledigt ist, hat Iwan Petrowitsch natürlich recht«, sagte Nina Alexandrowna. »Bitte, mach kein so böses Gesicht, Ganja, und ärgere dich nicht; ich werde nie etwas herauszubekommen suchen, was du nicht von selbst sagen magst, und ich versichere dir, daß ich mich vollständig darein gefügt habe; tu mir den Gefallen und beunruhige dich nicht!«
Sie sagte das, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen und, wie es schien, wirklich ganz ruhig. Ganja war erstaunt, schwieg aber vorsichtigerweise und sah seine Mutter an, in der Erwartung, daß sie sich deutlicher aussprechen werde. Häusliche Szenen hatten ihm schon gar zu viel Verdruß gemacht. Nina Alexandrowna bemerkte diese vorsichtige Zurückhaltung und fügte mit bitterem Lächeln hinzu:
»Du zweifelst immer noch und glaubst mir nicht; beunruhige dich nicht: es wird keine Tränen und keine Bitten mehr geben wie früher, wenigstens nicht von meiner Seite. Alles, was ich wünsche, ist, daß du glücklich sein möchtest, und das weißt du; ich habe mich in mein Schicksal gefunden, und mein Herz wird immer voll Liebe für dich sein, ob wir nun zusammenbleiben oder uns trennen. Selbstverständlich rede ich nur in meinem eigenen Namen; von deiner Schwester kannst du nicht dasselbe verlangen ...«
»Ah, immer wieder sie!« rief Ganja, indem er seiner Schwester einen spöttischen, haßerfüllten Blick zuwarf. »Liebe Mama, ich schöre Ihnen nochmals, worauf ich Ihnen schon früher mein Wort gegeben habe: nie soll jemand wagen, sich gegen Sie zu vergehen, solange ich hier bin, solange ich am Leben bin. Um wen es sich auch handeln mag, ich werde stets darauf bestehen, daß jeder, der unsere Schwelle überschreitet, Ihnen mit der größten Ehrerbietung begegnet ...«
Ganja freute sich so, daß er seine Mutter fast mit versöhnlichen, zärtlichen Blicken ansah.
»Ich habe auch nie etwas für meine eigene Person befürchtet, Ganja; das weißt du. Nicht um meinetwillen habe ich mich diese ganze Zeit über beunruhigt und gequält. Es heißt, heute wird zwischen euch alles erledigt werden? Was wird denn erledigt werden?«
»Sie hat versprochen, heute abend bei sich zu Hause sich darüber zu erklären, ob sie einwilligt oder nicht«, antwortete Ganja.
»Wir haben es fast drei Wochen lang vermieden, davon zu sprechen, und das war auch das beste. Jetzt, da alles erledigt ist, möchte ich mir nur die eine Frage erlauben: wie konnte sie dir ihre Einwilligung geben und dir sogar ihr Bild schenken, wenn du sie nicht liebst? Hast du denn wirklich sie, eine so ... so ...«
»Nun, sagen wir: eine so erfahrene Person ...«
»Ich wollte mich anders ausdrücken. Hast du sie denn wirklich bis zu dem Grade verblenden können?«
Aus dieser Frage klang auf einmal eine große Gereiztheit heraus. Ganja stand eine Weile da und überlegte; dann sagte er mit unverhohlenem Spott:
»Sie haben sich hinreißen lassen, Mama, und sich wieder einmal nicht beherrschen können. In der Art fangen bei uns immer alle Gespräche an und werden dann hitzig. Sie sagten, es werde keine Fragen und keine Vorwürfe geben, und nun haben sie doch schon wieder angefangen! Lassen wir dergleichen lieber weg; wirklich, lassen wir es weg; auch Sie haben es ja wenigstens beabsichtigt ... Ich werde Sie nie und um keinen Preis verlassen; ein andrer würde vor einer solchen Schwester allermindestens davonlaufen – da, sehen Sie nur, wie sie mich eben anblickt! Hören wir davon auf! Ich freute mich schon so
... Und woher wissen Sie, daß ich Nastasja Filippowna täusche? Und was Warja anlangt, so kann sie tun, was sie will; basta! Na, nun aber genug hiervon.«
Ganja war bei jedem Wort hitziger geworden und ging nun unruhig im Zimmer umher. Solche Gespräche nahmen immer eine derartige Wendung, daß sie bei allen Familienmitgliedern einen wunden Punkt berührten.
»Ich habe gesagt, wenn sie hier einzieht, ziehe ich von hier fort, und ich werde ebenfalls Wort halten«, erklärte Warja.
»Aus Eigensinn!« rief Ganja. »Aus Eigensinn willst du auch nicht heiraten! Warum fauchst du mich so an? Ich mache mir aus Ihnen nicht das geringste, Warwara Ardalionowna; wenn es Ihnen beliebt, mögen Sie Ihre Absicht sofort zur Ausführung bringen. Ich bin Ihrer schon recht überdrüssig. Wie! Sie entschließen sich endlich, uns allein zu lassen, Fürst?« schrie er den Fürsten an, als er sah, daß dieser sich von seinem Platz erhob.
Aus Ganjas Stimme konnte man schon jenen Grad von Gereiztheit heraushören, bei dem der Mensch beinah Freude über seine eigene Gereiztheit empfindet und sich diesem Gefühl ohne jeden weiteren Versuch der Selbstbeherrschung überläßt, ordentlich mit wachsendem Genuß, mag nun daraus entstehen, was da will. Der Fürst, schon in der Tür, drehte sich um, um etwas zu erwidern; aber als er an dem krankhaft erregten Gesichtsausdruck seines Beleidigers sah, daß hier nur noch der letzte Tropfen fehlte, der das Gefäß zum Überlaufen bringt, da wandte er sich wieder um und ging schweigend hinaus. Einige Sekunden darauf hörte er an den Stimmen, die aus dem Wohnzimmer heraustönten, daß das Gespräch nach seinem Weggang noch lärmender und rücksichtsloser geworden war.
Er ging durch das Wohnzimmer in das Vorzimmer, um auf den Korridor und aus diesem in sein Zimmer zu gelangen. Als er dicht bei der nach der Treppe führenden Tür vorbeikam, hörte und sah er, daß auf der andern Seite der Tür sich jemand aus aller Kraft bemühte zu klingeln, die Klingel aber, an der offenbar etwas in Unordnung war, nur zitterte und keinen Ton gab. Der Fürst schob den Riegel zurück, öffnete die Tür und – prallte erstaunt, am ganzen Leib zitternd, zurück: vor ihm stand Nastasja Filippowna. Er erkannte sie sofort nach ihrem Bild.
Ihre Augen funkelten vor Ärger, als sie ihn erblickte; sie trat, ihn mit der Schulter aus dem Weg stoßend, schnell ins Vorzimmer und sagte zornig, während sie ihren Pelz abwarf:
»Wenn du zu faul bist, die Klingel in Ordnung zu bringen, so solltest du wenigstens im Vorzimmer sitzen, um zu hören, wenn jemand klopft. Na, und nun hat er den Pelz hinfallen lassen, der Tölpel!«
Der Pelz lag in der Tat auf dem Fußboden; Nastasja Filippowna hatte nicht abgewartet, daß der Fürst ihn ihr abnahm, sondern ihn ihm selbst, ohne sich umzusehen, nach hinten in die Hände werfen wollen; aber der Fürst hatte nicht Zeit gehabt, ihn aufzufangen.
»Weggejagt solltest du werden! Geh und melde mich!«
Der Fürst wollte etwas sagen, war aber so fassungslos, daß er nichts herausbrachte und mit dem Pelz, den er vom Fußboden aufgehoben hatte, nach dem Salon zu ging.
»Na, jetzt geht er gar mit dem Pelz fort! Wozu nimmst du denn den Pelz mit? Hahaha! Hast du nicht deinen Verstand, wie?«
Der Fürst kehrte um und blickte sie ganz verstört an; als sie auflachte, lächelte er ebenfalls, war aber immer noch nicht imstande, die Zunge zu bewegen. Im ersten Augenblick, als er ihr die Tür geöffnet hatte, war er blaß gewesen; jetzt aber wurde sein Gesicht plötzlich von dunkler Röte übergossen.
»Nein, was ist das für ein Idiot!« rief Nastasja Filippowna unwillig und stampfte mit dem Fuß. »Wohin gehst du denn nun? Wen willst du denn melden?«
»Nastasja Filippowna«, murmelte der Fürst.
»Woher kennst du mich?« fragte sie ihn schnell. »Ich habe dich nie gesehen! Geh und melde mich ...! Was ist denn da für ein Geschrei?«
»Sie zanken sich«, antwortete der Fürst und ging nach dem Salon.
Er trat gerade in einem recht kritischen Augenblick hinein. Nina Alexandrowna stand auf dem Punkt, vollständig zu vergessen, daß sie sich »in alles gefügt« hatte; sie war übrigens dabei, Warjas Verhalten zu verteidigen. Ptizyn, der seinen mit Bleistift beschriebenen Zettel beiseite getan hatte, war ebenfalls auf Warjas Seite getreten. Auch Warja selbst bewies Mut, wie sie denn ganz und gar kein feiges Mädchen war; die Grobheiten ihres Bruders aber wurden mit jedem Wort, das er sprach, ärger und unerträglicher. In solchen Fällen hörte sie gewöhnlich auf zu sprechen und richtete nur schweigend ihre spöttischen, unverwandten Blicke auf den Bruder. Dieses Benehmen hatte, wie sie wußte, die Wirkung, ihn alle Schranken vergessen zu lassen. Gerade in diesem Augenblick trat der Fürst ins Zimmer und rief:
»Nastasja Filippowna!«
Ein allgemeines Stillschweigen folgte; alle blickten den Fürsten an, wie wenn sie ihn nicht verständen und ihn nicht verstehen wollten. Ganja war vor Schreck ganz starr geworden.
Die Ankunft Nastasja Filippownas, und noch dazu in diesem Augenblick, war für alle eine sehr seltsame, besorgniserregende Überraschung. Schon allein der Umstand, daß Nastasja Filippowna zum ersten Mal hinkam; bisher hatte sie sich so hochmütig benommen, daß sie in den Gesprächen mit Ganja nicht einmal den Wunsch, mit seinen Angehörigen bekannt zu werden, ausgesprochen und in der letzten Zeit ihrer überhaupt nie mehr Erwähnung getan hatte, als ob sie gar nicht auf der Welt wären. Ganja war zwar zum Teil froh darüber, daß ihm dieses für ihn so mißliche Thema erspart blieb; im stillen aber setzte er ihr diesen Hochmut doch aufs Kerbholz. Jedenfalls hätte er von ihrer Seite eher Spottreden und Sticheleien über seine Familie als einen Besuch bei derselben erwartet; er wußte zuverlässig, daß ihr alles bekannt war, was bei ihm zu Hause anläßlich seiner Bewerbung um ihre Hand vorging, und daß sie sich keinen Illusionen darüber hingab, wie seine Angehörigen über sie dachten. Ihr Besuch, jetzt, nach der Schenkung des Bildes und an ihrem Geburtstag, an dem sie sein Schicksal zu entscheiden versprochen hatte, schloß eigentlich schon beinahe die Entscheidung selbst in sich.
Die Verständnislosigkeit, mit der alle den Fürsten ansahen, dauerte nicht lange: Nastasja Filippowna erschien in eigener Person in der Tür des Salons und schob wieder beim Eintritt ins Zimmer den Fürsten mit einem leichten Stoß beiseite.
»Endlich ist es mir gelungen, hereinzukommen ... Warum binden Sie denn Ihre Klingel fest?« fragte sie munter und reichte Ganja die Hand, der eilig zu ihr hinstürzte. »Warum machen Sie denn ein so betrübtes Gesicht? Bitte, stellen Sie mich doch vor ...!«
Ganja, der ganz die Besinnung verloren hatte, stellte sie zuerst seiner Schwester Warja vor, und die beiden Frauen maßen einander, bevor sie sich die Hände reichten, mit sonderbaren Blicken. Nastasja Filippowna lachte übrigens und fingierte Heiterkeit; Warja dagegen wollte sich nicht verstellen und blickte düster und starr; nicht einmal eine Spur von Lächeln, wie es schon die einfache Höflichkeit verlangt, zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ganja fuhr erschrocken zusammen; seine Schwester zu bitten, dazu war es zu spät; so warf er ihr denn einen so drohenden Blick zu, daß sie begriff, was dieser Augenblick für ihren Bruder bedeutete. Da entschloß sie sich, wie es schien, ihm zu willfahren, und lächelte Nastasja Filippowna ein ganz klein wenig an. (Im Grunde liebten in der Familie alle einander doch noch.) Nina Alexandrowna verbesserte die Situation einigermaßen; diese hatte der völlig verwirrte Ganja erst nach seiner Schwester vorgestellt und dabei sogar seine Mutter zu Nastasja Filippowna hingeführt, statt umgekehrt. Aber kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, von ihrer »ganz besonderen Freude« zu reden, als Nastasja Filippowna, ohne sie zu Ende zu hören, sich schnell zu Ganja wandte und, während sie unaufgefordert auf einem kleinen Sofa in der Ecke am Fenster Platz nahm, ihm zurief: »Wo ist denn Ihr Arbeitszimmer? Und ... und wo sind Ihre Untermieter? Sie geben ja wohl Zimmer an solche ab?«
Ganja wurde dunkelrot und begann eine Antwort zu stottern; aber Nastasja Filippowna fügte sogleich hinzu: »Wo haben Sie denn hier noch Raum, um Untermieter zu halten? Sie haben ja nicht einmal ein eigenes Zimmer. Ist denn das Weitervermieten einträglich?« wandte sie sich plötzlich an Nina Alexandrowna.
»Es macht einige Mühe und Umstände«, antwortete diese. »Natürlich muß es auch etwas einbringen. Wir sind indessen eben erst ...«
Aber Nastasja Filippowna hörte sie wieder nicht zu Ende; sie blickte Ganja an, lachte und rief: »Nein, was machen Sie nur für ein Gesicht? Oh mein Gott, was haben Sie in diesem Augenblick für ein Gesicht!«
Dieses Lachen dauerte einige Sekunden. Ganjas Gesicht sah allerdings arg entstellt aus: die Starrheit und die komische, ängstliche Fassungslosigkeit waren zwar von ihm gewichen; aber er war schrecklich blaß geworden, seine Lippen hatten sich krampfhaft verzogen, und er blickte schweigend, forschend und mit einem bösen Ausdruck unverwandt seiner Besucherin ins Gesicht, die immer noch fortfuhr zu lachen.
Es war noch ein Beobachter da, der sich ebenfalls noch nicht hatte von der Betäubung frei machen können, die ihn bei Nastasja Filippownas Anblick überkommen hatte; aber obgleich er immer noch wie eine Bildsäule an seinem früheren Fleck, in der Tür des Salons, stand, hatte er doch bemerkt, wie Ganja blaß wurde und sein Gesicht einen bösartigen Ausdruck annahm. Beinah erschrocken darüber trat er plötzlich unwillkürlich vor.
»Trinken Sie Wasser«, flüsterte er Ganja zu, »und blicken Sie nicht so ...«
Es war klar, daß er das ohne allen Vorbedacht, ohne jede besondere Absicht, nur so im ersten Impuls gesagt hatte; aber seine Worte brachten eine ganz merkwürdige Wirkung hervor. Ganjas ganze Wut schien sich auf einmal gegen den Fürsten zu richten; er faßte ihn an der Schulter und blickte ihn schweigend, rachsüchtig und haßerfüllt an, wie wenn er nicht imstande wäre, ein Wort herauszubringen. Es entstand eine allgemeine Bewegung: Nina Alexandrowna stieß sogar einen leisen Schrei aus. Ptizyn tat beunruhigt einige Schritte nach vorwärts; Kolja und Ferdyschtschenko, die in der Tür erschienen waren, blieben erstaunt stehen; nur Warja behielt ihren Blick unverändert bei, beobachtete aber aufmerksam, was vorging. Sie hatte sich nicht hingesetzt, sondern stand seitwärts neben der Mutter, die Arme über der Brust verschränkt. Aber Ganja gewann schnell die Herrschaft über sich zurück, unmittelbar nachdem er sich so hatte hinreißen lassen, und lachte nervös auf. Er war nun vollständig wieder zu sich gekommen.
»Ja, was soll denn das vorstellen, Fürst? Sind Sie denn ein Arzt?« rief er in möglichst heiterem, treuherzigem Ton. »Sie haben mich geradezu erschreckt! Nastasja Filippowna, ich möchte Ihnen da diesen ganz köstlichen Menschen empfehlend vorstellen, obwohl ich selbst ihn erst seit heute morgen kenne.«
Nastasja Filippowna blickte den Fürsten verwundert an.
»Ein Fürst? Der ein Fürst? Denken Sie sich, ich habe ihn vorhin im Vorzimmer für einen Bedienten gehalten und ihn hergeschickt, um mich anzumelden! Hahaha!«
»Das tut ja nichts, das tut ja nichts!« fiel Ferdyschtschenko ein, der eilig nähertrat und sich freute, daß man zu lachen anfing. »Das tut ja nichts; se non è vero ...«
»Und ich hätte Sie beinahe noch ausgeschimpft, Fürst! Bitte, verzeihen Sie mir ...! Aber Ferdyschtschenko, wie kommt es denn, daß Sie zu dieser Tageszeit hier sind? Ich dachte, Sie würde ich hier ganz gewiß nicht treffen ... Wer ist der Herr nun? Was für ein Fürst? Myschkin?« sagte sie zu Ganja, der ihr inzwischen den Fürsten, welchen er noch immer an der Schulter gefaßt hielt, vorgestellt hatte.
»Unser Untermieter«, wiederholte Ganja.
Sie waren offenbar bemüht, den Fürsten als eine Art von seltener Kuriosität darzustellen (alle sahen darin einen Ausweg aus einer unerquicklichen Situation), und schoben ihn förmlich zu Nastasja Filippowna hin; der Fürst hörte sogar deutlich das Wort »Idiot«, das jemand, wahrscheinlich Ferdyschtschenko, hinter seinem Rücken zur Information für Nastasja Filippowna flüsterte.
»Sagen Sie, warum haben Sie mich denn vorhin nicht aufgeklärt, als ich mich in Ihnen so schrecklich irrte?« fragte Nastasja Filippowna weiter und musterte den Fürsten vom Kopf bis zu den Füßen in der ungeniertesten Weise.
Sie wartete ungeduldig auf seine Antwort, wie wenn sie im voraus völlig überzeugt wäre, daß die Antwort unfehlbar so dumm sein werde, daß sie darüber werde lachen müssen.
»Ich war erstaunt, Sie so plötzlich vor mir zu sehen«, murmelte der Fürst.
»Aber woher wußten Sie denn, daß ich es war? Wo haben Sie mich früher gesehen? Wie geht es nur zu: mir ist tatsächlich, als hätte ich ihn schon irgendwo gesehen! Und gestatten Sie die Frage: warum blieben Sie vorhin so starr auf Ihrem Fleck stehen? Was habe ich denn an mir, das eine solche Wirkung hervorbringen könnte?«
»Nun zu! Zu!« trieb Ferdyschtschenko, der fortfuhr, Gesichter zu schneiden, den Fürsten an. »Zu doch! Oh mein Gott, was für schöne Dinge würde ich auf eine solche Frage antworten! Nun zu doch ...! Wenn Sie da nicht reden, sind Sie ja der reine Tölpel, Fürst!«
»Auch ich würde eine Menge reden, wenn ich Sie wäre«, antwortete ihm der Fürst lachend. »Ihr Bild, das ich vor kurzem sah, hat auf mich einen starken Eindruck gemacht«, fuhr er, zu Nastasja Filippowna gewendet, fort. »Dann habe ich mit Jepantschins von Ihnen gesprochen ... und schon heute früh, noch ehe ich in Petersburg ankam, hat mir Parfen Rogoschin viel von Ihnen erzählt ... Gerade in dem Augenblick, als ich Ihnen die Tür öffnete, hatte ich an Sie gedacht, und da standen Sie plötzlich vor mir.«
»Aber woher wußten Sie denn, wer ich war?«
»Nach dem Bild und ...«
»Und woher noch?«
»Außerdem deswegen, weil ich Sie mir gerade so vorgestellt habe ... Auch mir ist, als hätte ich Sie schon irgendwo gesehen.«
»Wo denn? Wo denn?«
»Ich habe die Empfindung, als hätte ich Ihre Augen schon einmal irgendwo gesehen ... aber es ist unmöglich! Ich bilde es mir nur so ein ... Ich bin nie hier gewesen. Vielleicht daß ich im Traum ...«
»Bravo, Fürst!« rief Ferdyschtschenko. »Nein, ich nehme mein se non è vero zurück. Übrigens ... übrigens sagt er das ja alles in reiner Unschuld!« fügte er bedauernd hinzu.
Der Fürst hatte jene wenigen Sätze mit unruhiger Stimme gesprochen, mehrfach stockend und häufig dazwischen Atem holend. Sein ganzes Wesen bekundete eine hochgradige Erregung. Nastasja Filippowna blickte ihn neugierig an, lachte aber nicht mehr. In diesem Augenblick ertönte plötzlich hinter der Gruppe, die dicht geschart um den Fürsten und Nastasja Filippowna herumstand, eine neue, kräftige Stimme, schob sozusagen die Gruppe in zwei Hälften auseinander und schuf in ihr eine Gasse. Vor Nastasja Filippowna stand das Oberhaupt der Familie selbst, General Iwolgin. Er hatte den Frack und ein reines Vorhemd angelegt und sich den Schnurrbart frisch gefärbt.
Das war mehr, als Ganja ertragen konnte.
Selbstsüchtig und eitel bis zur Nervosität, bis zur Hysterie, hatte er diese ganzen zwei Monate lang nach Mitteln gesucht, sich ein anständigeres, vornehmeres Air zu geben. Er fühlte, daß er auf dem erwählten Weg noch ein Neuling sei und vielleicht nicht imstande sein werde, ihn dauernd einzuhalten. In seiner Verzweiflung war er schließlich dazu gelangt, zu Hause, wo er der reine Despot war, sich ganz brutal zu benehmen, wagte dies aber nicht in Gegenwart Nastasja Filippownas zu tun, die ihn bis zu diesem Augenblick immer in Verwirrung gesetzt und ihn erbarmungslos tyrannisiert hatte. Einen »ungeduldigen Bettler« hatte sie selbst ihn genannt, eine Bezeichnung, die ihm hinterbracht worden war, und er hatte sich heilig zugeschworen, ihr das alles später einmal heimzuzahlen, obwohl er gleichzeitig manchmal in kindlicher Weise davon geträumt hatte, alles in gute Ordnung zu bringen und alle Gegensätze zu versöhnen. So stand die Sache, und nun mußte er jetzt noch diesen schrecklichen Becher leeren, und noch dazu gerade in einem solchen Augenblick! Eine unvorhergesehene, aber für einen eitlen Menschen ganz besonders furchtbare Folter sollte er erdulden: die Qual, für seine Angehörigen bei sich zu Hause erröten zu müssen!
In diesem Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf: ist denn schließlich der in Aussicht stehende Preis all diese Mühe und all diese Schmerzen wert?
Jetzt vollzog sich dasjenige, was ihm während dieser zwei Monate nur nachts in beängstigenden Träumen vor das geistige Auge getreten war und ihn mit eisigem Schreck, mit glühender Scham erfüllt hatte: es fand endlich im Familienkreis ein Zusammentreffen zwischen seinem Vater und Nastasja Filippowna statt. Er hatte manchmal in spöttischer Selbstverhöhnung versucht, es sich auszumalen, was für eine Figur der General bei der Trauung machen werde, hatte aber nie vermocht, sich das qualvolle Bild vollständig zu vergegenwärtigen, sondern es immer rasch wieder beiseite geschoben. Vielleicht machte er sich von dem ihm erwachsenden Schaden maßlos übertriebene Vorstellungen; aber so geht es eitlen Menschen stets. In diesen zwei Monaten hatte er sich die Sache überlegt, seinen Entschluß gefaßt und sich fest vorgenommen, seinen Vater um jeden Preis irgendwie aus dem Weg zu schaffen, wenn auch nur auf einige Zeit, und ihn womöglich sogar aus Petersburg verschwinden zu lassen, mochte nun die Mutter damit einverstanden sein oder nicht. Als vor zehn Minuten Nastasja Filippowna eingetreten war, hatte ihn das dermaßen überrascht und betäubt, daß er an die Möglichkeit des Erscheinens seines Vaters auf der Bildfläche mir keinem Gedanken gedacht und keinerlei Anordnungen in dieser Hinsicht getroffen hatte. Und nun stand der General auf einmal da, vor aller Augen, und noch dazu in feierlicher Toilette, im Frack, und gerade zu einer Zeit, wo Nastasja Filippowna nur eine Gelegenheit suchte, um ihn und seine Angehörigen mit ihrem Spott zu überschütten. Denn daß dies ihre Absicht war, davon war er überzeugt. Und in der Tat, welche andere Bedeutung hätte ihr jetziger Besuch haben können? War sie gekommen, um mit seiner Mutter und mit seiner Schwester Freundschaft zu schließen, oder um sie in seinem eigenen Hause zu beleidigen? Aber nach der Haltung, welche beide Parteien eingenommen hatten, war kein Zweifel mehr möglich: seine Mutter und seine Schwester saßen abseits wie entehrt, und Nastasja Filippowna schien ganz vergessen zu haben, daß beide sich mit ihr in demselben Zimmer befanden ... Und wenn sie sich so benahm, so hatte sie sicherlich dabei ihre Absicht!
Ferdyschtschenko faßte den General bei der Hand und führte ihn näher heran.
»Ardalion Alexandrowitsch Iwolgin«, sagte der General würdevoll und verbeugte sich lächelnd, »ein alter unglücklicher Soldat, der Vater dieser Familie, die sich glücklich fühlt in der Hoffnung, ein so reizendes neues Mitglied in ihren Schoß ...«
Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen; Ferdyschtschenko schob ihm schnell von hinten einen Stuhl hin, und der General, der um diese Nachmittagsstunde etwas unsicher auf den Beinen war, setzte sich oder fiel vielmehr mit dumpfem Geräusch auf den Stuhl nieder, was ihn übrigens nicht weiter verlegen machte. Er saß Nastasja Filippowna gerade gegenüber und führte mit einer anmutigen Gebärde ihre feinen Finger langsam und effektvoll an seine Lippen. Überhaupt war es recht schwer, den General in Verlegenheit zu setzen. Sein Äußeres war, von einer gewissen Nachlässigkeit abgesehen, immer noch ziemlich anständig, was er selbst recht wohl wußte. Er hatte früher Gelegenheit gehabt, in sehr guter Gesellschaft zu verkehren, aus der er erst vor zwei, drei Jahren endgültig ausgeschlossen worden war. Seitdem hatte er sich allerdings widerstandslos seinen Schwächen hingegeben; aber seine gewandten, angenehmen Manieren hatte er sich immer noch bewahrt. Nastasja Filippowna schien über das Erscheinen Ardalion Alexandrowitschs, über den sie natürlich schon manches gehört hatte, außerordentlich erfreut zu sein.
»Ich habe gehört, daß mein Sohn ...«, begann der General.
»Ja, Ihr Sohn! Aber Sie sind mir auch nett, Papachen! Warum lassen Sie sich nie bei mir sehen? Verstecken Sie sich selbst, oder versteckt Sie Ihr Sohn? Sie wenigstens können doch zu mir kommen, ohne jemanden zu kompromittieren.«
»Die Kinder des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Väter ...«, fing der General wieder an.
»Nastasja Filippowna«, sagte Nina Alexandrowna laut, »lassen Sie doch, bitte, meinen Mann für einen Augenblick fortgehen; es fragt jemand nach ihm.«
»Fortgehen lassen? Aber ich bitte Sie, ich habe so viel von ihm gehört und schon so lange gewünscht, ihn persönlich kennenzulernen! Und was kann er denn zu tun haben? Er befindet sich ja doch im Ruhestand? Sie werden mich doch nicht verlassen, General, werden doch nicht fortgehen?«
»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß er Ihnen bald einen Besuch machen wird; aber jetzt bedarf er dringend der Ruhe.«
»Ardalion Alexandrowitsch, es wird behauptet, Sie bedürften dringend der Ruhe!« rief Nastasja Filippowna mit unzufriedener, schmollender Miene, wie ein launisches kleines Mädchen, dem man sein Spielzeug wegnimmt.
Der General benutzte die Gelegenheit, sich noch weiter närrisch zu gebärden.
»Liebe Frau, liebe Frau«, sagte er vorwurfsvoll, indem er sich würdevoll zu ihr hinwandte und die Hand aufs Herz legte.
»Wollen Sie nicht hinausgehen, Mama?« fragte Warja laut.
»Nein, Warja, ich will bis zu Ende hierbleiben.«
Nastasja Filippowna mußte die Frage und die Antwort gehört haben; aber ihre Heiterkeit schien dadurch nur noch vergrößert zu werden. Sie überschüttete den General sofort wieder mit Fragen, und fünf Minuten darauf befand sich dieser in höchst gehobener Stimmung und erging sich unter dem lauten Gelächter der Anwesenden in längeren Tiraden.
Kolja zupfte den Fürsten am Rockschoß.
»Führen Sie ihn doch weg! Das darf nicht so weitergehen! Tun Sie uns doch den Gefallen!« Dem armen Jungen funkelten Tränen der Entrüstung in den Augen. »Oh, der nichtswürdige Ganja!« fügte er für sich hinzu.
»Mit Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war ich tatsächlich eng befreundet«, erwiderte der General redselig auf Nastasja Filippownas Fragen. »Ich, er und der verstorbene Fürst Nikolai Lwowitsch Myschkin, dessen Sohn ich heute nach einer zwanzigjährigen Trennung wieder umarmt habe, wir waren drei unzertrennliche Kameraden, sozusagen eine Kavalkade wie Atos, Portos und Aramis. Aber leider liegt der eine von uns im Grab, von Verleumdungen und von einer Kugel zu Tode getroffen, und der zweite, der hier vor Ihnen sitzt, hat noch immer mit Verleumdungen und Kugeln zu kämpfen ...«
»Mit Kugeln?« rief Nastasja Filippowna aus.
»Sie sitzen hier, in meiner Brust; ich habe sie vor Kars erhalten, und bei schlechter Witterung spüre ich sie. In allen anderen Beziehungen lebe ich wie ein Philosoph, gehe spazieren, spiele in meinem Café Dame wie ein Bourgeois, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat, und lese die ›Indépendance‹. Aber mit unserem Portos, dem General Jepantschin, bin ich infolge einer Geschichte, die sich vor zwei Jahren mit einem Bologneserhündchen zutrug, völlig auseinandergekommen.«
»Mit einem Bologneserhündchen! Wie hängt denn das zusammen?« fragte Nastasja Filippowna äußerst neugierig. »Mit einem Bologneserhündchen? Erlauben Sie, und auf der Eisenbahn ...!« Sie schien etwas in ihrem Gedächtnis zu suchen.
»Oh, es ist eine dumme Geschichte, die nicht verdient, daß man sie noch einmal erzählt. Es handelt sich dabei um eine Mrs. Smith, eine Gouvernante der Fürstin Bjelokonskaja; aber ... es lohnt nicht der Mühe, es zu erzählen.«
»Aber unbedingt müssen Sie es erzählen!« rief Nastasja Filippowna lustig.
»Auch ich habe diese Geschichte noch nicht gehört«, bemerkte Ferdyschtschenko. »C'est du nouveau.«
»Ardalion Alexandrowitsch!« rief Nina Alexandrowna wieder in flehendem Ton.
»Papa, es fragt jemand nach Ihnen«, sagte Kolja.
»Es ist eine dumme Geschichte, und sie läßt sich in wenigen Worten erzählen«, begann der General sehr selbstzufrieden. »Vor zwei Jahren, ja, vor noch nicht ganz zwei Jahren, die Eröffnung der neuen ... skischen Eisenbahn hatte soeben stattgefunden, mußte ich in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit (es handelte sich um den Austritt aus meiner dienstlichen Stellung) eine Reise machen; ich war schon in Zivil und nahm mir ein Billett erster Klasse. Ich stieg ein, setzte mich hin und rauchte. Das heißt, ich fuhr fort zu rauchen; angesteckt hatte ich mir die Zigarre schon vorher. Ich war in dem Abteil ganz allein. Das Rauchen ist nicht verboten, aber auch nicht erlaubt, es ist so halb erlaubt und geschieht üblicherweise; na, und es kommt auch auf die Person des Betreffenden an. Das Fenster war heruntergelassen. Plötzlich, kurz bevor die Lokomotive pfiff, stiegen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen ein und setzten sich mir gerade gegenüber; sie hatten sich verspätet; die eine war höchst elegant gekleidet, in Hellblau; die andere bescheidener, in einem schwarzseidenen Kleid mit einer Pelerine. Sie waren beide hübsch, machten aber hochmütige Gesichter und sprachen Englisch. Ich kümmerte mich natürlich nicht um sie und rauchte weiter. Das heißt, ich dachte schon daran, aufzuhören; aber da das Fenster offen war, so rauchte ich weiter, zum Fenster hinaus. Das Bologneserhündchen lag ruhig auf dem Schoß der hellblauen Dame; es war ein kleines Tier, so groß wie eine Faust, schwarz, mit weißen Pfoten, geradezu eine Seltenheit; es hatte ein silbernes Halsband mit einer Inschrift darauf. Ich kümmerte mich um nichts, merkte aber, daß die Damen sich ärgerten, offenbar über meine Zigarre. Die eine starrte mich durch ihre schildpattne Lorgnette an. Ich blieb dabei, mich nicht um sie zu kümmern; denn sie sagten ja kein Wort zu mir! Sie hätten doch reden, mich ersuchen, mich bitten können; wozu hat der Mensch denn schließlich seine Zunge? Aber nein, sie schwiegen ... Auf einmal (und zwar, wie ich Ihnen sage, ohne die geringste, das heißt ohne die allergeringste vorhergehende Bemerkung, ganz wie wenn sie von Sinnen gekommen wäre) reißt mir die Hellblaue die Zigarre aus der Hand und wirft sie aus dem Fenster. Der Zug sauste dahin; ich wußte gar nicht, wie mir geschehen war. Das mußte ein tolles Frauenzimmer sein, ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte; im übrigen war es ein stattliches Weib, üppig, hochgewachsen, blond, mit roten (fast zu roten) Backen, und ihre Augen funkelten mich nur so an. Ohne ein Wort zu sagen, nähere ich mich mit der größten Höflichkeit, mit der vollendetsten Höflichkeit, sozusagen mit der raffiniertesten Höflichkeit dem Bologneserhündchen, fasse es ganz behutsam mit zwei Fingern am Genick und werfe es der Zigarre nach aus dem Fenster! Es winselte nur ein wenig! Der Zug sauste weiter.«
»Sie sind ein Unmensch!« rief Nastasja Filippowna lachend und klatschte wie ein kleines Mädchen in die Hände.
»Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko.
Auch Ptizyn, dem das Erscheinen des Generals gleichfalls sehr unangenehm gewesen war, lächelte; sogar Kolja lachte und rief ebenfalls: »Bravo!«
»Und ich war im Recht, ich war im Recht, durchaus im Recht!« fuhr der triumphierende General eifrig fort. »Denn wenn das Rauchen auf der Bahn verboten ist, so ist das Mitnehmen von Hunden noch weit mehr verboten.«
»Bravo, Papa!« rief Kolja ganz entzückt. »Großartig! Ich hätte es unbedingt ebenso gemacht, unbedingt!«
»Aber was tat denn nun die Dame?« fragte Nastasja Filippowna ungeduldig.
»Die? Ja, das ist nun eben das Unangenehme bei der Geschichte«, fuhr der General stirnrunzelnd fort. »Ohne ein Wort zu sagen, ohne vorher auch nur die geringste Andeutung zu machen, versetzte sie mir eine Ohrfeige! Ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte!«
»Und Sie?«
Der General schlug die Augen nieder, zog die Augenbrauen und die Schultern in die Höhe, preßte die Lippen zusammen, breitete die Arme auseinander, schwieg ein Weilchen und sagte dann:
»Ich ließ mich hinreißen!«
»Haben Sie ihr weh getan? Ja?«
»Weiß Gott, weh getan habe ich ihr eigentlich nicht! Es hat viel häßliches Gerede gegeben; aber weh habe ich ihr eigentlich nicht getan. Ich habe nur eine einzige abwehrende Handbewegung gemacht, lediglich um sie mir vom Leibe zu halten. Aber da hatte nun der Teufel selbst sein Spiel: Es stellte sich heraus, daß die Hellblaue eine Engländerin war, eine Gouvernante oder sogar Hausfreundin der Fürstin Bjelokonskaja; und die im schwarzen Kleid, das war die älteste Komtesse Bjelokonskaja, eine alte Jungfer von etwa fünfunddreißig Jahren. Nun ist allgemein bekannt, in wie nahen Beziehungen die Generalin Jepantschina zu dem Bjelokonskischen Hause steht. Alle Komtessen fielen in Ohnmacht, weinten, legten Trauer um das Lieblingshündchen an; die sechs Komtessen winselten, die Engländerin winselte; es war, als sollte die Welt untergehen! Na, natürlich fuhr ich als reuiger Sünder hin, schrieb einen Brief, bat um Verzeihung; aber weder ich wurde angenommen noch mein Brief. Und mit Jepantschin bekam ich infolgedessen Streit; er kündigte mir die Freundschaft, und aller Verkehr zwischen uns hörte auf.«
»Aber erlauben Sie, wie geht denn das zu?« fragte Nastasja Filippowna plötzlich; »vor fünf oder sechs Tagen habe ich in der ›Indépendance‹ (ich lese die ›Indépendance‹ ständig) genau dieselbe Geschichte gelesen. Aber vollständig dieselbe! Der betreffende Vorfall spielte sich auf einer rheinischen Bahn in einem Waggon zwischen einem Franzosen und einer Engländerin ab; es wurde ganz ebenso jemandem die Zigarre aus der Hand gerissen und ganz ebenso ein Bologneserhündchen aus dem Fenster geworfen; auch endete die Geschichte ganz ebenso wie bei Ihnen. Selbst das hellblaue Kleid stimmt!«
Der General wurde sehr rot; auch Kolja errötete und preßte sich den Kopf mit den Händen zusammen; Ptizyn wendete sich schnell ab. Nur Ferdyschtschenko lachte wie vorher. Von Ganja brauchte man weiter nicht zu reden: er stand die ganze Zeit über da und machte stumme, unerträgliche Qualen durch.
»Ich kann Ihnen versichern«, murmelte der General, »daß auch mir ganz dasselbe begegnet ist ...«
»Papa hat wirklich Unannehmlichkeiten mit Mrs. Smith, der Gouvernante bei Bjelokonskis, gehabt«, rief Kolja. »Daran erinnere ich mich.«
»Wie! Genau ebenso? Ein und dieselbe Geschichte sollte sich an zwei weit auseinanderliegenden Stellen Europas zugetragen haben, genau übereinstimmend in allen Einzelheiten, mit Einschluß des hellblauen Kleides?« sagte Nastasja Filippowna, unbarmherzig bei diesem Gegenstand beharrend. »Ich werde Ihnen die ›Indépendance Belge‹ zuschicken!«
»Aber beachten Sie wohl«, erwiderte der General, der sich immer noch standhaft verteidigte, »daß es mir zwei Jahre früher passiert ist.«
»Ja, das ist entscheidend!«
Nastasja Filippowna lachte so, daß sie gar nicht wieder aufhören konnte.
»Papa, ich bitte Sie, auf ein paar Worte mit mir hinauszukommen«, sagte Ganja mit zitternder Stimme, der man seine Seelenqual anhörte, und faßte den Vater mechanisch an der Schulter.
Ein grenzenloser Haß loderte in seinem Blick.
In diesem Augenblick ertönte außerordentlich laut die Klingel im Vorzimmer. Bei so gewaltsamem Läuten konnte die Klingel abreißen. Man konnte sich auf einen ungewöhnlichen Besuch gefaßt machen. Kolja lief hin, um zu öffnen.
Im Vorzimmer wurde es plötzlich sehr geräuschvoll und lebendig. Vom Salon aus schien es, daß von draußen mehrere Menschen hereingekommen seien und ihnen immer noch andere folgten. Mehrere Stimmen redeten und schrien zugleich; auch auf der Treppe wurde geredet und geschrien; denn die Tür, die vom Vorzimmer dorthin führte, war, wie man hören konnte, nicht wieder geschlossen worden. Es war offenbar ein höchst sonderbarer Besuch. Alle sahen einander an; Ganja eilte nach dem Wohnzimmer; aber auch in das Wohnzimmer drangen schon mehrere Menschen ein.
»Ah, da ist er ja, der Judas!« rief eine Stimme, die dem Fürsten bekannt vorkam. »Guten Tag, Ganja, du Schuft!«
»Ja, das ist er in eigener Person!« bestätigte eine andere Stimme.
Der Fürst konnte nicht daran zweifeln: die eine Stimme war die Rogoschins, die andere die Lebedjews.
Ganja stand wie vor den Kopf geschlagen auf der Schwelle des Salons und sah schweigend und ohne es zu hindern zu, wie hinter Parfen Rogoschin her zehn oder zwölf Menschen einer nach dem andern in das Wohnzimmer eintraten. Die Gesellschaft war sehr buntscheckig und zeichnete sich nicht nur durch ihre Buntscheckigkeit, sondern auch durch ihr seltsames Benehmen aus.
Einige traten so ein, wie sie von der Straße kamen, im Überzieher und Pelz. Ganz betrunken waren diese Leute übrigens nicht; jedoch machten sie sämtlich den Eindruck, daß sie stark angeheitert seien. Sie schienen alle einer des andern zu bedürfen, um den Mut zum Eintritt zu finden; jeder einzelne hätte nicht Kühnheit genug besessen, aber alle schoben sich sozusagen wechselseitig vorwärts. Selbst Rogoschin schritt nur mit großer Vorsicht an der Spitze dieses Trupps einher; aber er hatte augenscheinlich irgendwelche Absicht und schien traurig, gereizt und sorgenvoll zu sein. Die übrigen bildeten nur den Chor oder, besser gesagt, eine Hilfstruppe. Außer Lebedjew war da auch der schön frisierte Saloschew, der seinen Pelz im Vorzimmer abgelegt hatte und nun in gewandter, stutzerhafter Art eintrat, und zwei oder drei Herren von ähnlicher Art wie er, offenbar aus dem Kaufmannsstand; ferner einer in einem halbmilitärischen Paletot; dann ein kleiner, sehr dicker Mensch, der beständig lachte; ein Herr von gewaltiger Körpergröße, der gleichfalls ungewöhnlich dick war, sehr finster aussah, sich schweigsam verhielt und offenbar große Hoffnungen auf seine Fäuste setzte. Auch ein Studiosus medicinae war da und ein scharwenzelnder Pole. Von der Treppe her blickten noch zwei undefinierbare Damen ins Vorzimmer herein, wagten aber nicht einzutreten; Kolja schlug ihnen die Tür vor der Nase zu und sicherte sie durch Vorlegung des Hakens.
»Guten Tag, Ganja, du Schuft! Na? Parfen Rogoschins Besuch hast du wohl nicht erwartet?« wiederholte Rogoschin, indem er nach dem Salon zu ging und in der Tür vor Ganja stehenblieb.
Aber in diesem Augenblick wurde er plötzlich im Salon, sich gerade gegenüber, Nastasja Filippownas ansichtig. Es schien, daß er es sich nicht hatte träumen lassen, sie hier zu treffen; denn ihr Anblick übte auf ihn eine außerordentliche Wirkung aus: er wurde so blaß, daß sogar seine Lippen eine bläuliche Färbung annahmen.
»Also ist es wahr!« sagte er mit ganz verstörtem Gesicht leise vor sich hin. »Nun ist alles zu Ende ...! Aber ... das sollst du mir jetzt büßen!« fügte er zähneknirschend hinzu und blickte Ganja mit maßloser Wut an. »Oh ... ach ...!«
Er konnte kaum Luft holen und redete nur mühsam. Mechanisch trat er in den Salon hinein; aber als er die Schwelle überschritt, erblickte er plötzlich Nina Alexandrowna und Warja und blieb, trotz all seiner Aufregung einigermaßen verlegen, stehen. Hinter ihm kam Lebedjew, der ihn wie sein Schatten begleitete und schon stark betrunken war, dann der Student, der Herr mit den Fäusten, Saloschew, der sich nach rechts und nach links verbeugte, und endlich drängte sich noch der kleine Dicke durch.
Die Anwesenheit der Damen hielt sie alle noch ein wenig im Zaum und war ihnen offenbar recht störend, natürlich nur bis es »losging«, bis sich der erste Anlaß bot, ein Geschrei zu erheben und »loszulegen« ... Dann war nicht zu erwarten, daß sie sich von irgendwelchen Damen würden hindern lassen.
»Was? Du auch hier, Fürst?« sagte Rogoschin zerstreut; er war etwas verwundert, den Fürsten hier zu treffen. »Immer noch in Gamaschen ...! Ach!« seufzte er; er hatte den Fürsten bereits vergessen, richtete seine Blicke wieder auf Nastasja Filippowna und rückte ihr, wie von einem Magnet angezogen, immer näher.
Nastasja Filippowna betrachtete die Ankömmlinge ebenfalls mit unruhiger Neugierde.
Endlich faßte sich Ganja.
»Aber erlauben Sie, was soll denn das eigentlich vorstellen?« sagte er mit lauter Stimme, indem er die Eingetretenen mit strengem Blick ansah und sich vorzugsweise an Rogoschin wandte. »Sie sind hier doch nicht in einen Pferdestall hereingekommen, meine Herren; hier befinden sich meine Mutter und meine Schwester.«
»Das sehen wir, daß deine Mutter und deine Schwester da sind«, preßte Rogoschin zwischen den Zähnen hervor.
»Daß die Mutter und die Schwester da sind, das sieht man«, pflichtete ihm Lebedjew bei, um sich ein Ansehen zu geben. Der Herr mit den Fäusten, der wohl annahm, daß jetzt der richtige Augenblick gekommen sei, fing an, etwas zu brummen.
»Aber das ist doch unerhört!« rief Ganja erregt und überlaut. »Erstens ersuche ich Sie alle, dieses Zimmer zu verlassen und in das Wohnzimmer zu gehen, und dann seien Sie so freundlich, sich vorzustellen ...«
»Nun sieh einer an! Er kennt mich nicht!« erwiderte Rogoschin mit boshaftem Lächeln, ohne sich vom Fleck zu rühren. »Kennst du Rogoschin nicht mehr?«
»Ich bin allerdings schon irgendwo mit Ihnen zusammengetroffen, aber ...«
»Sieh mal an! Irgendwo zusammengetroffen! Ich habe ja erst vor drei Monaten zweihundert Rubel, die meinem Vater gehörten, an dich verspielt, und der Alte ist gestorben, ehe er es erfahren hat; du hast mich hingeschleppt, und Knif hat mich gerupft. Und da kennst du mich nicht? Ptizyn kann es bezeugen! Aber wenn ich jetzt drei Rubel aus der Tasche ziehe und dir zeige, dann kriechst du hinter ihnen her auf allen vieren bis zur Wasili-Insel. So ein Subjekt bist du! So einen Charakter hast du! Ich bin auch jetzt hierher gekommen, um dich für Geld zu kaufen. Kümmere dich nicht darum, daß ich in solchen Stiefeln hereingekommen bin; ich habe Geld, lieber Freund, viel Geld, und werde dich und alles, was drum und dran ist, kaufen ... Wenn ich will, kaufe ich euch alle! Alles kaufe ich!« Er war immer hitziger geworden und schien immer mehr in die Berauschtheit hineinzugeraten. »Ach, ach!« schrie er. »Nastasja Filippowna! Jagen Sie mich nicht fort! Sagen Sie nur ein einziges Wörtchen: werden Sie ihn heiraten oder nicht?«
Rogoschin hatte diese Frage gestellt, wie wenn er ganz wirr im Kopf wäre und wie wenn er sich an eine Gottheit wendete, aber mit der Kühnheit eines zum Tode Verurteilten, der nichts mehr zu verlieren hat. In Todesangst wartete er auf die Antwort.
Nastasja Filippowna maß ihn mit einem spöttischen, hochmütigen Blick; aber dann sah sie nach Warja und nach Nina Alexandrowna hin, betrachtete prüfend Ganja und veränderte plötzlich ihren Ton.
»Nein, keineswegs; was haben Sie denn? Und mit welchem Recht stellen Sie mir diese Frage?« antwortete sie leise und ernst und, wie es schien, etwas erstaunt.
»Nein? Nein?« schrie Rogoschin, vor Freude ganz außer sich. »Also nicht? Und die Leute hatten es mir gesagt ...! Ach! Oh ...! Nastasja Filippowna! Die Leute sagen, Sie hätten sich mit Ganja verlobt! Mit diesem Menschen? Ist das denn überhaupt möglich? Ich habe zu allen Leuten gesagt, daß das nicht möglich ist. Ich kaufe ja den ganzen Patron für hundert Rubel, und wenn ich ihm tausend Rubel, na, oder auch dreitausend Rubel dafür gebe, daß er zurücktritt, so wird er am Tag vor der Hochzeit davonlaufen und mir seine Braut ganz überlassen. Ja, ja, so ist es, Ganja, du Schuft! Du würdest gewiß die dreitausend nehmen! Da sind sie, da! Eben deswegen bin ich ja hergekommen, um mir von dir einen solchen schriftlichen Verzicht ausstellen zu lassen. Ich habe gesagt: ›Ich will ihn kaufen!‹, und das will ich denn auch tun!«
»Scher dich weg von hier; du bist ja betrunken!« schrie Ganja, der abwechselnd rot und blaß wurde.
Sowie diese Aufforderung verklungen war, ließen sich plötzlich mehrere heftige Stimmen vernehmen; Rogoschins ganzer Trupp hatte schon lange auf die erste Herausforderung gewartet. Lebedjew flüsterte Rogoschin etwas mit besonderem Eifer ins Ohr.
»Da hast du recht, du Bureaumensch!« antwortete Rogoschin. »Da hast du recht, du Trunkenbold! Ach, wir wollen's wagen! Nastasja Filippowna!« rief er, blickte wie ein Halbirrer rings um sich, wurde ängstlich und ging dann auf einmal wieder zu kühner Dreistigkeit über. »Da sind achtzehntausend Rubel!« Und er warf ein in weißes Papier eingewickeltes, kreuzweise zugebundenes Päckchen vor ihr auf das Tischchen. »Da! Und ... es kommt noch mehr!«
Er wagte nicht zu Ende zu sprechen und zu sagen, was er eigentlich wünschte ...
»Nein, nein, nein!« flüsterte ihm von neuem Lebedjew mit ganz erschrockenem Gesicht zu.
Man konnte merken, daß er über die Höhe der Summe erschrocken war und vorgeschlagen hatte, es mit einer beträchtlich geringeren zu versuchen.
»Nein, nein, darin bist du nun schon ein Dummkopf, lieber Freund; du weißt nicht, wen wir vor uns haben ... und offenbar bin ich ebenso ein Dummkopf wie du!« Dies letztere fügte Rogoschin hinzu, da er unter Nastasja Filippownas funkelndem Blick zur Besinnung kam und zusammenfuhr. »Ach, ach! Ich habe Unsinn geredet, weil ich auf dich hörte«, fuhr er in tiefer Reue fort.
Als Nastasja sein bestürztes Gesicht sah, lachte sie laut auf. »Achtzehntausend Rubel bietet er mir? Da sieht man doch gleich den Plebejer!« fügte sie ungeniert und dreist hinzu und stand vom Sofa auf, als ob sie aufzubrechen beabsichtigte.
Ganja beobachtete diese ganze Szene mit fast versagendem Herzschlag.
»Also vierzigtausend, vierzig, nicht achtzehn!« schrie Rogoschin. »Iwan Ptizyn und Biskup haben versprochen, bis sieben Uhr die vierzigtausend heranzuschaffen. Vierzigtausend! Bar auf den Tisch!«
Die Szene wurde sehr widerwärtig; aber Nastasja Filippowna lachte, statt wegzugehen, immer weiter, als ob sie sie absichtlich verlängern wollte. Nina Alexandrowna und Warja erhoben sich gleichfalls von ihren Plätzen und warteten erschrocken und schweigend, was das für einen Ausgang nehmen werde. Warjas Augen funkelten; aber auf Nina Alexandrowna übte all dies physisch eine sehr üble Wirkung aus: sie zitterte und drohte im nächsten Augenblick in Ohnmacht zu fallen.
»Nun, wenn's nicht anders ist, dann hundert! Noch heute übergebe ich Ihnen hunderttausend Rubel! Ptizyn, sei mir behilflich; du machst dabei einen guten Profit!«
»Du bist verrückt geworden!« flüsterte im Ptizyn zu, der rasch zu ihm herantrat und ihn am Arm faßte. »Du bist betrunken; es wird nach der Polizei geschickt werden müssen. Wo glaubst du denn zu sein?«
»Er ist betrunken und renommiert«, sagte Nastasja Filippowna, wie um ihn zu reizen.
»Ich renommiere nicht; das Geld wird da sein, zum Abend wird es da sein ... Ptizyn, sei mir behilflich, du alter Wucherer; nimm dafür, soviel du willst; aber beschaffe mir zum Abend hunderttausend Rubel; ich will doch zeigen, daß ich nicht kneife!« rief Rogoschin verzückt und enthusiastisch.
»Aber was soll denn das eigentlich vorstellen?« rief Ardalion Alexandrowitsch auf einmal in zornigem, drohendem Ton und ging auf Rogoschin zu.
Die Plötzlichkeit, mit der sich der bisher so schweigsame Alte einmischte, hatte etwas sehr Komisches, und man hörte auch wirklich lautes Lachen.
»Wo kommt denn der her?« fragte Rogoschin lachend. »Komm mit uns, Alter; da sollst du dich mal toll und voll saufen!«
»Aber das ist ja eine Gemeinheit!« rief Kolja, der vor Scham und Ärger geradezu weinte.
»Ist denn kein Einziger unter euch, der es unternimmt, dieses schamlose Weib hinauszuschaffen?« rief plötzlich, zitternd vor Zorn, Warja.
»Also mich nennt man ein schamloses Weib!« entgegnete Nastasja Filippowna mit verächtlicher Heiterkeit. »Und ich, dumm wie ich bin, komme hierher, um die beiden Damen auf den Abend zu mir einzuladen! Sehen Sie, Gawrila Ardalionowitsch, wie mich Ihr Schwesterchen behandelt!«
Ein Weilchen stand Ganja infolge der heftigen Worte seiner Schwester wie vom Blitz getroffen da; aber als er sah, daß Nastasja Filippowna sich diesmal wirklich zum Fortgehen anschickte, stürzte er wie ein Rasender auf Warja zu und packte sie wütend bei der Hand.
»Was hast du getan?« schrie er und sah sie an, als ob er sie auf dem Fleck zu Asche verbrennen wollte.
Er hatte vollständig die Fassung verloren, und sein Verstand funktionierte nur mangelhaft.
»Was ich getan habe? Wohin zerrst du mich? Du verlangst doch nicht etwa, daß ich sie um Verzeihung dafür bitten soll, daß sie deine Mutter beleidigt hat und hergekommen ist, um dein Haus zu beschimpfen, du gemeiner Mensch?« rief Warja wieder und blickte ihren Bruder triumphierend und herausfordernd an.
Ein paar Sekunden lang standen sie einander so gegenüber, Gesicht gegen Gesicht. Ganja hielt immer noch ihre Hand mit der seinigen gefaßt. Warja suchte sich einmal und noch einmal mit aller Gewalt loszureißen, vermochte es aber nicht und spie plötzlich, ganz außer sich, dem Bruder ins Gesicht.
»Ist das ein Mädchen!« rief Nastasja Filippowna. »Bravo, Ptizyn, ich gratuliere Ihnen!«
Dem so beleidigten Ganja wurde es trübe vor den Augen; er verlor völlig die Herrschaft über sich und holte mit aller Kraft gegen seine Schwester aus. Der Schlag hätte sie sicherlich gerade ins Gesicht getroffen. Aber plötzlich wurde Ganjas Hand durch eine andere im Schwung festgehalten.
Zwischen ihm und seiner Schwester stand der Fürst.
»Hören Sie auf, es ist genug!« sagte er nachdrücklich, aber am ganzen Leibe wie von einer sehr heftigen Erschütterung zitternd.
»Wirst du mir denn immer im Weg sein?« brüllte Ganja, ließ Warjas Hand los und versetzte in sinnloser Wut mit der freigewordenen Hand dem Fürsten aus aller Kraft eine Ohrfeige.
»Oh, oh!« schrie Kolja und schlug die Hände zusammen. »Ach mein Gott!«
Von allen Seiten erschollen Ausrufe. Der Fürst war ganz blaß geworden. Mit einem eigenartigen, vorwurfsvollen Blick sah er Ganja gerade in die Augen; seine Lippen zitterten und strengten sich an, etwas zu sagen; ein seltsames und ganz unmotiviertes Lächeln verzerrte sie.
»Nun, wenn mir das auch widerfährt ... aber sie ... sie lasse ich nicht schlagen!« sagte er endlich leise.
Aber seine Empfindungen wurden doch zu mächtig; er wandte sich von Ganja weg, verbarg das Gesicht in den Händen, ging in eine Ecke, stellte sich mit dem Gesicht gegen die Wand und sagte mit fast versagender Stimme: »Oh, wie werden Sie sich Ihres Benehmens schämen!«
Ganja stand in der Tat wie vernichtet da. Kolja stürzte auf den Fürsten zu, um ihn zu umarmen und zu küssen. Nach ihm drängten sich Rogoschin, Warja, Ptizyn, Nina Alexandrowna und alle andern heran, selbst der alte Ardalion Alexandrowitsch.
»Es hat nichts auf sich, es hat nichts auf sich!« murmelte der Fürst nach allen Seiten hin, immer noch mit demselben unmotivierten Lächeln.
»Und er wird es auch bereuen!« schrie Rogoschin. »Du wirst dich schämen, Ganja, daß du ein solches ... Schaf« (er konnte kein andres Wort finden) »beleidigt hast! Fürst, mein liebes Kerlchen, scher dich nicht um diese Bande; laß sie und komm mit mir! Da wirst du sehen, wie Rogoschin die Leute behandelt, die er gern hat.«
Auf Nastasja Filippowna hatten Ganjas Tat und die Antwort des Fürsten ebenfalls einen tiefen Eindruck gemacht. Ihr meist blasses, nachdenkliches Gesicht, das die ganze Zeit über mit dem bisherigen gekünstelten Lachen nicht hatte harmonieren wollen, war jetzt augenscheinlich von einem neuen Gefühl erregt; jedoch wollte sie's nicht zeigen, und der spöttische Ausdruck bemühte sich gleichsam, auf ihrem Gesicht zu verbleiben.
»Wirklich, ich habe dieses Gesicht schon irgendwo gesehen!« sagte sie dann ernst, indem sie sich an ihre frühere Frage wieder erinnerte.
»Und Sie schämen sich auch nicht! Ist denn das Ihr wahres Wesen, wie Sie sich jetzt geben? Wie wäre denn das möglich!« rief auf einmal der Fürst im Tone ernsten, starken Vorwurfs.
Nastasja Filippowna war erstaunt; sie lächelte, aber nur als ob sie etwas hinter dieser Miene zu verbergen suchte; dann richtete sie einen etwas verlegenen Blick auf Ganja und verließ den Salon. Aber sie war noch nicht zum Vorzimmer gelangt, als sie plötzlich umkehrte, schnell an Nina Alexandrowna herantrat, ihre Hand ergriff und an ihre Lippen führte.
»Ich bin ja wirklich nicht so; er hat es erraten«, flüsterte sie rasch und leidenschaftlich, und eine dunkle Röte übergoß auf einmal ihr ganzes Gesicht. Darauf kehrte sie um und ging diesmal so eilig hinaus, daß sich niemand in der Geschwindigkeit darüber klarwerden konnte, weshalb sie eigentlich zurückgekehrt war. Sie hatten nur gesehen, daß sie Nina Alexandrowna etwas zugeflüstert und ihr, wie es schien, die Hand geküßt hatte. Aber Warja hatte alles genau gesehen und gehört und verfolgte sie erstaunt mit den Augen.
Ganja kam zur Besinnung und stürzte zu Nastasja Filippowna hin, um sie hinauszubegleiten; aber sie war schon aus dem Zimmer. Er holte sie auf der Treppe ein.
»Begleiten Sie mich nicht weiter!« rief sie ihm zu. »Auf Wiedersehen heute abend! Ich erwarte Sie bestimmt; hören Sie wohl?«
Verwirrt und nachdenklich ging er zurück; ein schweres Rätsel lastete auf seiner Seele, mit noch schwererem Druck als bisher. Auch an den Fürsten mußte er denken ... Er war bis zu dem Grade in seine Gedanken vertieft, daß er kaum bemerkte, wie Rogoschins ganze Rotte, die hinter ihrem Anführer her eilig die Wohnung verließ, sich an ihm vorbeiwälzte und ihm in der Tür sogar ein paar Stöße versetzte. Alle redeten laut miteinander über irgend etwas. Rogoschin selbst ging mit Ptizyn und besprach mit ihm eifrig eine wichtige und anscheinend unaufschiebbare Sache.
»Du hast das Spiel verloren, Ganja!« rief er ihm im Vorbeigehen zu.
Ganja sah ihnen beunruhigt nach.
Der Fürst hatte den Salon verlassen und sich auf sein eigenes Zimmer begeben. Unmittelbar darauf kam Kolja zu ihm gelaufen, um ihn zu trösten. Der arme Junge schien sich jetzt gar nicht mehr von ihm losreißen zu können.
»Sie haben gut daran getan, daß Sie weggegangen sind«, sagte er. »Da wird jetzt der Wirrwarr noch ärger werden, als er bisher war; jeden Tag geht es bei uns so her, und all das hat uns diese Nastasja Filippowna eingebrockt.«
»Da bei euch hat sich viel Krankheitsstoff angesammelt, lieber Kolja!« bemerkte der Fürst.
»Jawohl, viel Krankheitsstoff! Aber wir dürfen uns nicht einmal darüber beklagen; wir sind selbst an allem schuld. Ich habe jedoch einen sehr guten Freund; der ist noch unglücklicher. Ist es Ihnen recht, daß ich Sie mit ihm bekannt mache?«
»Sehr recht ist es mir. Ist er Ihr Schulkamerad?«
»Ja, beinah mein Schulkamerad. Ich werde Ihnen das alles später erklären ... Aber schön ist Nastasja Filippowna; meinen Sie nicht auch? Ich hatte sie noch nie vorher gesehen, obwohl ich großes Verlangen danach hatte. Sie hat mich geradezu geblendet. Ich würde meinem Bruder alles verzeihen, wenn er sie aus Liebe nähme; aber daß er es um des Geldes willen tut, das ist häßlich!« »Ja, Ihr Bruder gefällt mir nicht sonderlich.«
»Na, wie wäre das auch möglich! Wie sollte er Ihnen gefallen, nachdem ... Wissen Sie, ich bin empört, daß die Leute über diese Dinge so verschiedener Meinung sind. Irgendein Irrsinniger oder ein Dummkopf oder ein Bösewicht gibt jemandem eine Ohrfeige, und da ist nun der Betreffende für sein ganzes Leben entehrt und kann die Schmach nur durch Blut abwaschen oder dadurch, daß der andre ihn auf den Knien um Verzeihung bittet. Nach meiner Ansicht ist das abgeschmackt, ein despotischer Zwang. Auf dieser Anschauung beruht Lermontows Drama ›Der Maskenball‹, meiner Ansicht nach ein dummes Stück. Das heißt, ich will sagen, ein unnatürliches Stück. Aber er war ja allerdings beinah noch ein Kind, als er es schrieb.«
»Sehr gut gefällt mir Ihre Schwester.«
»Wie sie Ganja ins Gesicht gespuckt hat! Ja, Warja ist tapfer! Aber Sie haben ihm nicht ins Gesicht gespuckt, und ich bin doch überzeugt, daß Sie es nicht aus Mangel an Mut unterlassen haben. Aber da ist sie selbst, der Wolf in der Fabel! Ich wußte, daß sie kommen würde; sie hat einen anständigen Charakter, wenn sie auch ihre Fehler besitzt.«
»Du hast hier nichts zu suchen!« fiel Warja zuerst über Kolja her. »Geh zum Vater! Belästigt er Sie, Fürst?«
»Durchaus nicht, im Gegenteil.«
»Na also, was redest du, verehrte ältere Schwester! Das ist gleich so eine häßliche Eigenschaft an ihr. Übrigens dachte ich, der Vater würde bestimmt mit Rogoschin weggehen. Wahrscheinlich bereut er jetzt schon, es nicht getan zu haben. Ich will mal zusehen, wie es mit ihm steht«, fügte Kolja hinzu und ging hinaus.
»Gott sei Dank, ich habe Mama fortgebracht und veranlaßt, sich ins Bett zu legen, und es ist nichts Weiteres vorgekommen. Ganja ist verlegen und sehr nachdenklich. Und er hat auch allen Grund dazu. Was hat er da für eine Lehre erhalten ...! Ich bin hergekommen, um Ihnen noch einmal zu danken, Fürst, und Sie zu fragen: hatten Sie Nastasja Filippowna vorher noch gar nicht gekannt?«
»Nein, noch gar nicht.«
»Wie kommen Sie dann dazu, ihr gerade ins Gesicht zu sagen, daß das nicht ihr wahres Wesen sei? Und Sie haben, wie es scheint, damit das Richtige getroffen. Sie ist vielleicht wirklich eine andere, als sie scheinen wollte. Übrigens werde ich nicht aus ihr klug. Sie beabsichtigte sicherlich, uns zu beleidigen; das ist klar. Ich habe auch früher schon manches Seltsame über sie gehört. Aber wenn sie hergekommen war, um uns einzuladen, wie konnte sie sich dann zuerst gegen Mama so benehmen? Ptizyn kennt sie ganz genau; aber er sagt, er habe ihr Verhalten vorhin auch nicht verstehen können. Und wie benahm sie sich gegen Rogoschin? So darf man doch nicht reden, wenn man irgendwelche Selbstachtung besitzt, noch dazu im Hause des eigenen ... Mama ist ebenfalls um Sie sehr beunruhigt.«
»Es hat nichts auf sich«, erwiderte der Fürst mit einer geringschätzigen Handbewegung.
»Und wie sie Ihnen gehorchte ...«
»Inwiefern gehorchte?«
»Sie sagten ihr, sie solle sich schämen, und darauf änderte sie sofort ihr ganzes Benehmen. Sie üben auf sie einen gewaltigen Einfluß aus, Fürst«, fügte Warja mit einem leisen Lächeln hinzu.
Die Tür öffnete sich, und ganz unerwartet trat Ganja ein.
Er wurde in seinem Entschluß nicht einmal wankend, als er Warja erblickte; nachdem er eine kleine Weile auf der Schwelle gestanden hatte, ging er entschlossen auf den Fürsten los.
»Fürst, ich habe mich unwürdig benommen; verzeihen Sie mir, liebster Freund!« sagte er mit wahrer Empfindung.
Seine Gesichtszüge drückten einen starken Schmerz aus. Der Fürst sah ihn erstaunt an und antwortete nicht sogleich.
»Nun, verzeihen Sie mir doch, verzeihen Sie mir doch!« drängte Ganja ungeduldig. »Wenn Sie es verlangen, küsse ich Ihnen sofort die Hand!«
Der Fürst war außerordentlich überrascht und umarmte Ganja schweigend. Beide küßten einander herzlich.
»Ich hätte nie, nie gedacht, daß Sie ein solcher Mensch sind«, sagte der Fürst endlich, nur mühsam Atem holend. »Ich meinte, Sie seien ... dessen nicht fähig.«
»Einer Bitte um Verzeihung ...? Wie bin ich nur heute dazu gekommen, Sie für einen Idioten zu halten! Sie bemerken vieles, was andere Menschen niemals beachten. Ich könnte mit Ihnen etwas besprechen; aber ... es ist doch wohl besser, wenn ich es nicht tue!«
»Da ist noch jemand, bei dem Sie sich entschuldigen sollten«, sagte der Fürst, auf Warja weisend.
»Nein, die sind nun einmal meine Feinde. Glauben Sie mir, Fürst, ich habe oft versucht, unser Verhältnis zu bessern; aber aufrichtige Verzeihung sucht man da vergebens!« rief Ganja heftig.
Er wandte sich von Warja ab, so daß er ihr die Seite zukehrte.
»Nicht doch, ich verzeihe dir«, sagte Warja plötzlich.
»Und wirst du heute abend zu Nastasja Filippowna kommen?«
»Wenn du es verlangst, werde ich hinkommen; aber überlege selbst, ob ich nach dem Vorgefallenen überhaupt eine Möglichkeit habe, dort zu erscheinen.«
»Sie ist ja doch nicht so, wie sie sich gab. Du siehst ja, sie will einem immer Rätsel aufgeben! Spiegelfechterei!«
Ganja lächelte boshaft.
»Ich weiß selbst, daß sie nicht so ist und daß sie Spiegelfechterei treibt; aber was für welche! Und dann bedenke noch eines, Ganja: wofür hält sie dich selbst? Mag auch vieles an ihrem Benehmen nur Spiegelfechterei sein, und mag sie auch Mama die Hand geküßt haben: aber sie hat sich doch über dich lustig gemacht! Das wird durch die fünfundsiebzigtausend Rubel nicht aufgewogen, Bruder, wahrhaftig nicht! Du bist noch anständiger Empfindungen fähig; darum sage ich dir das. Fahre du doch auch selbst nicht hin! Hüte dich vor ihr! Das kann nicht gut ausgehen!«
Nach diesen Worten verließ Warja schnell in großer Aufregung das Zimmer.
»So sind meine Mutter und meine Schwester immer!« sagte Ganja lächelnd. »Ob sie wirklich denken, daß ich das nicht auch selbst weiß? Ich weiß es sogar weit besser als sie.«
Als Ganja das gesagt hatte, setzte er sich auf das Sofa mit dem offensichtlichen Wunsch, seinen Besuch noch länger auszudehnen.
»Wenn Sie das selbst wissen«, fragte der Fürst recht schüchtern, »warum haben Sie sich dann zu einer solchen Marter entschlossen, von der Sie selbst glauben, daß sie durch fünfundsiebzigtausend Rubel tatsächlich nicht aufgewogen wird?«
»Davon möchte ich nicht reden«, murmelte Ganja. »Aber apropos, sagen Sie mir doch, wie Sie selbst darüber denken; ich möchte gern Ihre Meinung darüber kennenlernen: wird diese ›Marter‹ durch fünfundsiebzigtausend Rubel aufgewogen oder nicht?«
»Meiner Ansicht nach nicht.«
»Nun, das ließ sich denken. Und unter solchen Umständen zu heiraten, muß man sich schämen?«
»Allerdings, sehr.«
»Nun, dann mögen Sie wissen, daß ich sie heiraten werde, jetzt ganz sicher. Vorhin war ich noch schwankend, aber jetzt nicht mehr. Sagen Sie kein Wort! Ich weiß, was Sie sagen wollen ...«
»Ich will nicht über denjenigen Punkt reden, von dem Sie annehmen, daß ich mich über ihn äußern wolle; ich wundere mich nur über Ihre außerordentliche Zuversicht ...«
»Zuversicht worauf? Was für eine Zuversicht?«
»Daß Nastasja Filippowna Sie bestimmt heiraten wird und die ganze Sache bereits feststeht, und zweitens, auch wenn sie Ihre Frau werden sollte, daß die fünfundsiebzigtausend Rubel dann so ohne weiteres geradeswegs in Ihre Tasche gelangen werden. Übrigens ist mir natürlich vieles von den Verhältnissen nicht bekannt.«
Ganja machte eine heftige Bewegung nach dem Fürsten hin.
»Natürlich ist Ihnen nicht alles bekannt«, sagte er. »Warum würde ich denn sonst diese ganze Bürde auf mich nehmen?«
»Ich meine, es ist ein sehr häufiger Vorgang, daß jemand um des Geldes willen heiratet und das Geld in den Händen der Frau bleibt.«
»N-nein, bei uns wird es anders sein ... Hier ... hier liegen Umstände vor ...«, murmelte Ganja, in unruhigem Nachdenken befangen. »Und was ihre Antwort anlangt, so ist an der kein Zweifel mehr möglich«, fügte er schnell hinzu. »Woraus schließen Sie, daß sie mir einen Korb geben wird?«
»Ich weiß nichts als das, was ich gesehen habe. Aber auch Warwara Ardalionowna hat soeben gesagt ...«
»Bah, das reden die Weiber so hin, ohne zu wissen, was sie sagen. Aber über Rogoschin hat sie sich lustig gemacht; das können Sie glauben; das ist mir klargeworden. Das war deutlich zu merken. Ich hatte vorhin meine Besorgnisse; aber jetzt ist mir die Sache klargeworden. Oder meinen Sie vielleicht, wie sie sich gegen die Mutter, den Vater und Warja benommen hat?«
»Und gegen Sie.«
»Es mag sein; aber das war nur die gewöhnliche weibliche Rachsucht, weiter nichts. Sie ist ein schrecklich reizbares, argwöhnisches, eitles Weib. Wie ein bei der Beförderung übergangener Beamter! Sie wollte sich zeigen und ihnen ihre ganze Geringschätzung beweisen ... na, und mir auch; das ist ja richtig, das bestreite ich nicht ... Aber trotzdem wird sie mich heiraten. Sie ahnen gar nicht, welchen Täuschungen die menschliche Eitelkeit unterworfen ist: da hält sie mich nun für einen Schuft, weil ich sie, die Geliebte eines andern, so offen ihres Geldes wegen nehme, und weiß nicht, daß ein anderer sie in noch gemeinerer Weise betrügen würde: er würde sich an sie heranmachen und sie mit liberalen, fortschrittlichen Redereien überschütten und allerlei Frauenfragen erörtern, so daß sie ihm schließlich wie ein Faden durchs Nadelöhr geht. Er würde der eitlen Närrin einreden (und das ist so leicht!), daß er sie nur ›wegen ihres edlen Herzens und wegen ihres Unglücks‹ nehme, würde sie aber dabei doch um des Geldes willen heiraten. Ich gefalle ihr nicht, weil ich zum Schwanzwedeln keine Lust habe, was doch nützlich wäre. Aber was tut sie denn selbst? Tut sie nicht ganz dasselbe? Also, wenn dem so ist, warum verachtet sie mich dann und treibt ein solches Spiel mit mir? Deswegen, weil ich selbst mich nicht unterwerfe, sondern meinen Stolz herauskehre. Nun, wir werden ja sehen!«
»Haben Sie sie denn früher wirklich geliebt?«
»Anfangs habe ich sie geliebt. Aber genug davon ... Es gibt eben Frauen, die nur zu Geliebten taugen und zu weiter nichts. Ich sage nicht, daß sie meine Geliebte gewesen wäre. Wenn sie friedfertig leben will, werde ich auch friedfertig leben; aber wenn sie sich auflehnt, werde ich mich sofort von ihr lossagen und das Geld für mich behalten. Lächerlich will ich mich nicht machen; das am allerwenigsten.«
»Es will mir doch scheinen«, bemerkte der Fürst vorsichtig, »daß Nastasja Filippowna ein ganz kluges Weib ist. Wozu sollte sie, wenn sie solche Marter voraussieht, in die Falle gehen? Sie könnte ja doch auch einen andern heiraten. Ich wundere mich, daß Sie diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen.«
»Das hat schon seine Gründe! Sie wissen in dieser Angelegenheit nicht alles, Fürst ..., und außerdem glaubt sie fest, daß ich sie wahnsinnig liebe; das schwöre ich Ihnen. Und wissen Sie, ich vermute stark, daß auch sie mich liebt, das heißt, auf ihre Art; Sie kennen die Redensart: ›Wen ich liebe, den prügle ich‹. Sie wird mich ihr ganzes Leben lang für einen Gauner halten (und darin hat sie ja auch vielleicht recht) und mich doch auf ihre Art lieben; sie trifft dazu schon ihre Anstalten; das liegt einmal so in ihrem Wesen. Sie ist eine echte Russin, kann ich Ihnen sagen; na, und ich bereite eine Überraschung für sie vor. Die Szene von vorhin mit Warja ereignete sich ja ganz zufällig; aber sie wird mir von Vorteil sein: sie hat jetzt gesehen und sich überzeugt, daß ich ihr treuer Anhänger bin und um ihretwillen alle Bande zerreiße. Ich bin nämlich auch gerade kein Dummkopf, das können Sie mir glauben. Apropos, Sie denken doch hoffentlich nicht, daß ich ein arger Schwätzer bin? Ich habe vielleicht tatsächlich übel daran getan, liebster Fürst, daß ich mich Ihnen so ganz decouvriere. Aber das kommt daher, daß Sie der erste anständige Mensch sind, auf den ich seit langem gestoßen bin, und da habe ich mich denn auf Sie gestürzt, das heißt, nehmen Sie dieses ›ich habe mich auf Sie gestürzt‹ nicht im physischen Sinne. Sie zürnen mir doch nicht mehr wegen meines Benehmens von vorhin? Ich spreche vielleicht zum ersten Mal seit vollen zwei Jahren frei von der Leber. Hier gibt es sehr wenige ehrenhafte Leute; Ptizyn ist noch der ehrenhafteste. Sie lachen wohl gar, wie mir scheint? Die Schufte haben eine besondere Zuneigung zu ehrenhaften Leuten; haben Sie das noch nicht gewußt? Ich aber bin ja ... Sagen Sie mir übrigens auf Ihr Gewissen: inwiefern bin ich denn ein Schuft? Weil alle, nachdem sie mich einmal einen Schuft genannt hat, es ihr nachsprechen? Und wissen Sie: weil die Leute und sie mich so genannt haben, nenne ich mich auch selbst einen Schuft! Das ist gemein, sehr gemein!«
»Ich werde Sie jetzt nie mehr für einen Schuft halten«, versetzte der Fürst. »Vorhin hielt ich Sie geradezu für einen Bösewicht, und nun haben Sie mir plötzlich eine so große Freude gemacht! Das soll mir eine Lehre sein, nicht zu verurteilen, wo es einem an Erfahrung fehlt. Jetzt sehe ich, daß man Sie nicht nur für keinen Bösewicht halten darf, sondern überhaupt nicht für einen besonders verdorbenen Menschen. Sie sind meiner Ansicht nach einfach der gewöhnlichste Mensch, den es überhaupt geben kann, nur vielleicht sehr schwach; aber von Originalität ist nicht die Rede.«
Ganja lächelte im stillen spöttisch, schwieg aber. Der Fürst merkte, daß ihm seine Antwort nicht gefallen hatte, wurde verlegen und verstummte gleichfalls.
»Hat mein Vater Sie um Geld gebeten?« fragte Ganja auf einmal.
»Nein.«
»Er wird es tun; aber geben Sie ihm nichts! Und doch kann ich mich noch an die Zeit erinnern, wo er ein ganz anständiger Mann war. Er hatte Zutritt zu den besten Kreisen. Und wie schnell es mit ihnen zu Ende geht, mit diesen alten, anständigen Leuten! Kaum haben sich die Umstände geändert, so ist auch von dem Früheren nichts mehr vorhanden; es ist, wie wenn Schießpulver abbrennt. Ich versichere Ihnen, er hat früher nicht so gelogen; früher war er nur ein etwas exaltierter Mensch, und nun sehen Sie, wohin sich das schließlich entwickelt hat! Natürlich ist das Trinken daran schuld. Wissen Sie, daß er eine Geliebte aushält? Er ist jetzt nicht mehr ein bloßer unschuldiger Aufschneider. Ich kann die Langmut der Mutter nicht begreifen. Hat er Ihnen von der Belagerung von Kars erzählt? Oder davon, wie bei seiner Troika das graue Seitenpferd zu sprechen anfing? So weit versteigt er sich.«
Und Ganja schüttelte sich auf einmal nur so vor Lachen. »Warum sehen Sie mich so an?« fragte er dann den Fürsten.
»Ich wundere mich darüber, daß Sie so herzlich lachen. Ihr Lachen ist wirklich noch ein ganz kindliches. Als Sie vorhin hereinkamen, um sich mit mir zu versöhnen, und sagten: ›Wenn Sie es verlangen, küsse ich Ihnen die Hand!‹, das war ganz in der Art, wie Kinder sich aussöhnen. Also sind Sie solcher Worte und Empfindungen doch noch fähig. Und dann fingen Sie auf einmal an, mir einen ganzen Vortrag über diese dunkle Heiratsangelegenheit und über diese fünfundsiebzigtausend Rubel zu halten. Wahrhaftig, das erscheint alles so ungereimt und wunderlich.«
»Und was schließen Sie daraus?«
»Daß Sie vielleicht doch leichtsinnig handeln und gut täten, die Sache vorher gründlich zu überlegen. Möglicherweise hat Warwara Ardalionowna doch recht.«
»Ah so! Eine Empfehlung der Moralität! Daß ich noch ein Junge bin, weiß ich selbst«, unterbrach ihn Ganja eifrig. »Das geht ja schon daraus hervor, daß ich mit Ihnen ein solches Gespräch geführt habe. Aber ich schreite nicht aus Berechnung zu dieser Ehe, Fürst«, fuhr er, sich verteidigend, fort, wie ein in seinem Ehrgefühl verletzter junger Mann. »Wenn ich aus Berechnung handelte, so würde ich mit Wahrscheinlichkeit Fehler dabei begehen, da weder mein Verstand noch mein Charakter bereits genügend erstarkt sind. Ich tue diesen Schritt aus Leidenschaft, aus innerem Triebe, weil ich schnell zu einem ordentlichen Kapital gelangen möchte. Sie denken wohl, sowie ich die fünfundsiebzigtausend Rubel bekomme, werde ich mir sofort einen Wagen kaufen. Nein, ich werde dann meinen vorvorjährigen Rock ruhig weitertragen und alle meine Klubbekanntschaften aufgeben. Bei uns gibt es, auch unter den Leuten, welche Geldgeschäfte machen, nur wenige, die auszuhalten verstehen; ich aber will aushalten. Die Hauptsache ist da: durchführen bis zum Ende; darin besteht die ganze Aufgabe! Ptizyn hat als junger Mensch von siebzehn Jahren auf der Straße geschlafen und mit Federmessern gehandelt und mit einer Kopeke angefangen; jetzt besitzt er sechzigtausend Rubel; aber was hat er dazu für Mühseligkeiten durchmachen müssen! Sehen Sie, all diese Mühseligkeiten möchte ich überspringen und gleich mit einem Kapital anfangen. Nach fünfzehn Jahren werden die Leute sagen: ›Das ist Iwolgin, der größte Geldjude!‹ Vorhin sagten Sie zu mir, ich sei kein origineller Mensch. Merken Sie sich, lieber Fürst, daß es für einen Angehörigen unseres Zeitalters und unseres Volkes keine größere Beleidigung gibt, als wenn man zu ihm sagt, er sei nicht originell, habe einen schwachen Charakter, besitze keine besonderen Talente und sei ein ganz gewöhnlicher Mensch. Sie haben mir nicht einmal die Ehre erwiesen, mich für einen richtigen Schuft zu halten, und ich hätte Sie vorhin dafür totschlagen mögen, wissen Sie! Sie haben mich ärger beleidigt als Jepantschin, der mich für fähig hält, ihm (notabene ohne weitere Verhandlungen, ohne Verlockungen, aus bloßer Einfalt) meine Frau zu verkaufen! Das Verlangen nach einem Kapital macht mich schon lange rasend, und ich will, will Geld haben! Wissen Sie, wenn ich erst zu Geld gelangt bin, dann werde ich auch ein höchst origineller Mensch sein. Das ist ja gerade das Gemeinste und Hassenswerteste am Geld, daß es sogar Talente verleiht. Und die wird es verleihen bis zum Ende der Welt. Sie werden sagen, das alles sei eine kindliche oder vielleicht phantastische Auffassung; nun gut, um so mehr Spaß werde ich davon haben, und die Sache wird trotzdem ins Werk gesetzt werden. Ich werde sie durchführen und werde aushalten.
Rira bien, qui rira le dernier!
Wie kommt Jepantschin dazu, mich in dieser Weise zu beleidigen? Tut er das etwa aus Bosheit? Keineswegs, sondern einfach deshalb, weil ich kein Geld habe. Na, aber dann ... Aber nun genug; es ist Zeit, daß wir aufhören. Kolja hat schon zweimal seine Nase hereingesteckt; er will Sie zum Mittagessen rufen. Und ich muß ausgehen. Ich werde Sie manchmal besuchen. Sie werden es bei uns ganz gut haben; Sie werden jetzt geradezu in die Familie aufgenommen werden. Hüten Sie sich nur, etwas weiterzuplaudern! Mir scheint, daß Sie und ich entweder gute Freunde oder erbitterte Feinde sein werden. Was meinen Sie, Fürst: wenn ich Ihnen vorhin die Hand geküßt hätte, wozu ich mich von Herzen erbot, wäre ich dann deswegen in der Folgezeit Ihr Feind geworden?«
»Unbedingt wären Sie das geworden, aber nicht für immer; später würden Sie Ihren Sinn geändert und mir verziehen haben«, erwiderte der Fürst nach kurzem Nachdenken lachend.
»Aha! Mit Ihnen muß man sehr vorsichtig sein. Weiß der Teufel, Sie haben auch in diese Antwort gleich wieder einen Tropfen Gift hineingeträufelt. Und wer weiß, vielleicht sind Sie gar mein Feind? Apropos, hahaha! Ich vergaß, Sie zu fragen: ich hatte den Eindruck, daß Nastasja Filippowna Ihnen außerordentlich gut gefiel; habe ich recht?«
»Ja ... sie hat mir gefallen.«
»Haben Sie sich in sie verliebt?«
»N-nein.«
»Aber dabei ist er ganz rot geworden und macht ein Armesündergesicht. Nun, es tut nichts, es tut nichts; ich werde mich nicht über Sie lustig machen. Auf Wiedersehen! Und wissen Sie, sie ist ein tugendhaftes Weib; können Sie das glauben? Sie meinen wohl, sie lebt mit dem Menschen, dem Tozki zusammen? Nicht die Rede davon! Schon lange nicht mehr! Aber haben Sie wohl bemerkt, daß sie selbst sehr linkisch ist und vorhin manchmal ganz verlegen wurde? Wirklich! Aber gerade solche Weiber sind besonders herrschsüchtig. Nun adieu!«
Ganja verließ das Zimmer in weit ungezwungenerer Art, als er hereingekommen war, und in guter Laune. Der Fürst saß etwa zehn Minuten lang da, ohne sich zu rühren, und dachte nach.
Kolja steckte wieder den Kopf durch die Tür.
»Ich möchte nicht zu Mittag essen, Kolja; ich habe vorhin bei Jepantschins gut gefrühstückt.«
Kolja trat ganz durch die Tür herein und überreichte dem Fürsten ein Billett. Es kam vom General und war zusammengefaltet und versiegelt. Es war dem Knaben am Gesicht anzusehen, daß es ihm peinlich war, das Billett zu übergeben. Der Fürst las es durch, stand auf und griff nach seinem Hut.
»Es sind nur ein paar Schritte«, sagte Kolja verlegen. »Er sitzt dort jetzt bei der Flasche. Es ist mir unbegreiflich, wodurch er sich da Kredit verschafft hat. Bitte, lieber Fürst, sagen Sie nachher meinen Angehörigen nichts davon, daß ich Ihnen das Billett zugestellt habe! Tausendmal habe ich schon geschworen, solche Billette nicht mehr zu bestellen; aber er tut mir dann doch immer wieder leid. Aber ich möchte Ihnen sagen: machen Sie, bitte, mit ihm keine Umstände; geben Sie ihm eine Kleinigkeit, dann ist die Sache erledigt.«
»Das war auch mein Gedanke, Kolja. Ich muß Ihren Papa sprechen ... aus einem besonderen Anlaß ... Kommen Sie ...!«
Kolja führte den Fürsten in die Nähe nach der Litejnaja-Straße, zu einem Kaffeehaus, das im Erdgeschoß lag und seinen Eingang von der Straße hatte. Hier hatte Ardalion Alexandrowitsch es sich als alter Stammgast rechts in der Ecke in einem besonderen Zimmerchen bequem gemacht; eine Flasche stand vor ihm auf einem Tischchen; in der Hand hielt er wirklich die ›Indépendance Belge‹. Er hatte auf den Fürsten gewartet; kaum hatte er ihn erblickt, so legte er sofort die Zeitung beiseite und begann eine eifrige, wortreiche Auseinandersetzung, von der der Fürst übrigens fast nichts verstand, weil der General schon beinahe »fertig« war.
»Zehn Rubel habe ich nicht«, unterbrach ihn der Fürst. »Aber hier ist ein Fünfundzwanzigrubelschein; lassen Sie ihn wechseln und geben Sie mir fünfzehn Rubel zurück, da ich sonst selbst keinen Groschen in der Tasche habe.«
»Oh gewiß; und seien Sie überzeugt, daß ich schleunigst ...«
»Ich habe außerdem noch eine Bitte an Sie, General. Sind Sie niemals bei Nastasja Filippowna gewesen?«
»Ich? Ich sollte nicht dagewesen sein? Das sagen Sie zu mir? Mehrmals, mein Lieber, mehrmals!« rief der General in einem Anfall von selbstgefälliger, triumphierender Ironie. »Aber ich habe schließlich diese Beziehung selbst abgebrochen, weil ich diese Mesalliance nicht befördern mag. Sie haben es selbst gesehen und waren heute morgen Zeuge: ich habe alles getan, was ein Vater tun konnte; aber das war ein milder, nachgiebiger Vater; jetzt wird ein Vater von anderer Art auf die Bühne treten, und dann ... dann wollen wir einmal sehen, ob ein alter, verdienstvoller Krieger über die Intrige obsiegen oder die schamlose Kameliendame in eine hochanständige Familie eindringen wird.«
»Und ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie, als Bekannter Nastasja Filippownas, mich nicht heute abend bei ihr einführen könnten. Ich muß heute unter allen Umständen hingehen; ich habe da etwas zu tun, aber ich weiß schlechterdings nicht, wie ich Einlaß finden kann. Ich bin ihr zwar vorhin vorgestellt; aber sie hat mich nicht eingeladen, und es ist dort heute eine Abendgesellschaft nur für geladene Gäste. Ich bin übrigens bereit, mich über mancherlei Vorschriften des gesellschaftlichen Verkehrs hinwegzusetzen und mich sogar auslachen zu lassen, wenn ich nur irgendwie hineinkomme.«
»Sie haben da vollständig, aber auch vollständig meinen eigenen Gedanken getroffen, mein junger Freund«, rief der General ganz begeistert. »Ich habe Sie nicht wegen dieser Kleinigkeit herrufen lassen«, fuhr er fort, indem er die fünfundzwanzig Rubel nahm und in die Tasche steckte, »sondern gerade um Sie zu einem gemeinsamen Besuch bei Nastasja Filippowna oder, besser gesagt, zu einem gemeinsamen Feldzug gegen Nastasja Filippowna aufzufordern! General Iwolgin und Fürst Myschkin! Was wird sie dazu für ein Gesicht machen! Mit Rücksicht auf ihren Geburtstag werde ich in liebenswürdigster Form schließlich doch meinen Willen zum Ausdruck bringen, indirekt, nicht so geradeheraus; aber die Wirkung wird dieselbe sein, wie wenn ich geradeheraus spräche. Dann mag Ganja sich selbst entscheiden, wie er sich verhalten will: auf der einen Seite sein Vater, ein hochverdienter und ... sozusagen ... und so weiter, auf der andern Seite ... Aber was kommen muß, das komme! Ihr Gedanke ist außerordentlich vielversprechend. Um neun Uhr wollen wir uns hinbegeben; wir haben noch Zeit.«
»Wo wohnt sie denn?«
»Weit von hier: beim Großen Theater, im Haus der Frau Mytowzowa, fast auf dem Platz selbst, in der Beletage. Es wird keine große Gesellschaft da sein, obwohl es ihr Geburtstag ist, und die Gäste werden frühzeitig aufbrechen ...«
Es war schon längst Abend; der Fürst saß noch immer da und wartete darauf, daß der General aufstehen würde; aber dieser begann eine endlose Menge von Anekdoten zu erzählen, ohne eine einzige zu Ende zu bringen. Bei der Ankunft des Fürsten hatte er sich eine neue Flasche geben lassen, die er erst nach einer Stunde geleert hatte; dann hatte er noch eine dritte verlangt und auch diese ausgetrunken. Man kann sich leicht denken, daß der General dabei Zeit gefunden hatte, fast seine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Endlich stand der Fürst auf und erklärte, er könne nicht länger warten. Der General trank den letzten Rest aus seiner Flasche aus, erhob sich und verließ mit sehr unsicheren Schritten das Zimmer. Der Fürst war in Verzweiflung. Es war ihm jetzt unbegreiflich, wie er hatte so dumm sein können, auf diesen Menschen sein Vertrauen zu setzen. In Wirklichkeit hatte er ja auch nie sein Vertrauen auf ihn gesetzt; er hatte nur insofern auf den General gerechnet, als er gehofft hatte, durch dessen Beihilfe Einlaß bei Nastasja Filippowna zu finden, wenn auch mit etwas unangenehmem Aufsehen; aber er hatte nicht erwartet, daß der General sich in einem derartig skandalösen Zustand befinden werde: Er war völlig betrunken, entwickelte eine große Redseligkeit und sprach ohne Unterbrechung in sehr gefühlvoller, ja weinerlicher Weise. Sein Thema war dabei fortwährend dieses: durch das schlechte Benehmen all seiner Familienmitglieder sei alles zugrunde gegangen, und es sei endlich Zeit, dem ein Ende zu machen. Endlich traten sie auf die Litejnaja-Straße hinaus. Das Tauwetter dauerte noch fort; ein bedrückender, warmer, feucht riechender Wind pfiff durch die Straßen; die Kutschen platschten im Schmutz; die Hufschläge der Traber und Karrengäule ertönten mit hellem Klang auf dem Pflaster. Die Fußgänger wanderten trübselig und durchnäßt die Trottoirs entlang. Man begegnete einzelnen Betrunkenen.
»Sehen Sie wohl diese erleuchteten Beletagen?« sagte der General. »Hier wohnen überall meine Kameraden, und ich, der ich am längsten von ihnen gedient und am meisten durchgemacht habe, ich schleppe mich zu Fuß nach dem Großen Theater in die Wohnung eines zweideutigen Frauenzimmers! Ein Mann, der dreizehn Kugeln in der Brust hat ... Sie glauben es nicht? Und doch hat einzig um meinetwillen Pirogow nach Paris telegraphiert und seine Aufmerksamkeit dem belagerten Sewastopol eine Zeitlang entzogen, und Nélaton, der Pariser Hofarzt, hat sich im Namen der Wissenschaft freies Geleit verschafft und ist in das belagerte Sewastopol hereingekommen, um mich zu untersuchen. ›Ach, das ist jener Iwolgin, der dreizehn Kugeln im Leibe hat!‹, so reden die Leute von mir. Sehen Sie wohl dieses Haus hier, Fürst? Hier wohnt in der Beletage ein alter Kamerad von mir, General Sokolowitsch, mit seiner zahlreichen, prächtigen Familie. Dieses Haus und noch drei Häuser auf dem Newski-Prospekt und zwei in der Morskaja-Straße, die bilden jetzt meinen ganzen Bekanntenkreis. Wenn ich sage ›meinen‹, so bezieht sich das nur auf meine eigene Person; Nina Alexandrowna hat sich schon längst den Verhältnissen gefügt. Aber ich gebe mich immer noch in der gebildeten Gesellschaft meiner ehemaligen Kameraden und Untergebenen, die mich bis auf den heutigen Tag vergöttern, meinen Erinnerungen hin und finde da sozusagen meine Erholung. Dieser General Sokolowitsch ... ich bin übrigens schon lange nicht mehr bei ihm gewesen und habe Anna Fjodorowna geraume Zeit nicht gesehen ... wissen Sie, lieber Fürst, wenn man selbst nicht mehr empfängt, dann hört man auch unwillkürlich auf, bei anderen Besuche zu machen. Indessen ... hm ...! Sie scheinen mir nicht zu glauben ... Übrigens, warum sollte ich den Sohn meines besten Freundes und Jugendgespielen nicht in diese entzückende Familie einführen? General Iwolgin und Fürst Myschkin! Sie werden ein reizendes junges Mädchen kennenlernen, oder vielmehr nicht eines, sondern zwei, ja drei, die Zierden der Residenz und der vornehmen Gesellschaft: Schönheit, Bildung, moderne Richtung ... Frauenfrage, Poesie, all das hat sich bei ihnen zu einer glücklichen, bunten Mischung vereinigt, ganz abgesehen von den achtzigtausend Rubeln Mitgift in barem Geld für eine jede von ihnen, was trotz aller Frauenfragen und sozialen Probleme niemals schaden kann ... mit einem Wort, ich fühle mich unbedingt verpflichtet und verbunden, Sie einzuführen. General Iwolgin und Fürst Myschkin! Mit einem Wort ... das macht Eindruck!«
»Jetzt? Jetzt gleich? Aber Sie haben vergessen ...«, begann der Fürst.
»Nichts, nichts habe ich vergessen! Wir wollen hingehen! Hier diese prachtvolle Treppe hinauf! Ich wundere mich, daß kein Portier da ist; aber freilich ... es ist ein Feiertag, und da hat sich der Portier absentiert. Sie haben diesen Trunkenbold immer noch nicht weggejagt. Dieser Sokolowitsch verdankt das ganze Glück seines Lebens und seiner Karriere mir, mir allein und sonst niemandem. Aber ... da sind wir schon!«
Der Fürst erhob keine Einwendungen mehr gegen den Besuch und folgte dem General gehorsam, um ihn nicht zu reizen, in der festen Hoffnung, daß General Sokolowitsch und seine ganze Familie allmählich wie eine Luftspiegelung verschwinden und sich als nicht existierend erweisen würden, so daß sie dann ruhig die Treppe wieder hinuntersteigen könnten. Aber zu seinem Schrecken mußte er diese Hoffnung aufgeben: der General führte ihn die Treppe hinauf wie jemand, der da wirklich Bekannte hatte, und schaltete alle Augenblicke detaillierte Bemerkungen biographischen und topographischen Inhalts ein, die den Eindruck mathematischer Genauigkeit machten. Als sie endlich in der Beletage angelangt waren und rechts vor der Eingangstür einer prächtigen Wohnung haltmachten und der General nach dem Griff der Klingel faßte, da beschloß der Fürst, davonzulaufen; aber ein sonderbarer Umstand hielt ihn noch einen Augenblick zurück. »Sie haben sich geirrt, General«, sagte er; »hier an der Tür steht der Name Kulakow, und Sie wollten doch bei Sokolowitsch klingeln.«
»Kulakow ... Kulakow beweist nichts. Das ist Sokolowitschs Wohnung, und ich klingle bei Sokolowitsch. Ich schere mich den Teufel um Kulakow ... Da wird schon geöffnet.«
Die Tür öffnete sich wirklich. Ein Diener schaute heraus und meldete, die Herrschaften seien nicht zu Hause.
»Wie schade, wie schade! Daß wir es so schlecht getroffen haben!« wiederholte Ardalion Alexandrowitsch mehrere Male hintereinander mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns. »Bestellen Sie, lieber Freund, daß General Iwolgin und Fürst Myschkin gewünscht hätten, den Herrschaften ihre besondere Hochachtung zu bezeigen und außerordentlich, außerordentlich bedauert hätten ...«
In diesem Augenblick schaute aus einem der Zimmer durch die geöffnete Eingangstür noch ein anderes Gesicht heraus, anscheinend das Gesicht einer Wirtschafterin oder vielleicht auch
Gouvernante, einer etwa vierzigjährigen Dame in einem dunklen Kleid. Als sie die Namen des Generals Iwolgin und des Fürsten Myschkin hörte, näherte sie sich neugierig und mißtrauisch.
»Marja Alexandrowna ist nicht zu Hause«, sagte sie, indem sie besonders den General scharf ansah; »sie ist mit dem gnädigen Fräulein Alexandra Michailowna zur Großmutter gefahren.«
»Auch Alexandra Michailowna ist mit ihr aus! O Gott, wie bedauerlich! Und denken Sie sich nur, Madame, solch Mißgeschick habe ich immer! Ich bitte Sie ganz ergebenst, meine Empfehlung auszurichten und an Alexandra Michailowna zu bestellen, sie möchte sich erinnern ... mit einem Wort, sagen Sie ihr, ich wünschte ihr von Herzen das, was sie selbst sich am Donnerstagabend bei den Klängen des Chopinschen Liedes gewünscht habe; sie wird sich schon erinnern ... Das sei mir ein Herzenswunsch! General Iwolgin und Fürst Myschkin!«
»Ich werde es nicht vergessen«, versetzte, den Abschiedsgruß erwidernd, die Dame, die etwas mehr Vertrauen zu den Besuchern gewonnen hatte.
Während sie die Treppe hinunterstiegen, bedauerte der General immer noch in derselben affektvollen Weise, daß sie die Herrschaften nicht angetroffen hätten und daß dem Fürsten eine so entzückende Bekanntschaft entgangen sei.
»Wissen Sie, mein Lieber, es liegt eine gewisse gefühlvolle Schwärmerei in meinem Wesen; haben Sie das wohl schon bemerkt? Übrigens ... übrigens scheint mir, daß wir an eine falsche Stelle gekommen sind«, schloß er auf einmal ganz unerwartet. »Jetzt erinnere ich mich: Sokolowitschs wohnen in einem andern Haus und, wenn mir recht ist, jetzt sogar in Moskau. Ja, ich habe mich ein bißchen geirrt; aber ... das tut nichts.«
»Ich möchte nur eines wissen«, bemerkte der Fürst niedergeschlagen, »ist es nicht das beste, wenn ich auf Ihre Beihilfe ganz verzichte und lieber allein hingehe?«
»Verzichten? Allein hingehen? Aber wieso denn, da das doch für mich ein äußerst wichtiger Schritt ist, von dem so viel in dem Schicksal meiner ganzen Familie abhängt? Aber da kennen Sie Iwolgin schlecht, mein junger Freund! Wer ›Iwolgin‹ sagt, der sagt ›Mauer‹. ›Auf Iwolgin kann man sich wie auf eine Mauer verlassen‹, so hieß es schon in der Schwadron, in der ich meine dienstliche Laufbahn begann. Ich muß nur noch unterwegs zu einem Haus gehen, in dem meine Seele schon seit mehreren Jahren ihre Erholung findet von all der Unruhe und den schweren Prüfungen, die ...«
»Sie wollen erst noch nach Hause gehen?«
»Nein, ich will ... zu der Frau Hauptmann Terentjewa, der Witwe des Hauptmanns Terentjew, meines früheren Untergebenen, ja Freundes ... Hier, bei der Frau Hauptmann, lebe ich seelisch wieder auf; hierher trage ich all das Leid, das das Leben und meine Familie mir bereiten ... Und da gerade heute ein schwerer Druck auf meiner Seele lastet, so möchte ich ...«
»Ich glaube«, murmelte der Fürst, »ich habe so schon eine große Torheit begangen, als ich Sie vorhin mit meiner Bitte belästigte. Und außerdem wollen Sie ja jetzt ... Adieu!«
»Aber ich darf Sie jetzt nicht weggehen lassen, mein junger Freund; das darf ich nicht!« rief der General. »Sie ist eine Witwe, eine Familienmutter und vermag in ihrem Herzen Saiten erklingen zu lassen, die in meinem ganzen Wesen ihren Widerhall finden. Der Besuch bei ihr wird nur fünf Minuten dauern; in diesem Haus verkehre ich ganz ungeniert; ich wohne da fast. Ich will mich da waschen und die nötigste Toilette machen, und dann fahren wir in einer Droschke nach dem Großen Theater. Seien Sie überzeugt, daß ich Ihrer den ganzen Abend über bedarf ... Hier in diesem Haus ist es; wir sind schon da ... Ah, Kolja, du bist schon hier? Nun, ist Marfa Borisowna zu Hause, oder bist du selbst eben erst gekommen?«
»O nein«, antwortete Kolja, der unerwartet mit ihnen in der Haustür zusammengestoßen war, »ich bin schon eine ganze Weile hier bei Ippolit; es geht ihm schlechter; er hat sich heute vormittag hinlegen müssen. Ich habe jetzt eben ein Spiel Karten vom Kaufmann geholt. Marfa Borisowna erwartet Sie. Aber, Papa, in welchem Zustand sind Sie!« schloß Kolja, indem er den Gang und die Haltung des Generals scharf musterte. »Nun, dann wollen wir hinaufgehen!«
Die Begegnung mit Kolja bewog den Fürsten, den General auch noch zu Marfa Borisowna zu begleiten, aber nur auf eine Minute. Der Fürst brauchte Kolja; von dem General wollte er sich unter allen Umständen losmachen, und er konnte es sich nicht verzeihen, daß er vorhin den Einfall gehabt hatte, auf diesen Menschen irgendwelche Hoffnungen zu setzen. Auf der Hintertreppe stiegen sie zum vierten Stock hinauf, was ziemlich lange dauerte.
»Wollen Sie den Fürsten dort einführen?« fragte Kolja unterwegs.
»Ja, mein Sohn, das will ich: General Iwolgin und Fürst Myschkin. Aber wie ist Marfa Borisownas Befinden ... und Stimmung ...?«
»Wissen Sie, Papa, es wäre am besten, wenn Sie nicht zu ihr gingen! Sie ist wütend auf Sie! Sie haben sich seit drei Tagen nicht blicken lassen, und sie wartet auf Geld. Warum haben Sie ihr Geld versprochen? So machen Sie es immer! Nun müssen Sie sehen, wie Sie mit ihr fertig werden.«
Im vierten Stock blieben sie vor einer niedrigen Tür stehen. Der General war augenscheinlich ängstlich geworden und schob den Fürsten vor.
»Ich werde hier stehenbleiben«, murmelte er. »Ich möchte sie überraschen ...«
Kolja ging zuerst hinein. Eine stark geschminkte, etwa vierzigjährige Dame, in Pantoffeln und Hausjacke, die Haare in kleine Zöpfe geflochten, sah aus der Tür, und die vom General geplante Überraschung fiel sofort ins Wasser. Kaum hatte ihn die Dame erblickt, als sie schrie:
»Da ist er ja, der gemeine, schändliche Mensch! Das hatte ich doch geahnt!«
»Kommen Sie nur mit herein; sie scherzt nur!« flüsterte der General, immer noch harmlos lächelnd, dem Fürsten zu.
Aber es war kein Scherz gewesen. Kaum waren sie durch ein dunkles, niedriges Vorzimmer in den engen, mit sechs Rohrstühlen und zwei Spieltischen möblierten Salon getreten, als die Dame sofort mit gekünstelter, weinerlich klingender, ordinärer Stimme fortfuhr:
»Schämst du dich denn gar nicht, du Barbar, du Tyrann meiner Familie, du Barbar und Unmensch? Ganz ausgeplündert hat er mich; alles hat er mir abgepreßt, und damit ist er noch nicht zufrieden! Wie lange soll ich das noch von dir ertragen, du schamloser, ehrloser Mensch?«
»Marfa Borisowna, Marfa Borisowna! Das ist hier Fürst Myschkin. General Iwolgin und Fürst Myschkin«, murmelte der General zitternd und fassungslos.
»Können Sie es glauben«, wandte sich die Frau Hauptmann plötzlich an den Fürsten, »können Sie es glauben, daß dieser schamlose Mensch nicht einmal mit meinen vaterlosen Kindern Mitleid gehabt hat? Alles hat er uns geraubt, alles weggeschleppt, alles verkauft und versetzt; nichts hat er uns gelassen! Was soll ich mit deinen Schuldscheinen anfangen, du listiger, gewissenloser Mensch? Antworte, du Betrüger, antworte mir, du unersättlicher Räuber: womit soll ich meine vaterlosen Kinder satt machen? Da kommt er nun betrunken her und kann nicht auf den Beinen stehen ...! Womit habe ich Gott den Herrn erzürnt, du schändlicher, abscheulicher Gauner? Antworte!«
Aber der General war nicht dazu aufgelegt, diese Frage zu beantworten.
»Marfa Borisowna, da sind fünfundzwanzig Rubel ... das ist alles, was ich durch die Beihilfe meines edelmütigen Freundes geben kann. Fürst! Ich habe mich schrecklich geirrt! Ja, so ist ... das Leben ... Aber jetzt ... verzeihen Sie, ich fühle mich schwach«, fuhr der General, mitten im Zimmer stehend und sich nach allen Seiten verbeugend, fort. »Ich fühle mich schwach, verzeihen Sie! Lenotschka! Ein Kissen ... liebes Kind!«
Lenotschka, ein Mädchen von acht Jahren, lief sofort ein Kissen holen und legte es auf das mit Wachstuch überzogene, harte, abgenutzte Sofa. Der General setzte sich darauf, mit der Absicht, noch vieles zu sagen; aber kaum hatte er das Sofa berührt, als er sich sofort zur Seite neigte, sich nach der Wand zu wandte und in den Schlaf des Gerechten versank. Marfa Borisowna bot dem Fürsten zeremoniös und mit kummervoller Miene einen Stuhl an einem der Spieltische an, setzte sich selbst ihm gegenüber, stützte die rechte Wange in die Hand, sah den Fürsten schweigend an und seufzte dabei. Drei kleine Kinder, zwei Mädchen und ein Knabe, von denen Lenotschka das älteste war, traten ebenfalls an den Tisch heran, legten alle drei die Arme darauf und betrachteten den Fürsten unverwandt. Aus dem anstoßenden Zimmer kam Kolja herein.
»Ich freue mich sehr, daß ich Sie hier getroffen habe, Kolja«, wandte sich der Fürst an ihn. »Können Sie mir nicht helfen? Ich muß unter allen Umständen zu Nastasja Filippowna. Ich habe vorhin Ardalion Alexandrowitsch darum gebeten, mich hinzubringen; aber der ist ja nun eingeschlafen. Führen Sie mich hin; denn ich weiß hier mit den Straßen nicht Bescheid. Die Adresse habe ich übrigens: beim Großen Theater, im Haus der Frau Mytowzowa.«
»Nastasja Filippowna? Die hat überhaupt nie beim Großen Theater gewohnt, und der Vater ist nie bei ihr gewesen, wenn Sie das wissen wollen; ich wundere mich, daß Sie von ihm eine Unterstützung erwartet haben. Sie wohnt nicht weit von der Wladimirskaja-Straße, bei den Fünf Ecken; das ist von hier viel näher. Wollen Sie jetzt gleich hin? Es ist jetzt halb zehn. Wenn es Ihnen recht ist, will ich Sie hinführen.«
Der Fürst und Kolja gingen sogleich weg. Aber leider hatte der Fürst kein Geld, um eine Droschke zu nehmen, und so mußten sie den Weg zu Fuß machen.
»Ich hätte Sie gern mit Ippolit bekanntgemacht«, sagte Kolja; »er ist der älteste Sohn dieser Hauptmannsfrau in der Jacke und war im andern Zimmer; er ist krank und hat heute den ganzen Tag im Bett gelegen. Aber er ist so sonderbar; er hat eine sehr feine Empfindung, und ich glaube, er hätte sich vor Ihnen geschämt, weil Sie gerade zu einer solchen Szene gekommen waren ... Aber ich, ich schäme mich nicht so wie er, weil es sich bei mir um den Vater handelt und bei ihm um die Mutter, und das macht doch einen Unterschied, weil für das männliche Geschlecht in solchen Dingen nichts Entehrendes liegt. Übrigens hat diese Ansicht von einem Vorrang des männlichen Geschlechts auf diesem Gebiet vielleicht keine innere Begründung. Ippolit ist ein prächtiger Mensch, aber ein Sklave mancher vorgefaßten Meinungen.«
»Sie sagen, er ist schwindsüchtig?«
»Ja, ich glaube, daß es für ihn das beste wäre, wenn er bald stürbe. Ich würde mir an seiner Stelle jedenfalls den Tod wünschen. Ihm tun aber sein Bruder und seine Schwestern leid, die Kleinen, die Sie gesehen haben. Wenn es möglich wäre, wenn wir nur das nötige Geld hätten, dann würden wir beide, er und ich, uns eine besondere Wohnung mieten und uns von unseren Familien trennen. Das ist unser Ideal. Aber wissen Sie was? Als ich ihm vorhin von Ihrer Affäre mit Ganja erzählte, da wurde er ganz ärgerlich und sagte, wer eine Ohrfeige hinnehme und den Beleidiger nicht zum Duell herausfordere, der sei ein Lump. Er ist übrigens schrecklich reizbar; ich lasse mich nie mehr darauf ein, mit ihm zu disputieren. Also da hat Nastasja Filippowna Sie gleich zu sich eingeladen?«
»Das ist es ja eben, daß sie das nicht getan hat.«
»Aber wie können Sie dann zu ihr hingehen?« rief Kolja erstaunt und blieb sogar mitten auf dem Trottoir stehen. »Und ... und in diesem Anzug? Es ist doch da heute eine Abendgesellschaft nur für geladene Gäste!«
»Ich weiß auch tatsächlich nicht, wie ich Einlaß finden werde. Empfängt sie mich, gut; wenn nicht, nun, so ist die Sache eben mißglückt. Und was den Anzug angeht, was ist da zu machen?«
»Führt Sie denn eine besondere Angelegenheit dorthin? Oder gehen Sie nur hin, pour passer le temps in ›feiner Gesellschaft‹?«
»Nein, ich habe eigentlich ... das heißt, ich habe allerdings eine besondere Angelegenheit ... es ist schwer, das auszudrücken, aber ...«
»Nun, von welcher Art Ihre Angelegenheit genauer ist, das ist ja nur Ihre Sache; mir ist die Hauptsache, daß Sie sich da heute abend nicht einfach in die entzückende Gesellschaft von Kameliendamen, Generälen und Halsabschneidern eindrängen wollen. Wenn das Ihre Absicht wäre, dann würde ich (verzeihen Sie, Fürst!) Sie auslachen und verachten. Hier gibt es sehr wenige ehrenhafte Leute, und man kann eigentlich niemanden so recht von Herzen hochachten. Unwillkürlich gewöhnt man sich da, von oben auf sie herabzublicken, und dabei wollen sie doch alle respektiert sein; Warja in erster Linie. Und haben Sie wohl bemerkt, Fürst: in unserem Zeitalter sind alle Menschen Abenteurer! Ganz besonders bei uns in Rußland, in unserm lieben Vaterland. Und wie sich das alles so herausgebildet hat, das ist mir unbegreiflich. Alles schien so fest und solide zu sein; und jetzt? Da reden und schreiben nun die Leute überall. Sie decken Übelstände auf. Alle Leute sind bei uns damit beschäftigt, Übelstände aufzudecken. Die Eltern sind die ersten, die den Rückzug antreten und sich ihrer früheren moralischen Grundsätze schämen. In Moskau hat ein Vater seinem Sohn als Lebensregel aufgestellt, vor nichts zurückzuschrecken, wenn es sich darum handelt, Geld zu verdienen; die Sache ist bekanntlich in der Presse besprochen worden. Sehen Sie meinen Vater, den General, an! Was ist aus ihm geworden? Übrigens, wissen Sie was? Mir scheint, daß er ein ehrenhafter Mann ist; wahrhaftig, das glaube ich! Es liegt bei ihm nur an einer gewissen Lässigkeit und am Trinken. Wahrhaftig, so ist es! Er tut mir sogar leid; nur fürchte ich mich, das auszusprechen, weil mich sonst alle auslachen; aber wahrhaftig, er tut mir leid. Und was ist an ihnen, den Klugen, dran? Sie sind sämtlich Wucherer, alle ohne Ausnahme! Ippolit verteidigt den Wucher; er sagt, der sei eine Notwendigkeit, eine wirtschaftliche Erschütterung, eine Art Ebbe und Flut, hol's der Henker! Mir mißfällt das sehr an ihm; aber er verbleibt erbittert bei seiner Meinung. Denken Sie nur: seine Mutter, die Frau Hauptmann, bekommt Geld von meinem Vater und leiht es ihm dann wieder zu hohen Prozenten; ein ganz schändliches Benehmen! Und wissen Sie, daß die Mama, das heißt meine Mama, Nina Alexandrowna, Ippolit mit Geld, Kleidungsstücken, Wäsche und allem möglichen unterstützt und durch ihn zum Teil sogar auch die andern Kinder, weil die von ihrer Mutter vollständig vernachlässigt werden? Und Warja tut dasselbe.«
»Nun, sehen Sie wohl! Sie sagten, es gebe keine ehrenhaften, sittlich starken Menschen, und alle seien Wucherer; da haben Sie ja nun gleich ein paar sittlich starke Menschen: Ihre Mutter und Warja. Hier zu helfen, unter solchen Umständen zu helfen, ist das etwa nicht ein Zeichen sittlicher Kraft?«
»Warja tut es aus Ehrgeiz, aus Prahlsucht, um nicht hinter der Mutter zurückzubleiben; na, aber Mama, die tut es wirklich ... ich empfinde gegen sie Hochachtung. Ja, ich billige und achte eine solche Handlungsweise. Sogar Ippolit hat ein Gefühl dafür; aber er ist fast ganz verbittert. Zuerst wollte er sich darüber lustig machen und nannte es von Mamas Seite eine Gemeinheit; aber jetzt urteilt er manchmal doch anders darüber. Hm! Also Sie nennen das sittliche Kraft? Das will ich mir merken. Ganja weiß nichts davon; sonst würde er es Selbstverweichlichung nennen.«
»Ganja weiß nichts davon? Es scheint, daß Ganja auch sonst sehr vieles nicht weiß«, entfuhr es unwillkürlich dem Fürsten, der sehr nachdenklich geworden war.
»Und wissen Sie, Fürst: Sie gefallen mir sehr. Ihr Verhalten vorhin Ganja gegenüber kommt mir gar nicht aus dem Sinn.«
»Auch Sie gefallen mir sehr, Kolja.«
»Hören Sie mal, wie beabsichtigen Sie sich Ihr Leben hier einzurichten? Ich werde mir bald eine Beschäftigung verschaffen und etwas verdienen; dann könnten ja wir drei, ich, Sie und Ippolit, uns eine gemeinsame Wohnung mieten und zusammen leben; und meinen Vater würden wir dann zu uns nehmen.«
»Mit dem größten Vergnügen. Aber darüber können wir erst später reden. Ich bin jetzt sehr ... sehr zerstreut. Wie? Sind wir schon da? In diesem Haus ...? Das ist ja ein großartiges Portal! Und ein Portier! Nun, Kolja, ich weiß nicht, was daraus werden wird.«
Der Fürst stand ganz fassungslos da.
»Morgen werden Sie mir alles erzählen! Seien Sie nur nicht zu schüchtern! Ich wünsche Ihnen von Herzen guten Erfolg; denn ich bin in allen Dingen derselben Ansicht wie Sie. Leben Sie wohl! Ich gehe wieder zu der Hauptmannsfamilie zurück und werde es Ippolit erzählen. Daß sie Sie empfangen wird, daran ist gar nicht zu zweifeln; da brauchen Sie keine Besorgnisse zu haben. Sie ist eine höchst eigenartige Frau. Diese Treppe hier hinauf, in der ersten Etage. Der Portier wird Ihnen schon Bescheid sagen.«
Der Fürst befand sich, als er die Treppe hinaufstieg, doch in großer Unruhe und suchte sich mit aller Kraft Mut zu machen. »Das Schlimmste«, dachte er, »kann doch nur sein, daß sie mich nicht empfängt und irgend etwas Schlechtes von mir denkt, oder auch vielleicht, daß sie mich empfängt und mir ins Gesicht lacht ... Ach was! Daraus will ich mir nichts machen!« Und in der Tat ängstigte ihn dies nicht so besonders; aber die Frage, warum er eigentlich dorthin gehe und was er dort machen wolle, auf diese Frage fand er schlechterdings keine befriedigende Antwort.
Selbst wenn es ihm irgendwie gelänge, eine günstige Gelegenheit abzupassen und zu Nastasja Filippowna zu sagen: »Heiraten Sie diesen Menschen nicht und richten Sie sich nicht zugrunde; er liebt Sie nicht; er liebt nur Ihr Geld; das hat er selbst zu mir gesagt, und auch Aglaja Jepantschina hat es zu mir gesagt, und ich bin hergekommen, um Sie davon in Kenntnis zu setzen«, so würde, sagte er sich, auch das nicht in jeder Beziehung korrekt sein. Und noch eine andere ungelöste Frage trat ihm vor die Seele, eine so wichtige Frage, daß der Fürst sich sogar fürchtete, an sie auch nur zu denken, gar nicht wagte, sie als zulässig zu betrachten und zu formulieren, sondern bei dem bloßen Gedanken an sie errötete und zu zittern begann. Aber das Ende war doch, daß er trotz all dieser Befürchtungen und Zweifel eintrat und nach Nastasja Filippowna fragte.
Nastasja Filippowna hatte eine nicht sehr große, aber wirklich prachtvoll ausgestattete Wohnung inne. In den fünf Jahren ihres Petersburger Aufenthalts hatte es eine Zeit gegeben (das war gleich am Anfang gewesen), wo Afanasi Iwanowitsch ganz besonders viel Geld für sie aufwandte; er rechnete damals noch auf ihre Liebe und hoffte, sie namentlich durch Komfort und Luxus zu betören; denn er wußte, wie leicht man sich an den Luxus gewöhnt, und wie schwer es einem nachher fällt, auf ihn zu verzichten, wenn er allmählich zum notwendigen Bedürfnis geworden ist. In dieser Hinsicht blieb Tozki den alten, guten Traditionen treu und änderte nichts an ihnen, da er die unüberwindliche Macht der sinnlichen Eindrücke außerordentlich hoch anschlug. Nastasja Filippowna verhielt sich gegen den Luxus nicht ablehnend, sie liebte ihn sogar; aber (und dies erschien sehr merkwürdig) sie ließ sich von ihm nicht unterjochen, sondern machte den Eindruck, als könne sie ihn auch jeden Augenblick entbehren; sie sprach das sogar mehrmals absichtlich aus, wovon Tozki sich unangenehm berührt fühlte. Übrigens hatte Nastasja Filippowna gar manches an sich, wovon Afanasi Iwanowitsch nicht sonderlich erbaut war, ein Gefühl, das sich in der Folgezeit sogar bis zur Verachtung steigerte. Ganz abgesehen davon, daß sie manchmal, und offenbar aus persönlicher Neigung, Leute an sich heranzog, die das Gegenteil von elegant waren, traten bei ihr auch noch einige andere ganz seltsame Neigungen hervor: Es zeigte sich eine barbarische Vermischung zweier verschiedener Geschmacksrichtungen, ferner eine Fähigkeit, auf gewisse Genüsse zu verzichten und sich statt dessen mit andern zu begnügen, die ein anständiger, feingebildeter Mensch als gar nicht vorhanden betrachtet. In der Tat, hätte (um ein Beispiel anzuführen) Nastasja Filippowna irgendeine liebenswürdige, vornehme Unwissenheit bekundet, etwa eine Unkenntnis der Tatsache, daß Bäuerinnen nicht weißen Batist tragen können, wie sie ihn trug, so wäre Afanasi Iwanowitsch damit wohl ganz zufrieden gewesen. Auf solche Resultate zielte ursprünglich nach Tozkis Programm, der auf diesem Gebiet ein großer Sachverständiger war, Nastasja Filippownas ganze Erziehung ab; aber leider kamen statt dessen ganz sonderbare Resultate zutage. Trotzdem jedoch lagen in Nastasja Filippownas Wesen noch manche Eigenschaften, die mitunter sogar Afanasi Iwanowitsch selbst durch ihre ungewöhnliche, reizvolle Originalität und ihre urwüchsige Kraft anzogen und ihn bisweilen auch jetzt noch entzückten, wo schon all seine früheren Spekulationen auf Nastasja Filippowna zusammengestürzt waren.
Dem Fürsten öffnete ein Mädchen (Nastasja Filippowna hielt sich stets nur weibliche Dienerschaft) und hörte zu seiner Verwunderung seine Bitte, ihn zu melden, ohne jedes Erstaunen an. Weder seine schmutzigen Stiefel, noch sein breitkrempiger Hut, noch sein ärmelloser Mantel, noch seine verlegene Miene machten sie auch nur im geringsten stutzig. Sie nahm ihm den Mantel ab, forderte ihn auf, im Wartezimmer zu warten, und ging sogleich hin, um ihn zu melden.
Die Gesellschaft, die sich bei Nastasja Filippowna versammelt hatte, bestand aus ihren gewöhnlichen Bekannten, die immer bei ihr verkehrten. Es waren sogar nur ziemlich wenige Gäste anwesend im Vergleich mit den Veranstaltungen, die in früheren Jahren an demselben Tag stattgefunden hatten. Erschienen waren erstens und als die Hauptpersonen Afanasi Iwanowitsch Tozki und Iwan Fjodorowitsch Jepantschin; beide benahmen sich sehr liebenswürdig; aber beide befanden sich in einer gewissen geheimen Unruhe infolge der nur schlecht verhehlten Spannung wegen der versprochenen Entscheidung in betreff Ganjas. Außer ihnen war selbstverständlich auch Ganja da – sehr düster, nachdenklich und höchst »ungalant«; er stand meist in einiger Entfernung abseits und schwieg. Was Warja anlangt, so hatte er sich dafür entschieden, sie lieber nicht mitzubringen; aber Nastasja Filippowna tat ihrer gar nicht Erwähnung; dagegen fing sie unmittelbar nach Ganjas Begrüßung an, von der Szene zu sprechen, die er vorher mit dem Fürsten gehabt hatte. Der General, der noch nichts davon gehört hatte, interessierte sich sehr dafür. Ganja erzählte in trockenem, ruhigem Ton, aber vollkommen wahrheitsgemäß alles, was sich vor kurzem begeben hatte, und daß er bereits zum Fürsten hingegangen sei, um ihn um Verzeihung zu bitten. Dabei sprach er mit großer Lebhaftigkeit seine Meinung dahin aus, wenn man den Fürsten einen Idioten nenne, so sei das sehr sonderbar und ein Grund dafür unerfindlich; er sei über ihn vollständig entgegengesetzter Ansicht und halte ihn für einen sehr selbständig denkenden Menschen. Nastasja Filippowna hörte diese Äußerung mit großer Aufmerksamkeit an und verfolgte neugierig Ganjas Mienenspiel; aber das Gespräch ging sogleich auf Rogoschin über, der bei den Vorgängen des Vormittags so stark beteiligt gewesen war und für welchen Afanasi Iwanowitsch und Iwan Fjodorowitsch sich gleichfalls äußerst lebhaft zu interessieren begannen. Besondere Mitteilungen über Rogoschin zu machen, war, wie sich herausstellte, Ptizyn in der Lage, der sich in dessen geschäftlichen Angelegenheiten mit ihm zusammen fast bis neun Uhr abends abgemüht hatte. Rogoschin hatte mit aller Energie darauf bestanden, noch heute hunderttausend Rubel zu bekommen. »Er war allerdings betrunken«, bemerkte Ptizyn dabei, »aber trotz aller Schwierigkeiten werden die hunderttausend Rubel wohl für ihn beschafft werden; nur weiß ich nicht, ob heute noch alle; aber es arbeiten viele daran, Trepalow, Kinder, Biskup; Prozente gibt er, soviel einer verlangt, natürlich alles in der Betrunkenheit und in der ersten Freude ...«, schloß Ptizyn. Alle diese Mitteilungen wurden mit Interesse entgegengenommen, zum Teil allerdings mit düsterem Interesse; Nastasja Filippowna schwieg und wünschte offenbar nicht, sich zu äußern; auch Ganja redete nicht. General Jepantschin beunruhigte sich im stillen nicht weniger als die andern; der Perlenschmuck, den er schon am Vormittag überreicht hatte, war mit sehr kühler Freundlichkeit und sogar mit einem eigentümlichen Lächeln in Empfang genommen worden. Ferdyschtschenko war von allen Gästen der einzige, der sich in heiterer, festtäglicher Stimmung befand; er lachte manchmal laut ohne sichtbaren Grund, lediglich weil er auf eigene Faust die Rolle des Spaßmachers übernommen hatte. Afanasi Iwanowitsch selbst, der für einen geistreichen, eleganten Plauderer galt und in früherer Zeit bei diesen Abendgesellschaften gewöhnlich das Gespräch geleitet hatte, befand sich offenbar nicht in der rechten Stimmung und sogar in einer ihm sonst fremden Verwirrung. Die andern Gäste, die übrigens wenig zahlreich waren (ein jämmerlicher, alter Lehrer, der Gott weiß weshalb eingeladen war; ein unbekannter, sehr jugendlicher Mensch, der furchtbar schüchtern war und die ganze Zeit über schwieg; eine gewandte, etwa vierzigjährige Dame, Schauspielerin; und eine außerordentlich hübsche, sehr schön und luxuriös gekleidete und überaus stille junge Frau), vermochten das Gespräch nicht sonderlich zu beleben, ja, sie wußten manchmal gar nicht, wovon sie sprechen sollten. Unter diesen Umständen kam das Erscheinen des Fürsten sogar sehr gelegen. Die Meldung von seiner Ankunft rief einige Verwunderung und ein eigentümliches Lächeln hervor, namentlich als die Gäste an Nastasja Filippownas erstauntem Gesicht merkten, daß es ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, ihn einzuladen. Aber nach diesem ersten Erstaunen bekundete Nastasja Filippowna auf einmal eine solche Freude, daß die Mehrzahl der Anwesenden sich sogleich anschickte, den unerwarteten Gast mit Lachen und Heiterkeit zu empfangen.
»Er tut das allerdings aus Naivität«, bemerkte Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, »und es ist jedenfalls nicht ungefährlich, solche Neigungen zu ermutigen; aber im gegenwärtigen Augenblick ist es wirklich nicht übel, daß er auf den Einfall gekommen ist, hier zu erscheinen, wenn auch in so origineller Manier. Er wird vielleicht zu unserer Erheiterung beitragen, soweit ich wenigstens über ihn urteilen kann.«
»Das muß er um so mehr, da er sich eingedrängt hat!« fügte Ferdyschtschenko rasch hinzu.
»Wie soll das damit zusammenhängen?« fragte der General trocken, der Ferdyschtschenko nicht leiden konnte.
»Er muß eben Eintrittsgeld bezahlen«, erwiderte dieser erläuternd.
»Nun, Fürst Myschkin ist denn doch kein Ferdyschtschenko«, konnte sich der General nicht enthalten zu entgegnen. Er konnte sich immer noch nicht darein finden, daß er sich mit Ferdyschtschenko in ein und derselben Gesellschaft befinden und mit ihm auf gleichem Fuß verkehren sollte.
»Ei, ei, General, vergreifen Sie sich nicht an Ferdyschtschenko«, antwortete dieser schmunzelnd. »Ich habe hier meine besonderen Privilegien.«
»Was für Privilegien?«
»Ich hatte das vorige Mal die Ehre, es der Gesellschaft ausführlich auseinanderzusetzen, und will es jetzt für Euer Exzellenz noch einmal wiederholen. Wollen Euer Exzellenz folgendes erwägen: alle Menschen sind geistreich; nur ich besitze diese Eigenschaft nicht. Zum Ausgleich habe ich mir die Erlaubnis erwirkt, die Wahrheit sagen zu dürfen, da allen bekannt ist, daß die Wahrheit nur Leute sagen, denen es an Geist mangelt. Außerdem bin ich ein sehr rachsüchtiger Mensch, und zwar wieder eben deswegen, weil ich nicht geistreich bin. Ich ertrage demütig jede Beleidigung, aber nur so lange, bis es meinem Beleidiger einmal schiefgeht; sowie das eintritt, erinnere ich mich sofort an die Beleidigung und räche mich irgendwie; ich schlage aus, wie Iwan Petrowitsch Ptizyn einmal von mir sagte, der natürlich für seine Person nie gegen jemand ausschlägt. Kennen Euer Exzellenz die Krylowsche Fabel ›Der Löwe und der Esel‹? Na, die paßt auf uns beide, auf Sie und mich; die ist auf uns zugeschnitten.«
»Sie sind wohl wieder einmal ins Faseln gekommen, Ferdyschtschenko!« fuhr der General auf.
»Aber was haben Sie denn, Exzellenz?« erwiderte Ferdyschtschenko, der darauf gerechnet hatte, ein Wortgefecht herbeizuführen und weiter zu salbadern. »Beunruhigen Sie sich nicht, Exzellenz; ich kenne meinen Platz: wenn ich sagte, daß Sie und ich der Löwe und der Esel aus der Krylowschen Fabel seien, so übernehme ich natürlich die Rolle des Esels und Euer Exzellenz die des Löwen, wie es ja auch in der Krylowschen Fabel heißt:
›Der mächt'ge Leu, der einst die Wälder
Erschreckte, war nun altersschwach.‹
Ich aber, Exzellenz, bin der Esel.«
»Mit letzterem bin ich einverstanden«, platzte der General heraus.
Alles, was Ferdyschtschenko da sagte, war ja plump, absichtlich plump; aber es war nun einmal üblich geworden, daß man Ferdyschtschenko die Rolle eines Clowns spielen ließ.
»Nur deshalb verstattet man mir ja hier den Zutritt und duldet mich«, hatte Ferdyschtschenko einmal erklärt, »damit ich in diesem Genre rede. In der Tat, könnte man sonst einen Menschen von meiner Art empfangen? Ich begreife ja das alles. Na, kann man etwa mich, den armseligen Ferdyschtschenko, neben einen so feinen Gentleman wie Afanasi Iwanowitsch setzen? Wenn man es doch tut, so gibt es dafür nur eine Erklärung: man tut es eben deshalb, weil es undenkbar ist.«
Aber wenn er auch gewöhnlich plump war, so war er doch auch oft bissig und manchmal sogar in hohem Grade, und das war es, woran Nastasja Filippowna Gefallen zu finden schien. Wer bei ihr zu verkehren wünschte, dem blieb nichts anderes übrig, als diesen Ferdyschtschenko zu ertragen. Er hatte vielleicht die volle Wahrheit erraten, als er die Vermutung ausgesprochen hatte, daß sie ihn deswegen empfange, weil er gleich bei seiner ersten Anwesenheit durch sein Wesen auf Tozki einen unerträglichen Eindruck gemacht hatte. Ganja seinerseits mußte sich von ihm eine endlose Reihe von Martern gefallen lassen, und in dieser Hinsicht wußte sich Ferdyschtschenko seiner Gönnerin sehr nützlich zu machen.
»Zuerst werde ich vom Fürsten verlangen, daß er uns ein modernes Lied vorsingt«, bemerkte Ferdyschtschenko und paßte auf, was Nastasja Filippowna dazu sagen werde.
»Ich glaube nicht, daß er das tun wird, Ferdyschtschenko, und möchte Sie bitten, nicht zu sehr ins Zeug zu gehen.«
»Ah, ah! Nun, wenn er unter Ihrem besonderen Schutz steht, dann werde auch ich mich erweichen lassen ...«
Aber Nastasja Filippowna stand, ohne auf ihn zu hören, auf und ging selbst dem Fürsten entgegen.
»Ich habe bedauert«, sagte sie, vor ihn hintretend, »daß ich vorhin in der Eile vergessen habe, Sie einzuladen, und ich freue mich sehr, daß Sie mir jetzt selbst die Gelegenheit geben, Ihr entschlossenes Verhalten zu loben und Ihnen dafür zu danken.«
Während sie das sagte, blickte sie den Fürsten forschend an, bemüht, über den Grund seines Kommens Klarheit zu erlangen.
Der Fürst hätte auf ihre freundlichen Worte vielleicht etwas erwidert; aber er war dermaßen von ihrer Erscheinung überrascht und geblendet, daß er kein Wort herausbringen konnte. Nastasja Filippowna bemerkte dies mit Vergnügen. Sie war an diesem Abend in großer Toilette und machte einen außerordentlich starken Eindruck. Sie ergriff ihn bei der Hand und führte ihn zu den Gästen. Unmittelbar vor dem Eingang in den Salon blieb der Fürst plötzlich stehen und flüsterte ihr in großer Erregung hastig zu:
»An Ihnen ist alles vollkommen ... sogar Ihre Magerkeit und Blässe ... man möchte Sie sich gar nicht anders vorstellen ... Ich hatte ein so starkes Verlangen, zu Ihnen zu gehen ... ich ... verzeihen Sie mir ...«
»Bitten Sie nicht um Verzeihung!« erwiderte Nastasja Filippowna lachend, »dadurch wird Ihre ganze Sonderbarkeit und Originalität zerstört. Und es wird doch mit Recht über Sie gesagt, daß Sie ein sonderbarer Mensch seien. Also Sie halten mich für vollkommen, ja?«
»Ja.«
»Sie sind zwar sonst ein Meister im Erraten; aber hier haben Sie sich doch geirrt. Ich werde Sie noch heute daran erinnern.«
Sie stellte den Fürsten den Gästen vor, von denen er der größeren Hälfte bereits bekannt war. Tozki sagte ihm sogleich eine Liebenswürdigkeit. Alle schienen etwas lebendiger zu werden; alle begannen auf einmal zu reden und zu lachen. Nastasja Filippowna wies dem Fürsten einen Platz an ihrer Seite an.
»Aber was ist denn eigentlich an dem Erscheinen des Fürsten so Verwunderliches?« überschrie Ferdyschtschenko alle. »Die Sache ist doch klar; die Sache spricht für sich selbst!«
»Die Sache ist nur zu klar und spricht nur zu sehr für sich selbst!« sagte auf einmal Ganja, der bisher geschwiegen hatte. »Ich habe den Fürsten heute fast ununterbrochen beobachtet, von dem Augenblick an, als er in Iwan Fjodorowitschs Wohnung zum erstenmal Nastasja Filippownas Bild auf dem Tisch liegen sah. Ich erinnere mich sehr genau, daß mir gleich dabei ein Gedanke an das kam, was mir jetzt zur vollen Überzeugung geworden ist und was mir, beiläufig gesagt, der Fürst selbst gestanden hat!«
Ganja hatte das alles sehr ernst, ohne die geringste Spur von Scherzhaftigkeit, ja mit finsterer Miene gesagt, was einen ziemlich seltsamen Eindruck machte.
»Ich habe Ihnen keine Geständnisse gemacht«, antwortete der Fürst errötend; »ich habe nur eine Frage beantwortet, die Sie an mich richteten.«
»Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko. »Das ist wenigstens aufrichtig gesprochen, aufrichtig und zugleich schlau!«
Alle lachten laut.
»Schreien Sie doch nicht so, Ferdyschtschenko!« sagte Ptizyn unwillig halblaut zu ihm.
»Solche Bravourstücke hätte ich wahrhaftig nicht von Ihnen erwartet, Fürst«, bemerkte Iwan Fjodorowitsch. »Zu welcher Menschenklasse muß man Sie danach rechnen? Und ich hatte Sie für einen Philosophen gehalten! Ja, ja, die stillen Wässerchen!«
»Und daraus, daß der Fürst bei einem harmlosen Scherz rot wird wie ein unschuldiges junges Mädchen, schließe ich, daß er als ein ehrenwerter Jüngling in seinem Herzen die löblichsten Absichten hegt«, sagte oder, richtiger, lispelte auf einmal ganz unerwartet der zahnlose siebzigjährige Lehrer, der bis dahin vollständig stumm gewesen war und von dem niemand hatte erwarten können, daß er im Laufe dieses Abends überhaupt ein Wort reden würde.
Alle lachten nur noch mehr. Der Alte, der wahrscheinlich glaubte, man lache über seine geistreiche Bemerkung, begann, alle ansehend, noch stärker als sie zu lachen, wobei er in ein heftiges Husten hineingeriet, so daß Nastasja Filippowna, die wunderlicherweise zu all solchen originellen Greisen, Greisinnen und selbst Halbnarren eine besondere Zuneigung hatte, sogleich anfing, ihn zu liebkosen und zu küssen, und ihm noch Tee reichen ließ. Von der eintretenden Dienerin ließ sie sich eine Mantille bringen, in die sie sich einhüllte; auch gab sie Befehl, noch Holz im Kamin nachzulegen. Auf die Frage, wie spät es sei, antwortete die Dienerin, es sei schon halb elf.
»Meine Herrschaften, wollen Sie nicht Champagner trinken?« schlug Nastasja Filippowna plötzlich vor. »Ich habe alles vorbereiten lassen. Vielleicht wird Sie das lustiger machen. Bitte, ohne sich zu genieren!«
Die Einladung zu trinken, und namentlich in so naiven Ausdrücken, machte sich von Nastasja Filippownas Seite recht sonderbar. Alle kannten die strenge Etikette, die auf ihren früheren Abendgesellschaften geherrscht hatte. Überhaupt gestaltete sich dieser Abend lustiger, aber in ungewöhnlicher Weise. Die Aufforderung zum Champagnertrinken lehnten die Gäste nicht ab; zuerst nahm sie der General an, dann die gewandte Dame, der alte Lehrer, Ferdyschtschenko, danach alle andern. Auch Tozki griff nach einem Glas, in der Hoffnung, dem neuen Ton, der jetzt angeschlagen war, dadurch eine gewisse harmonische Färbung zu verleihen, daß er ihm nach Möglichkeit den Charakter eines liebenswürdigen Scherzes gab. Ganja war der einzige, der nichts trank. Aus den sonderbaren, mitunter sehr scharfen und hastigen, ausfälligen Bemerkungen Nastasja Filippownas, die sich ebenfalls Champagner geben ließ und erklärte, sie werde an diesem Abend drei große Gläser voll trinken, und aus ihrem hysterischen, grundlosen Lachen, das dann plötzlich mit Schweigsamkeit und sogar mit düsterer Nachdenklichkeit wechselte, aus alledem war schwer klug zu werden. Manche vermuteten, sie hätte Fieber; schließlich merkte man, daß sie anscheinend auf etwas wartete, oft nach der Uhr sah und ungeduldig und zerstreut wurde.
»Sie scheinen ein bißchen zu fiebern?« fragte die gewandte Dame.
»Nicht nur ein bißchen, sondern vielmehr recht stark; darum habe ich mich auch in die Mantille gewickelt«, antwortete Nastasja Filippowna, die tatsächlich blasser geworden war und ab und zu ein heftiges Zittern in ihrem Körper zu unterdrücken schien.
Alle Gäste gerieten in Unruhe und Bewegung.
»Sollten wir nicht unserer Wirtin Ruhe gönnen?« sagte Tozki, indem er Iwan Fjodorowitsch ansah.
»Durchaus nicht, meine Herrschaften! Ich bitte Sie dringend, sitzenzubleiben. Ihre Anwesenheit ist besonders heute für mich ein Ding der Notwendigkeit«, erklärte Nastasja Filippowna nachdrücklich und bedeutsam.
Und da fast alle Gäste schon wußten, daß an diesem Abend eine sehr wichtige Entscheidung gefällt werden sollte, so erschienen diese Worte besonders schwerwiegend. Der General und Tozki wechselten wieder einen Blick miteinander. Ganja machte krampfhafte Bewegungen.
»Es wäre ganz nett, wenn wir ein Gesellschaftsspiel spielten«, sagte die gewandte Dame.
»Ich kenne ein prachtvolles, neues Gesellschaftsspiel«, erklärte Ferdyschtschenko. »Ich weiß nur von einem Fall, wo es auf der Welt gespielt wurde, und auch da gelang es nicht.«
»Was ist das für ein Spiel?« fragte die gewandte Dame.
»Wir waren einmal ein ganze Gesellschaft zusammen, nun, und wir hatten ein bißchen getrunken, das ist richtig, und da machte einer den Vorschlag, es sollte jeder von uns, ohne vom Tisch aufzustehen, laut etwas von sich erzählen, aber etwas, was er selbst nach bestem Wissen und Gewissen für die schlechteste Handlung von allen schlechten Handlungen halte, die er im Laufe seines ganzen Lebens begangen habe; aber Vorschrift solle dabei sein, daß wahrheitsgemäß erzählt werden müsse; das war die Hauptsache: jeder sollte wahrheitsgemäß erzählen und nicht lügen.«
»Eine sonderbare Idee«, sagte der General.
»Sehr sonderbar allerdings, Exzellenz, aber eben darum gut.«
»Ein komischer Gedanke«, meinte Tozki, »der übrigens begreiflich ist: es steckt eine eigenartige Renommage dahinter.«
»Vielleicht war gerade das die Absicht, Afanasi Iwanowitsch.«
»Aber bei einem solchen Gesellschaftsspiel kommt man ja zum Weinen und nicht zum Lachen«, bemerkte die gewandte Dame.
»Eine ganz unmögliche, absurde Sache!« rief Ptizyn.
»Und ist es denn gelungen?« fragte Nastasja Filippowna.
»Das ist es ja eben, daß es nicht gelang; die Geschichte wurde schließlich widerwärtig. Jeder erzählte wirklich etwas, viele die Wahrheit, und denken Sie sich: manche erzählten sogar mit Vergnügen. Aber dann fing ein jeder an, sich zu schämen, und das Spiel konnte nicht weiter durchgeführt werden! Im ganzen war es übrigens recht vergnüglich, das heißt, in seiner Art.«
»Nein, wirklich, das wäre schön!« bemerkte Nastasja Filippowna, die auf einmal ganz lebendig wurde. »Das sollten wir wirklich probieren, meine Herrschaften! Wir scheinen in der Tat nicht in besonders heiterer Stimmung zu sein. Wenn jeder von uns damit einverstanden wäre, etwas zu erzählen ... etwas in dieser Art ... selbstverständlich nur, wenn er einverstanden ist ... jeder muß seinen freien Willen haben, nicht wahr? Vielleicht können wir es durchführen. Wenigstens ist es sehr originell.«
»Ja, es ist ein genialer Gedanke!« fügte Ferdyschtschenko bekräftigend hinzu. »Die Damen sind übrigens dispensiert; die Herren machen den Anfang; die Ordnung wird durch das Los bestimmt, wie wir es auch damals machten! Wir wollen es unbedingt tun, unbedingt! Wer absolut nicht will, braucht natürlich nicht zu erzählen; aber dazu müßte schon einer besonders unliebenswürdig sein! Geben Sie Ihre Lose her, meine Herren, hierher, mir; legen Sie sie in meinen Hut; der Fürst wird sie ziehen. Es ist eine ganz leichte Aufgabe, die schlechteste Handlung aus seinem ganzen Leben zu erzählen – das ist sehr leicht, meine Herren! Nun, Sie werden ja selbst sehen! Wenn aber jemand etwas vergessen sollte, so werde ich sogleich seinem Gedächtnis zu Hilfe kommen.«
Die Idee war höchst sonderbar und gefiel fast niemandem. Die einen machten finstere Gesichter; andere lächelten schlau. Manche erhoben Einwendungen, wiewohl nicht sehr energisch, so zum Beispiel Iwan Fjodorowitsch, der Nastasja Filippowna nicht hinderlich sein mochte und bemerkte, wie sehr dieser sonderbare Einfall, vielleicht eben deswegen, weil er sonderbar und beinah undurchführbar war, sie reizte. Wenn Nastasja Filippowna sich einmal entschlossen hatte, ihre Wünsche auszusprechen, so ließ sie sich auch nicht mehr zurückhalten und kannte keine Rücksichten, mochten auch diese Wünsche noch so kapriziös und für sie selbst ganz nutzlos sein. Und jetzt befand sie sich in einer Art von hysterischem Zustand; sie entwickelte eine unruhige Geschäftigkeit und lachte krampfhaft und in einzelnen Anfällen, namentlich bei den Einwendungen des beunruhigten Tozki. Ihre dunklen Augen funkelten; auf ihren blassen Wangen traten zwei rote Flecken hervor. Der bedrückte, mürrische Gesichtsausdruck mancher ihrer Gäste steigerte ihren spottlustigen Wunsch vielleicht noch mehr; vielleicht gefielen ihr gerade der Zynismus und die Grausamkeit, die in dieser Idee lagen. Manche waren sogar überzeugt, daß sie da einen besonderen Zweck verfolge. Indessen begannen die Gäste, sich einverstanden zu erklären: jedenfalls war die Sache interessant und für viele sogar sehr verlockend. Am eifrigsten von allen zeigte sich Ferdyschtschenko.
»Aber wenn nun etwas von der Art ist, daß man es in Damengesellschaft unmöglich erzählen kann?« bemerkte der schweigsame Jüngling schüchtern.
»Dann erzählen Sie es nicht! Als ob es nicht auch ohne das genug schlechte Handlungen gäbe!« erwiderte Ferdyschtschenko. »Ei, ei, Sie junger Mann!«
»Aber ich weiß gar nicht, welche meiner Handlungen ich für die schlechteste halten soll«, warf die gewandte Dame ein.
»Die Damen sind von der Pflicht, zu erzählen, dispensiert«, wiederholte Ferdyschtschenko, »aber eben nur dispensiert: wenn sie sich aus freien Stücken dazu erbieten, so wird das mit dankbarer
Anerkennung aufgenommen. Die Herren aber werden nur dispensiert, wenn sie durchaus nicht wollen.«
»Aber wie soll ich da beweisen, daß ich nicht lüge?« fragte Ganja. »Wenn ich aber lüge, so verliert das ganze Spiel seinen Sinn. Und wer wird denn nicht lügen? Jeder wird es unfehlbar tun.«
»Aber auch das ist schon reizvoll, zu sehen, wie jemand dann lügt. Und was dich betrifft, Ganja, so brauchst du dich vor dem Lügen nicht besonders zu fürchten, da deine schlechteste Handlung sowieso schon allen bekannt ist. Und denken Sie nur, meine Herrschaften«, rief Ferdyschtschenko ganz enthusiastisch, »denken Sie nur, mit was für Augen wir nachher einander ansehen werden, zum Beispiel morgen, nach diesen Erzählungen!«
»Aber ist's möglich? Soll denn das wirklich Ernst sein, Nastasja Filippowna?« fragte Tozki würdevoll.
»Wer sich vor dem Wolf fürchtet, soll nicht in den Wald gehen!« versetzte Nastasja Filippowna lächelnd.
»Aber erlauben Sie, Herr Ferdyschtschenko, wie kann man denn daraus ein Gesellschaftsspiel machen?« fuhr Tozki, der immer unruhiger wurde, fort. »Ich versichere Ihnen, daß solche Dinge nie gelingen;
Sie sagen ja selbst, daß es schon einmal mißglückt ist.«
»Wieso mißglückt? Ich habe das vorige Mal erzählt, wie ich drei Rubel gestohlen habe; das habe ich ganz einfach und ohne weiteres erzählt!«
»Wenn auch. Aber Sie konnten es doch unmöglich so erzählen, daß es wahrscheinlich klang und man es Ihnen glaubte. Und Gawrila Ardalionowitsch hat ganz richtig bemerkt, daß das Spiel jeden Sinn verliert, sobald man der Erzählung anzumerken glaubt, daß sie nicht wahr ist. Die Wahrheit wird dabei nur dann gesagt werden, wenn sich jemand zufällig in einer eigenartigen, unfeinen, prahlerischen Stimmung befindet, eine Stimmung, die hier undenkbar ist und durchaus unpassend sein würde.«
»Aber was sind Sie für ein feinfühliger Mensch, Afanasi Iwanowitsch! Sie setzen mich geradezu in Erstaunen!« rief Ferdyschtschenko. »Denken Sie nur, meine Herrschaften, durch seine Bemerkung, ich hätte von meinem Diebstahl nicht so erzählen können, daß es glaubhaft geklungen habe, deutet Afanasi Iwanowitsch auf die feinste Weise an, daß ich den Diebstahl auch tatsächlich nicht ausgeführt haben könne (denn das so geradeheraus laut zu sagen, wäre unpassend), obwohl er vielleicht im stillen ganz davon überzeugt ist, daß Ferdyschtschenko es sehr wohl habe fertigbringen können, zu stehlen! Aber zur Sache, meine Herren, zur Sache; die Lose sind eingesammelt, und auch Sie, Afanasi Iwanowitsch, haben das ihrige hineingelegt; also schließt sich niemand aus. Nun nehmen Sie die Ziehung vor, Fürst!«
Der Fürst fuhr schweigend mit der Hand in den Hut und zog die Lose heraus.
Als erstes das Ferdyschtschenkos, als zweites das Ptizyns, als drittes das des Generals, als viertes das Afanasi Iwanowitschs, als fünftes das seinige, als sechstes das Ganjas und so weiter. Die Damen hatten keine Lose hineingelegt.
»O Gott, welches Malheur!« rief Ferdyschtschenko. »Und ich hatte gedacht, zuerst würde der Fürst darankommen und dann der General! Aber Gott sei Dank, wenigstens kommt Iwan Petrowitsch nach mir; da werde ich für meine Offenherzigkeit entschädigt werden. Nun, meine Herren, ich bin natürlich verpflichtet, ein gutes Beispiel zu geben; aber am meisten bedaure ich in diesem Augenblick, daß ich ein so unbedeutender Mensch bin und nichts Bemerkenswertes an mir habe; selbst meine dienstliche Rangstellung ist eine ganz niedrige; was für ein Interesse kann es denn erwecken, daß Ferdyschtschenko eine häßliche Handlung begangen hat? Und welches ist denn meine schlechteste Handlung? Da liegt ein embarras de richesse vor. Soll ich etwa wieder von demselben Diebstahl erzählen, um Afanasi Iwanowitsch davon zu überzeugen, daß man stehlen kann, ohne eigentlich ein Dieb zu sein ...?«
»Sie überzeugen mich auch davon, Herr Ferdyschtschenko, daß man tatsächlich ein bis zur Berauschtheit gehendes Vergnügen empfinden kann, wenn man von seinen unsauberen Handlungen erzählt, obwohl man nicht danach gefragt ist ... Übrigens aber ... Verzeihen Sie, Herr Ferdyschtschenko!«
»Fangen Sie an, Ferdyschtschenko! Sie schwatzen schrecklich viel unnützes Zeug und werden nie zu Ende kommen!« befahl Nastasja Filippowna gereizt und ungeduldig.
Alle bemerkten, daß sie nach ihrem anfallartigen Lachen von vorhin plötzlich geradezu düster, mürrisch und reizbar geworden war; aber nichtsdestoweniger bestand sie hartnäckig und despotisch darauf, daß ihrer absurden Laune gehorcht werde. Afanasi Iwanowitsch litt arge Qual. Er war auch auf Iwan Fjodorowitsch wütend, der, als wäre nichts geschehen, beim Champagner saß und vielleicht sogar etwas zu erzählen beabsichtigte, wenn er an die Reihe kommen würde.
»Ich bin eben nicht geistreich, Nastasja Filippowna; daher schwatze ich unnützes Zeug!« rief Ferdyschtschenko und schickte sich an zu erzählen. »Wäre ich so geistreich wie Afanasi Iwanowitsch oder Iwan Petrowitsch, so würde ich heute wie diese beiden Herren schweigend dasitzen. Gestatten Sie eine Frage, Fürst: wie denken Sie darüber? Ich bin der Meinung, daß es auf der Welt weit mehr Diebe gibt als Leute, die keine Diebe sind, und daß es keinen so ehrenhaften Menschen gibt, der nicht wenigstens einmal in seinem Leben etwas gestohlen hätte. Das ist meine Anschauung, aus der ich übrigens keineswegs den Schluß ziehe, daß alle ohne Ausnahme Diebe sind, obwohl ich wirklich manchmal die größte Lust hätte, das daraus zu folgern. Wie denken Sie darüber?«
»Pfui, wie dumm reden Sie!« rief Darja Alexejewna, »und was ist das für Unsinn! Es ist undenkbar, daß alle Menschen etwas gestohlen haben sollten; ich habe nie etwas gestohlen.«
»Sie haben nie etwas gestohlen, Darja Alexejewna; aber was wird der Fürst sagen, der auf einmal ganz rot geworden ist?«
»Es scheint mir, daß Sie recht haben, aber stark übertreiben«, versetzte der Fürst, der tatsächlich aus nicht recht ersichtlichem Grunde errötet war.
»Und Sie selbst, Fürst, haben nichts gestohlen?«
»Pfui, wie lächerlich das alles ist! Besinnen Sie sich, Herr Ferdyschtschenko, was Sie da reden!« mischte sich der General hinein.
»Die Sache ist einfach die: nun es soweit ist, schämen Sie sich zu erzählen, und darum wollen Sie den Fürsten mit sich zusammenkuppeln, um so mehr, da er so dienstfertig ist«, schalt Darja Alexejewna.
»Ferdyschtschenko, entweder erzählen Sie oder schweigen Sie, und beschränken Sie Ihre Menschenkenntnis auf Ihre eigene Person! Sie erschöpfen die größte Geduld«, sagte Nastasja Filippowna in scharfem, ärgerlichem Ton.
»Sofort, Nastasja Filippowna! Wenn sogar der Fürst es eingestanden hat (denn ich bleibe dabei: der Fürst hat es so gut wie eingestanden), was würde dann erst ein anderer (ich nenne keinen Namen) sagen, vorausgesetzt, daß er die Wahrheit reden will? Was nun mich betrifft, so habe ich eigentlich nichts weiter zu erzählen; die Sache ist sehr einfach, sehr dumm und sehr häßlich. Aber ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich kein Dieb bin; ich habe gestohlen, ohne zu wissen, wie ich dazu gekommen bin. Es war vor zwei Jahren, in der Sommerfrische bei Semjon Iwanowitsch Ischtschenko, an einem Sonntag. Es waren bei ihm Gäste zum Mittagessen. Nach Tisch blieben die Herren beim Wein zusammensitzen. Da kam mir der Gedanke, sein Töchterchen, Fräulein Marja Semjonowna, zu bitten, ob sie uns nicht etwas auf dem Klavier vorspielen wolle. Ich gehe durch ein Eckzimmer, und da liegt auf Marja Iwanownas Nähtisch ein grüner Dreirubelschein; sie hatte ihn herausgelegt, um ihn zu irgendeinem Zweck in der Wirtschaft auszugeben. Im Zimmer war kein Mensch. Ich nahm den Schein und steckte ihn in die Tasche; warum ich das tat, das weiß ich nicht. Es ist mir unverständlich, was über mich gekommen war. Aber ich kehrte so schnell wie möglich zurück und setzte mich wieder an den Tisch. Ich saß nun in ziemlich starker Aufregung da und wartete, schwatzte ohne Unterlaß, erzählte Anekdoten und lachte; dann setzte ich mich zu den Damen. Nach etwa einer halben Stunde wurde die Banknote vermißt, und man begann, die Dienstmädchen danach zu fragen. Der Verdacht fiel auf eines derselben, Darja. Ich bekundete ein lebhaftes Interesse und eine starke Teilnahme, und ich weiß noch, als Darja ganz fassungslos war, da redete ich ihr sogar zu, sie möge ihre Schuld eingestehen, indem ich mich ihr gegenüber mit meinem Kopf für Marja Iwanownas gütige Nachsicht verbürgte; und das alles sagte ich laut vor aller Ohren. Alle wohnten dieser Szene bei, und ich empfand ein besonderes Vergnügen bei dem Gedanken, daß ich da Moral predigte und die Banknote in meiner Tasche steckte. Diese drei Rubel vertrank ich gleich an demselben Abend in einem Restaurant. Ich ging hinein und ließ mir eine Flasche Lafitte geben; ich hatte vorher nie so bloß eine Flasche Wein getrunken, ohne etwas dazu zu essen; es lag mir daran, das Geld möglichst schnell auszugeben. Besondere Gewissensbisse habe ich weder damals noch später verspürt. Ein zweites Mal würde ich das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wieder tun; Sie können mir das glauben oder nicht, ganz wie Sie wollen; ich habe kein Interesse daran. Na, das ist die ganze Geschichte.«
»Aber das ist gewiß noch nicht Ihre schlechteste Handlung«, sagte Darja Alexejewna voll Abscheu.
»Das ist eine seelische Verirrung, keine Handlung«, bemerkte Afanasi Iwanowitsch.
»Und was geschah mit dem Dienstmädchen?« fragte Nastasja Filippowna, ohne ihren hochgradigen Ekel verbergen zu wollen.
»Das Dienstmädchen wurde natürlich gleich am andern Tag weggejagt. In jenem Haus wurde streng auf Ordnung gehalten.«
»Und Sie haben das zugelassen?«
»Na, das ist nett! Ich hätte wohl hingehen und mich angeben sollen?« kicherte Ferdyschtschenko, der übrigens durch den sehr unangenehmen Eindruck, den seine Erzählung bei allen hervorgerufen hatte, einigermaßen überrascht war.
»Wie schmutzig das ist!« rief Nastasja Filippowna.
»Pah, Sie wollen von jemand seine häßlichste Handlung hören und verlangen dabei, daß sie rein und sauber sein soll! Die häßlichen Handlungen sind immer sehr schmutzig, Nastasja Filippowna; das werden wir sofort von Iwan Petrowitsch hören. Viele solcher Handlungen glänzen ja freilich nach außen und möchten als Tugend erscheinen, weil der Betreffende eine eigene Equipage hat. Gar mancher hat eine eigene Equipage; aber mit welchen Mitteln ...«
Kurz gesagt, Ferdyschtschenko vermochte sich nicht zu beherrschen und wurde plötzlich boshaft, so daß er sich vergaß und das Maß überschritt; sogar sein Gesicht verzerrte sich ganz.
Wie seltsam es auch scheinen mag, so mochte er doch eine ganz andere Wirkung von seiner Erzählung erwartet haben. Solche »Schwupper« gegen den guten Ton und solche »eigenartige Renommage«, wie Tozki das genannt hatte, begegneten ihm recht oft und lagen durchaus in seinem Charakter.
Nastasja Filippowna bebte ordentlich vor Zorn und blickte Ferdyschtschenko unverwandt an; dieser wurde sogleich ängstlich und verstummte; ja, es überlief ihn geradezu kalt vor Schreck; er merkte, daß er zu weit gegangen war.
»Wollen wir nicht lieber ganz damit aufhören?« fragte Afanasi Iwanowitsch schlau.
»Ich bin an der Reihe; aber ich mache von dem Recht auf Dispensation Gebrauch und werde nicht erzählen«, erklärte Ptizyn in entschiedenem Ton.
»Sie wollen nicht?«
»Ich kann es nicht, Nastasja Filippowna; und ich halte überhaupt ein solches Gesellschaftsspiel für ein Ding der Unmöglichkeit.«
»Dann kommen ja wohl Sie daran, General«, wandte sich Nastasja Filippowna an diesen. »Sollten auch Sie sich weigern, dann wird auch aus unserm ganzen weiteren Spiel nichts werden, und das würde mir leid tun, da ich beabsichtige, zum Schluß etwas aus meinem eigenen Leben mitzuteilen, es aber erst nach Ihnen und Afanasi Iwanowitsch tun wollte, weil Sie beide mir Mut machen müssen«, schloß sie lachend.
»Oh, wenn Sie versprechen, sich ebenfalls zu beteiligen«, rief der General eifrig, »dann bin ich bereit, Ihnen meinetwegen meine ganze Lebensgeschichte vorzutragen; aber ich muß bekennen, ich habe in der Erwartung, daß ich an die Reihe kommen würde, mir bereits ein Geschichtchen zurechtgelegt ...«
»Schon allein aus der Miene Seiner Exzellenz kann man abnehmen, mit welcher Autorenfreude er sein Geschichtchen ausgearbeitet hat«, erlaubte sich der immer noch etwas verlegene Ferdyschtschenko mit boshaftem Lächeln zu bemerken. Nastasja Filippowna warf dem General einen flüchtigen Blick zu und lächelte ebenfalls vor sich hin. Aber es war deutlich, daß ihre Verstimmung und Gereiztheit immer mehr wuchsen. Afanasi Iwanowitsch bekam einen gewaltigen Schreck, als er sie eine Erzählung in Aussicht stellen hörte.
»Meine Herrschaften, wie jedem Menschen, ist es auch mir in meinem Leben passiert, nicht sehr löbliche Handlungen zu begehen«, begann der General; »wunderlicherweise aber halte ich selbst das kurze Geschichtchen, das ich Ihnen jetzt erzählen werde, für die häßlichste Handlung meines ganzen Lebens. Dabei sind seitdem fast fünfunddreißig Jahre vergangen; aber ich habe mich, sooft ich daran denke, nie von einer gewissen, sozusagen kratzenden Empfindung am Herzen frei machen können. Die Sache war übrigens im höchsten Grade dumm: ich war damals eben erst Fähnrich geworden und hatte einen schweren Dienst. Na, nun weiß man ja: so ein Fähnrich hat heißes Blut und wenig Moneten. Ich hatte damals einen Burschen, Nikifor hieß er, der für meine Wirtschaft sehr eifrig sorgte; er hielt die Groschen zusammen, nähte, striegelte und putzte und stahl sogar von überallher zusammen, was er kriegen konnte, um meinen Haushalt über Wasser zu halten; er war der treueste, redlichste Mensch, den man sich nur denken kann. Ich war gegen ihn natürlich streng, aber gerecht. Es traf sich, daß wir eine Zeitlang in einem kleinen Städtchen in Garnison lagen und ich mein Quartier in einer Vorstadt bei der Witwe eines verabschiedeten Leutnants hatte, einer alten Frau von achtzig Jahren, oder wenigstens war sie nahe daran. Sie hatte ein elendes, baufälliges Holzhäuschen und konnte sich bei ihrer Armut nicht einmal eine Bedienung halten. Besonders merkwürdig war an ihr, daß sie früher einmal eine große Familie und zahlreiche Verwandte gehabt hatte; aber die einen waren im Laufe ihres langen Lebens gestorben, andere weggezogen, wieder andere hatten die alte Frau vergessen, und ihren Mann hatte sie vor etwa fünfundvierzig Jahren begraben. Einige Jahre vorher, ehe ich dort in Quartier lag, hatte noch eine Nichte bei ihr gewohnt, eine bucklige Person, wie ich hörte, und böse wie eine Hexe, so daß sie sogar einmal die alte Frau in einen Finger gebissen hatte; aber auch die war gestorben, und nun stand die Alte schon drei Jahre lang mutterseelenallein in der Welt. Ich langweilte mich bei ihr schrecklich; denn sie war so einfältig, daß nie ein Wort aus ihr herauszubekommen war. Schließlich stahl sie mir einen Hahn. Die Sache ist noch bis auf den heutigen Tag dunkel; aber es konnte niemand als sie gewesen sein. Um des Hahnes willen verzankten wir uns, und zwar gründlich, und da kam es mir sehr erwünscht, daß man mich gleich auf mein erstes Gesuch hin in ein anderes Quartier verlegte, in der entgegengesetzten Vorstadt, bei einem Kaufmann, der eine zahlreiche Familie und einen gewaltigen Bart hatte, wie ich mich noch heutigentags erinnere. Ich und Nikifor zogen mit Freuden um; die Alte blieb in mißvergnügter Stimmung zurück. Es vergingen etwa drei Tage, da komme ich einmal vom Exerzieren zurück, und Nikifor sagt zu mir: ›Wir hätten unsere Terrine nicht bei der früheren Wirtin zurücklassen sollen, Euer Wohlgeboren; ich weiß jetzt nicht, worin ich die Suppe auftragen soll.‹ Ich war natürlich höchst verwundert: ›Wie geht das zu? Wie ist das gekommen, daß unsere Terrine bei der Wirtin geblieben ist?‹ Erstaunt berichtete mir Nikifor weiter, die Wirtin habe ihm bei unserem Auszug unsere Terrine nicht herausgegeben, mit der Begründung, da ich ihr ihren eigenen Topf zerbrochen hätte, so wolle sie nun für ihren Topf unsere Terrine behalten, und ich hätte ihr das selbst vorgeschlagen. Über eine solche Gemeinheit von ihrer Seite geriet ich natürlich außer mir; das Fähnrichsblut kam in Wallung; ich sprang auf und lief zu ihr hin. Als ich zu der Alten kam, kochte ich sozusagen vor Wut; ich sehe mich um, und da sitzt sie ganz allein auf dem Flur in einer Ecke, als ob sie sich vor der Sonne versteckt hätte, die eine Wange auf die Hand gestützt. Nun, wissen Sie, da ließ ich denn gleich einen ganzen Hagel von Scheltworten auf sie niederprasseln: ›Du bist ja‹, sagte ich, ›eine ...‹ und so weiter und so weiter; wissen Sie, so in echt russischer Art. Wie ich sie aber so anblicke, kommt es mir sonderbar vor: sie sitzt da, das Gesicht mir zugewendet, die Augen weit geöffnet, und antwortet kein Wort und sieht so sonderbar, ganz sonderbar aus und nickt, wie es scheint, mit dem Kopf. Ich schwieg schließlich still, sah sie an, fragte sie, bekam aber keine Antwort. Ich stand noch ein Weilchen unschlüssig da; die Fliegen summten, die Sonne war im Untergehen, es herrschte tiefe Stille; ganz verwirrt ging ich endlich fort. Ich war noch nicht nach Hause gelangt, da wurde ich zum Major befohlen; dann mußte ich zur Kompanie gehen, so daß ich erst spät am Abend nach Hause zurückkehrte. Das erste, was Nikifor zu mir sagte, war: ›Wissen Sie schon, Euer Wohlgeboren, unsere frühere Wirtin ist gestorben.‹ – ›Wann denn?‹ – ›Heute abend, so vor anderthalb Stunden.‹ Also war sie gerade zu der Zeit verschieden, als ich sie ausschimpfte. Das machte einen solchen Eindruck auf mich, kann ich Ihnen sagen, daß ich kaum meiner Sinne mächtig war. Wissen Sie, ich mußte fortwährend daran denken; selbst in der Nacht träumte ich davon. Ich bin ja wahrhaftig nicht abergläubisch; aber ich ging doch am dritten Tag in die Kirche zu ihrer Beerdigung. Kurz, je weiter dieses Ereignis in die Vergangenheit zurückrückt, um so mehr muß ich daran denken. Und manchmal, wenn ich es mir so vergegenwärtige, wird mir ganz schlimm. Der Hauptpunkt ist: was lag da vor, nach der Art, wie ich mir die Sache schließlich zurechtlegte? Erstens, es war eine Frau, sozusagen ein menschliches Wesen, und man redet ja in unserer Zeit so viel von Humanität; sie hatte lange, sehr lange gelebt, schließlich war sie müde und matt geworden. Sie hatte früher einmal Kinder, einen Mann, eine Familie, Verwandte gehabt; alles hatte sozusagen um sie gewimmelt; alle hatten sie sozusagen angelächelt – und auf einmal eine völlige Leere; alles war in die vier Winde zerstoben, und sie war allein geblieben wie ... wie eine von Ewigkeit her verfluchte Fliege. Und nun endlich setzte Gott ihrem Leben ein Ende. Mit dem Untergang der Sonne geht an einem stillen Sommerabend auch meine Alte dahin, gewiß nicht ohne erbauliche Gedanken; und gerade in diesem Augenblick stellt ein junger, hitziger Fähnrich, statt ihr sozusagen mit einer Träne das Geleit zu geben, sich schräg vor sie hin, stemmt die Arme in die Seiten und überschüttet sie bei ihrem Dahinscheiden wegen einer ihm genommenen Terrine mit einer Flut der derbsten russischen Schimpfworte! Ohne Zweifel habe ich mich da schuldig gemacht, und wiewohl ich jetzt so lange nachher infolge der vielen seitdem vergangenen Jahre und der in meinem Charakter vorgegangenen Veränderungen jene Handlung wie die eines Fremden betrachte, so bedaure ich doch immer noch, so verfahren zu sein. Das kommt mir (ich wiederhole es) sogar wunderlich vor; denn wenn ich auch schuldig bin, so ist doch meine Schuld nicht übergroß: warum mußte es ihr auch gerade in dem Augenblick in den Sinn kommen zu sterben? Selbstverständlich gibt es nur eine Entschuldigung: meine Handlung war vom psychologischen Standpunkt aus erklärlich; aber doch konnte ich mich nicht eher beruhigen, als bis ich vor etwa fünfzehn Jahren die Einrichtung traf, daß beständig zwei kranke alte Frauen auf meine Kosten im Armenhaus unterhalten und ihnen so durch anständige Verpflegung ihre letzten Tage auf dieser Erde freundlicher gestaltet werden sollten. Und ich gedenke, diese Einrichtung durch Stiftung eines Kapitals zu einer dauernden zu machen. Nun also, das ist alles. Ich wiederhole, daß ich vielleicht sonst noch viel Übles in meinem Leben begangen habe; aber diese Handlung halte ich, wie ich auf mein Gewissen versichere, für die häßlichste meines ganzen Lebens.«
»Und statt der häßlichsten haben Euer Exzellenz eine der besten Handlungen Ihres Lebens erzählt; Sie haben Ferdyschtschenko geprellt!« bemerkte dieser.
»Wirklich, General, ich hätte nicht gedacht, daß Sie ein so gutes Herz hätten; es ist ordentlich schade!« sagte Nastasja Filippowna in lässigem Ton.
»Schade? Wieso?« fragte der General mit freundlichem Lachen und trank nicht ohne Selbstgefälligkeit von seinem Champagner.
Aber nun war die Reihe an Afanasi Iwanowitsch, der sich ebenfalls vorbereitet hatte. Alle sahen voraus, daß er sich nicht weigern werde wie Iwan Petrowitsch, erwarteten aus gewissen Gründen seine Erzählung mit besonderer Neugier und blickten zugleich Nastasja Filippowna forschend an. In einer sehr würdevollen Weise, die durchaus zu seinem stattlichen Äußern paßte, begann Afanasi Iwanowitsch mit leiser, freundlicher Stimme eines seiner »netten Geschichtchen«. (Beiläufig sei folgendes bemerkt: er war eine ansehnliche Erscheinung, stattlich, hochgewachsen, etwas kahlköpfig, mit etwas angegrautem Haar, ziemlich wohlbeleibt, mit weichen, roten, etwas herabhängenden Backen und falschen Zähnen. Er trug bequeme, elegante Kleider und wundervolle Wäsche. Seine fleischigen, weißen Hände anzusehen war ein Genuß. Am Zeigefinger der rechten Hand steckte ein kostbarer Brillantring.) Nastasja Filippowna betrachtete während seiner ganzen Erzählung unverwandt den Spitzenbesatz an ihrem Ärmel und zupfte daran mit zwei Fingern der linken Hand, so daß sie den Erzähler auch nicht einen Augenblick anblickte.
»Was mir meine Aufgabe am meisten erleichtert«, begann Afanasi Iwanowitsch, »das ist die unbedingte Verpflichtung, nichts anderes zu erzählen als die schlechteste Handlung meines ganzen Lebens. In einem solchen Fall ist selbstverständlich kein Schwanken möglich: das Gewissen und das Gedächtnis geben einem ohne weiteres ein, was man zu erzählen hat. Ich bekenne mit tiefem Schmerz, daß unter all den vielleicht zahllosen leichtfertigen und unbedachten Handlungen meines Lebens eine ist, die in meinem Gedächtnis einen außerordentlich peinlichen Eindruck hinterlassen hat. Die Sache begab sich vor ungefähr zwanzig Jahren; ich befand mich damals auf dem Land zu Besuch bei Platon Ordynzew. Er war soeben zum Adelsmarschall gewählt worden und mit seiner jungen Frau auf sein Gut gefahren, um dort die Winterfeiertage zu verleben. In dieselbe Zeit fiel auch gerade Anfisa Alexejewnas Geburtstag, und so sollten denn zwei Bälle gegeben werden. Damals war der entzückende Roman des jüngeren Dumas ›La dame aux camélias‹ außerordentlich in Mode und hatte eben angefangen, in der vornehmen Welt Aufsehen zu erregen, ein Geisteswerk, das meines Erachtens weder dazu bestimmt ist, jemals zu vergehen, noch auch zu altern. In der Provinz waren alle Damen davon enthusiasmiert, wenigstens diejenigen, die das Buch gelesen hatten. Der Reiz der Erzählung, die eigenartige Stellung der Hauptperson, diese verlockende Welt, die aufs feinste analysiert wird, und endlich all diese bezaubernden Details, die durch das ganze Buch verstreut sind (zum Beispiel die Bemerkung darüber, unter welchen Umständen man Bukette aus weißen und roten Kamelien abwechselnd verwendet), mit einem Wort, all diese entzückenden Einzelheiten und das prächtige Ensemble machten eine ganz gewaltige Sensation. Kamelien wurden große Mode. Jedermann wollte Kamelien haben, jedermann suchte welche zu bekommen. Nun frage ich Sie: war es wohl möglich, viele Kamelien in einer Kreisstadt aufzutreiben, wenn alle Leute welche für die Bälle beschaffen wollten, auch wenn die Bälle nicht sehr zahlreich waren? Petja Worchowskoi, der arme Kerl, war damals in heißer Liebe zu Anfisa Alexejewna entbrannt. Ich weiß wirklich nicht, ob zwischen den beiden irgendein Verhältnis bestand, ich meine, ob er irgendeine ernstliche Hoffnung hegen durfte. Der arme Mensch war fast verrückt geworden in dem Bemühen, zum Ballabend für Anfisa Alexejewna Kamelien zu beschaffen. Die Gräfin Sozkaja aus Petersburg, die bei der Frau des Gouverneurs zu Besuch war, und Sofja Bespalowa wollten, wie bekannt geworden war, mit Buketten aus weißen Kamelien kommen. Anfisa Alexejewna wünschte sich, um damit einen besonderen Effekt hervorzubringen, rote. Der arme Platon wurde beinah zu Tode gehetzt, wie das den Ehemännern bekanntlich so geht; er hatte ihr hoch und heilig geschworen, ihr ein Bukett zu verschaffen; aber was geschah? Am Tage vor dem Ball schnappte Frau Katerina Alexandrowna Mytischtschewa, die in allen Dingen Anfisa Alexejewnas furchtbare Rivalin war und mit ihr auf höchst gespanntem Fuß lebte, ihr die Blumen weg. Natürlich folgte nun ein Weinkrampf, eine Ohnmacht. Platon war ganz zu Boden geschmettert. Man begreift: wenn Petja es auf irgendeine Weise fertig bekommen hätte, in diesem kritischen Augenblick ein Bukett zu beschaffen, so wären seine Wünsche dadurch natürlich sehr wesentlich gefördert worden; denn die Dankbarkeit einer Frau kennt in solchen Fällen keine Grenzen. Er läuft umher wie ein Besessener; aber es war eben ein Ding der Unmöglichkeit; absolut nichts zu machen! Auf einmal treffe ich ihn am Tag vor dem Geburtstag und Ball (es war schon elf Uhr abends) bei Marja Petrowna Subkowa, einer Gutsnachbarin Ordynzews. Er strahlt. ›Was ist dir?‹ – ›Ich habe welche gefunden! Heureka!‹ – ›Na Bruder, das setzt mich in Erstaunen! Wo denn? Wie denn?‹ – ›In Jekschaisk‹ (das war ein kleines Städtchen, zwanzig Werst entfernt; es lag nicht in unserm Kreis), ›da ist so ein großbärtiger, reicher Kaufmann namens Trepalow; der wohnt da mit seiner alten Frau, und statt der Kinder haben sie lauter Kanarienvögel. Die beiden sind große Blumenfreunde; der hat Kamelien.‹ – ›Aber ich bitte dich, das ist doch eine sehr unsichere Sache; wenn er sie nun nicht hergibt?‹ – ›Ich werde auf die Knie fallen und mich vor seinen Füßen so lange umherwälzen, bis er sie mir gibt; ohne die Blumen weiche ich nicht vom Platz!‹ – ›Wann fährst du denn?‹ – ›Morgen ganz früh, um fünf Uhr.‹ – ›Na, viel Glück!‹ Ich freute mich sehr für ihn, wissen Sie; ich kehrte zu Ordynzew zurück; es war schon zwei Uhr; aber die Geschichte ging mir gar nicht aus dem Kopf, wissen Sie. Ich wollte mich schon schlafen legen, da kommt mir plötzlich ein ganz origineller Gedanke! Ich schleiche mich unverzüglich in die Küche und wecke den Kutscher Saweli: ›Fünfzehn Rubel, wenn du in einer halben Stunde angespannt hast!‹ In einer halben Stunde steht natürlich der Schlitten vor der Tür; Anfisa Alexejewna hatte, wie mir gesagt wurde, Migräne, fieberte und phantasierte. Ich stieg ein und fuhr los. Um fünf Uhr war ich in Jekschaisk in einer Herberge; ich wartete, bis es hell wurde, und begab mich dann sofort um sieben Uhr zu Trepalow. ›Soundso, hast du Kamelien? Väterchen, teuerster Wohltäter, hilf mir, rette mich, ich verbeuge mich vor dir bis zum Erdboden!‹ Es war, wie ich sah, ein hochgewachsener, grauhaariger, finsterer alter Mann; ein furchtbar strenges Gesicht machte er. ›Nein, nein, unter keinen Umständen; das tu ich nicht!‹ Ich warf mich ihm, batz! zu Füßen! Lang auf dem Boden streckte ich mich aus! ›Was tun Sie, mein Verehrter; was tun Sie da?‹ rief er erschrocken. – ›Es handelt sich hier um ein Menschenleben!‹ schrie ich. – ›Wenn's so ist, dann nehmen Sie sie; in Gottes Namen!‹ Da schnitt ich mir einmal rote Kamelien ab! Wundervolle, entzückende Blumen; er hatte ein ganzes kleines Treibhaus voll. Der Alte seufzte schwer dabei. Ich nehme hundert Rubel heraus. ›Nein, bester Herr, Sie werden mich doch nicht so kränken wollen.‹ – ›Nun, wenn's so steht, Verehrtester, so nehmen Sie diese hundert Rubel für das hiesige Krankenhaus zur Verbesserung der Unterkunft und Verpflegung!‹ – ›Das ist etwas anderes, lieber Herr!‹ sagte er; ›das ist ein gutes, edles, Gott wohlgefälliges Werk; ich werde das Geld in Ihrem Namen abliefern.‹ Wissen Sie, er gefiel mir wirklich, dieser alte Russe, sozusagen ein Stockrusse, de la vraie souche. Ganz entzückt, daß es mir so gut gelungen war, machte ich mich sogleich auf den Heimweg; wir fuhren im Bogen zurück, um Petja nicht zu begegnen. Als ich ankam, gab ich die Blumen ab, damit sie der Hausfrau gleich bei ihrem Erwachen überreicht würden. Sie können sich ihr Entzücken, ihre Dankbarkeit, ihre Tränen der Dankbarkeit vorstellen! Platon, der tags zuvor noch tiefunglücklich und halbtot gewesen war, Platon schluchzte nun an meiner Brust. So geht es ja leider allen Ehemännern seit der Erschaffung der Welt ... oder seit der Einrichtung der legitimen Ehe! Ich habe nichts weiter hinzuzufügen, als daß die Aussichten des armen Petja durch diesen Vorfall völlig zerstört waren. Ich dachte anfangs, er würde mich umbringen, sowie er den Hergang erführe, und traf für die Begegnung mit ihm schon alle Vorbereitungen; aber die Sache entwickelte sich in einer Weise, die ich nicht erwartet hatte: er fiel in Ohnmacht, phantasierte am Abend und bekam am andern Morgen ein hitziges Fieber, in dem er wie ein kleines Kind unter Krämpfen schluchzte. Als er einen Monat darauf wiederhergestellt war, ließ er sich nach dem Kaukasus versetzen; es wurde ein richtiger Roman! Schließlich fiel er in der Krim. Damals war noch sein Bruder Stepan Worchowskoi der Kommandeur des Regiments und zeichnete sich als solcher aus. Ich muß gestehen, ich habe noch viele Jahre nachher Gewissensbisse verspürt: warum, zu welchem Zweck habe ich so schlecht an ihm gehandelt? Wenn ich noch selbst damals verliebt gewesen wäre! Aber so war es einfach ein dummer Streich, um einer Dame ein bißchen die Cour zu machen, weiter nichts. Und hätte ich ihm dieses Bukett nicht weggefischt, wer weiß, der Mensch lebte vielleicht heute noch und wäre glücklich und hätte es zu etwas gebracht, und wäre nie auf den Gedanken gekommen, gegen die Türken zu ziehen.«
Afanasi Iwanowitsch hörte jetzt mit derselben ruhigen Würde auf zu sprechen, mit der er seine Erzählung begonnen hatte. Man bemerkte, daß, als Afanasi Iwanowitsch schwieg, Nastasja Filippownas Augen in einer ganz besonderen Weise zu funkeln und sogar ihre Lippen zu zittern anfingen. Alle blickten gespannt diese beiden an.
»Sie haben Ferdyschtschenko geprellt! Nein, wie haben Sie mich geprellt! Das ist zu arg!« rief Ferdyschtschenko weinerlich, da er sich sagte, daß er jetzt eine Bemerkung machen könne und müsse.
»Warum verstehen Sie Ihre Sache nicht besser? Lernen Sie jetzt von klugen Leuten!« versetzte ihm Darja Alexejewna in triumphierendem Ton. Sie war eine alte, treue Freundin Tozkis und stand immer auf seiner Seite.
»Sie haben recht, Afanasi Iwanowitsch; dieses Gesellschaftsspiel ist sehr langweilig, und wir müssen es so schnell wie möglich abbrechen«, sagte Nastasja Filippowna wegwerfend. »Ich werde nun noch selbst erzählen, was ich versprochen habe, und dann wollen wir Karten spielen.«
»Aber vorher noch vor allen Dingen die versprochene Geschichte!« stimmte ihr der General eifrig bei.
»Fürst«, wandte Nastasja Filippowna sich plötzlich in scharfem Ton an diesen; »meine alten Freunde hier, der General und Afanasi Iwanowitsch, wollen mich immer verheiraten. Sagen Sie mir, wie Sie darüber denken: soll ich mich verheiraten oder nicht? Was Sie sagen, das werde ich tun.«
Afanasi Iwanowitsch wurde blaß, der General ganz starr; alle rissen die Augen auf und streckten die Köpfe vor. Ganja stand wie angewurzelt auf seinem Platz.
»Mit ... mit wem?« fragte der Fürst mit fast versagender Stimme.
»Mit Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin«, fuhr Nastasja Filippowna scharf, bestimmt und deutlich wie vorher fort. Es vergingen einige Sekunden unter Stillschweigen; es schien, daß der Fürst mit aller Anstrengung zu reden versuchte, aber kein Wort herausbekam, wie wenn ein furchtbarer Druck auf seiner Brust lastete.
»N-nein ... heiraten Sie ihn nicht!« flüsterte er endlich; er konnte nur mühsam atmen.
»So soll es denn auch sein! Gawrila Ardalionowitsch!« wandte sie sich herrisch und gleichsam triumphierend an diesen. »Haben Sie gehört, welche Entscheidung der Fürst getroffen hat? Nun, darin liegt zugleich auch meine Antwort; so mag denn diese Sache ein für allemal erledigt sein!«
»Nastasja Filippowna!« sagte Afanasi Iwanowitsch mit zitternder Stimme.
»Nastasja Filippowna!« rief auch der General in bittendem, aber erregtem Ton.
Alle waren in Bewegung und Unruhe geraten.
»Aber meine Herrschaften«, fuhr sie fort, indem sie ihre Gäste anscheinend sehr erstaunt ansah, »warum regen Sie sich denn so auf? Und was machen Sie alle für Gesichter?«
»Aber ... erinnern Sie sich doch, Nastasja Filippowna«, murmelte Tozki stotternd, »Sie haben uns doch das Versprechen gegeben ... ganz freiwillig ... und hätten doch auch etwas rücksichtsvoller verfahren können ... Es fällt mir schwer und ... gewiß, ich bin verwirrt, aber ... Mit einem Wort, jetzt in diesem Augenblick und in Gegenwart ... in Gegenwart so vieler Leute, und alles das so ... eine so ernste Sache durch ein Gesellschaftsspiel zu entscheiden, eine Sache, bei der es sich um die Ehre und um das Herz handelt ... von der so viel abhängt ...«
»Ich verstehe Sie nicht, Afanasi Iwanowitsch; Sie sind wirklich ganz verwirrt. Erstens, was soll das heißen: ›in Gegenwart so vieler Leute‹? Befinden wir uns etwa nicht in einem schönen, vertrauten Kreis? Und warum sagen Sie: ›durch ein Gesellschaftsspiel‹? Ich beabsichtigte allerdings auch meinerseits einen Beitrag zu liefern; das habe ich getan; war er etwa nicht hübsch? Und warum meinen Sie, daß es mir nicht ernst sei? Ist denn das nicht ernst? Sie haben gehört, daß ich zum Fürsten sagte: ›Was Sie sagen werden, das werde ich tun.‹ Hätte er nun ›ja‹ gesagt, so hätte ich sofort meine Einwilligung gegeben; aber er hat ›nein‹ gesagt, und daher habe ich mich geweigert; ist denn das etwa nicht ernst? Mein ganzes Leben hing hier an einem Haar; was kann es Ernsteres geben?«
»Aber der Fürst! Was soll dabei der Fürst? Und was ist denn schließlich dieser Fürst für ein Mensch?« murmelte der General, der kaum mehr imstande war, seinen Unwillen darüber zu verbergen, daß dem Fürsten in einer für ihn selbst so kränkenden Weise eine solche Autorität zuerkannt wurde.
»Der Fürst ist für mich insofern von Wert, als er in meinem ganzen Leben der erste Mensch ist, dem ich wegen seiner aufrichtigen Ergebenheit habe Vertrauen schenken können. Er hat auf den ersten Blick an mich geglaubt, und ich glaube an ihn.«
»Es bleibt mir nur übrig, Nastasja Filippowna für das außerordentliche Zartgefühl zu danken, mit dem sie mich behandelt hat«, sagte Ganja endlich; er war ganz blaß, seine Stimme zitterte, seine Lippen verzogen sich krampfhaft. »Sie hat natürlich durchaus richtig gehandelt ... Aber ... der Fürst ... der Fürst wird dabei wohl ...«
»Er wird dabei wohl nach den fünfundsiebzigtausend Rubeln trachten, nicht wahr?« unterbrach ihn Nastasja Filippowna. »Das wollten Sie doch sagen? Stellen Sie es nicht in Abrede; das wollten Sie sicherlich sagen! Afanasi Iwanowitsch, ich vergaß hinzuzufügen: behalten Sie diese fünfundsiebzigtausend Rubel und wissen Sie, daß ich Sie umsonst freilasse! Lassen wir es jetzt genug sein! Sie müssen doch auch endlich wieder frei atmen! Neun Jahre und drei Monate! Morgen beginnt für mich ein neues Leben; aber heute bin ich Geburtstagskind und meine eigene Herrin, zum ersten Mal in meinem ganzen Leben! General, nehmen auch Sie Ihren Perlenschmuck zurück; schenken Sie ihn Ihrer Gemahlin; da ist er. Und morgen verlasse ich diese Wohnung für immer. Ich werde hier keine Abendgesellschaften mehr geben, meine Herrschaften!«
Nach diesen Worten erhob sie sich plötzlich, wie wenn sie weggehen wollte.
»Nastasja Filippowna! Nastasja Filippowna!« wurde von allen Seiten gerufen.
Alle waren in größter Aufregung und sprangen von ihren Plätzen auf; alle umringten sie; alle horchten mit Unruhe auf die abgerissenen, fieberhaften, leidenschaftlichen Sätze, die sie hervorstieß; alle hatten das Gefühl, daß da etwas nicht in Ordnung sei; niemand vermochte daraus klug zu werden; niemand konnte die Sache begreifen. In diesem Augenblick ertönte plötzlich ein starkes, lautes Klingeln, genauso wie einige Stunden vorher in Ganjas Wohnung.
»A-a-ah! Da kommt die Entscheidung! Endlich! Um halb zwölf!« rief Nastasja Filippowna. »Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, meine Herrschaften; das ist die Entscheidung!«
Nachdem sie das gesagt hatte, setzte sie sich selbst hin. Ein seltsames Lächeln zitterte auf ihren Lippen. Sie saß schweigend da, in fieberhafter Erwartung, und blickte nach der Tür.
»Es ist Rogoschin mit den hunderttausend Rubeln; kein Zweifel!« murmelte Ptizyn vor sich hin.
Das Stubenmädchen Katja kam ganz erschrocken herein.
»Da begibt sich etwas ganz Tolles, Nastasja Filippowna; es sind etwa zehn Menschen eingedrungen, stark betrunken; sie verlangen Zutritt hierher und sagen, es sei Rogoschin, und Sie wüßten schon Bescheid.«
»Es ist richtig, Katja; laß sie alle sogleich herein!«
»Wirklich ... alle, Nastasja Filippowna? Die Leute sehen gar zu arg aus. Es ist schauderhaft!«
»Laß sie nur alle herein, Katja, alle, fürchte dich nicht, alle ohne Ausnahme; sonst kommen sie ohne deine Erlaubnis herein. Da, was sie für Lärm machen, gerade wie schon einmal heute! Meine Herrschaften«, wandte sie sich an die Gäste, »Sie verübeln es mir vielleicht, daß ich in Ihrer Gegenwart eine solche Gesellschaft empfange? Ich bedaure es sehr und bitte um Verzeihung; aber es muß sein, und es wäre mir auch sehr erwünscht, wenn Sie alle einwilligten, bei dieser bevorstehenden Entscheidung meine Zeugen zu sein. Indessen, ganz wie es Ihnen beliebt ...«
Die Gäste fuhren fort zu staunen, zu flüstern und einander anzusehen; aber es war ganz klar, daß dies alles vorher überlegt und vorher arrangiert worden war und daß Nastasja Filippowna, obgleich sie wirklich den Verstand verloren haben mochte, sich jetzt von ihrem Vorhaben nicht werde abbringen lassen. Alle waren außerordentlich gespannt. Überdies hatte niemand etwas Sonderliches zu fürchten. Damen waren nur zwei anwesend: Darja Alexejewna, die gewandte Dame, die schon mancherlei in der Welt durchgemacht hatte und nicht leicht in Verlegenheit zu bringen war, und die schöne, aber schweigsame Unbekannte. Aber die schweigsame Unbekannte konnte kaum etwas verstehen, sie war eine zugereiste Deutsche und konnte nicht Russisch; außerdem war sie, wie es schien, ebenso dumm, wie sie schön war. Sie war erst vor kurzem angekommen; aber es war schon üblich geworden, sie zu gewissen Abendgesellschaften einzuladen, bei denen sie dann in reichster Toilette und wie zu einer Ausstellung frisiert erschien und wie ein entzückendes Bild zur Verschönerung des Abends ihren Platz erhielt, gerade wie manche Leute sich für ihre Gesellschaften auf einen einzigen Abend von ihren Bekannten ein Gemälde, eine Vase, eine Statue oder einen Ofenschirm leihen. Was die Männer anlangte, so war Ptizyn mit Rogoschin befreundet; Ferdyschtschenko fühlte sich wie ein Fisch im Wasser; Ganja konnte immer noch nicht recht zu sich kommen, indes empfand er dunkel ein unüberwindliches, glühendes Verlangen, bis zum Ende an seinem Schandpfahl auszuhalten; der alte Lehrer, der von den Vorgängen nur wenig verstand, weinte beinah und zitterte buchstäblich vor Furcht, da er an den andern ringsumher und an Nastasja Filippowna, die er wie eine Enkelin vergötterte, eine so ungewöhnliche Aufregung wahrnahm, aber er wäre eher gestorben, als daß er sie in einem solchen Augenblick verlassen hätte. Was Afanasi Iwanowitsch betrifft, so durfte er sich allerdings bei solchen Affären nicht kompromittieren; aber er war an der Angelegenheit zu sehr interessiert, obwohl sie eine so sinnlose Wendung genommen hatte; auch hatte Nastasja Filippowna ein paar ihn betreffende derartige Bemerkungen fallenlassen, daß er unmöglich weggehen konnte, bevor die Sache vollständig aufgeklärt war.
Er entschied sich dafür, bis zu Ende sitzenzubleiben, nunmehr gänzlich zu schweigen und nur den Beobachter zu spielen, ein Verhalten, das auch seine Würde sicherlich verlangte. Nur für General Jepantschin, der schon soeben durch die so ungenierte, lächerliche Rückgabe seines Geschenkes gekränkt worden war, bestand die Möglichkeit, daß er durch alle diese seltsamen Exzentrizitäten oder auch durch Rogoschins Erscheinen noch weiter beleidigt werde; auch hatte ein Mann wie er ohnehin schon eine zu weitgehende Herablassung gezeigt, indem er sich entschlossen hatte, sich neben einen Ptizyn und einen Ferdyschtschenko zu setzen; aber die Wirkung der Leidenschaft mußte doch endlich aufgehoben und überwogen werden durch das Gefühl der Pflicht, durch das Bewußtsein seines Ranges und seiner gesellschaftlichen Stellung sowie überhaupt durch die Selbstachtung, so daß ein Rogoschin mit seiner Gesellschaft jedenfalls in Gegenwart Seiner Exzellenz ein Ding der Unmöglichkeit war.
»Ach, General«, unterbrach ihn Nastasja Filippowna sogleich, als er sich mit einer Bemerkung dieses Inhalts an sie wandte, »das hatte ich im Augenblick vergessen! Aber seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Bedenken vorhergesehen hatte. Wenn es Ihnen so peinlich ist, so bestehe ich nicht darauf, daß Sie hierbleiben, und will Sie nicht zurückhalten, obwohl gerade Sie jetzt bei mir zu sehen mir höchst erwünscht sein würde. Jedenfalls danke ich Ihnen sehr für Ihre Bekanntschaft und für die schmeichelhafte Aufmerksamkeit, die Sie mir erwiesen haben; aber wenn Sie fürchten ...«
»Erlauben Sie, Nastasja Filippowna«, rief der General in einem Anfall von ritterlichem Edelmut, »zu wem reden Sie so? Schon allein aus Ergebenheit werde ich jetzt bei Ihnen bleiben, und wenn irgendwelche Gefahr bestehen sollte ... Außerdem muß ich bekennen, daß ich außerordentlich neugierig bin. Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, daß diese Menschen möglicherweise die Teppiche verderben und etwas zerbrechen werden ... Meiner Ansicht nach sollten Sie sie überhaupt nicht hereinlassen, Nastasja Filippowna!«
»Da ist Rogoschin selbst!« rief Ferdyschtschenko.
»Wie denken Sie darüber, Afanasi Iwanowitsch?« flüsterte diesem der General schnell zu. »Ob sie nicht den Verstand verloren hat? Das heißt, nicht figürlich gesagt, sondern im eigentlichen medizinischen Sinne, wie?«
»Ich habe Ihnen schon früher gesagt, daß sie von jeher dazu neigte«, flüsterte Afanasi Iwanowitsch schlau zurück. »Und dazu nun noch das Fieber ...«
Rogoschins Gefolge wies fast denselben Bestand auf wie am Tage; hinzugekommen waren nur ein heruntergekommener alter Mann, der seinerzeit Redakteur eines bissigen Skandalblättchens gewesen war und von dem man sich das Geschichtchen erzählte, er habe seine in Gold gefaßten falschen Zähne versetzt und vertrunken, sowie ein verabschiedeter Leutnant, nach seinem Handwerk und seiner Bestimmung ein entschiedener Rivale und Konkurrent des schon am Tage anwesenden Herrn mit den Fäusten; es kannte ihn niemand von Rogoschins übrigen Leuten; er war auf der Sonnenseite des Newski-Prospekts aufgelesen worden, wo er die Passanten anhielt und im Marlinskischen Stile um eine Unterstützung bat, mit der schlauen Bemerkung, er selbst habe seinerzeit jedem Bittsteller fünfzehn Rubel gegeben. Die beiden Konkurrenten nahmen von vornherein eine feindliche Stellung gegeneinander ein. Der schon eher dagewesene Herr mit den Fäusten hielt sich durch die Aufnahme des »Bittstellers« in die Gesellschaft geradezu für beleidigt, und da er von Natur schweigsam war, so brummte er nur manchmal wie ein Bär und blickte mit tiefster Verachtung auf die Schmeicheleien und Scherze, mit denen sich der »Bittsteller«, welcher sich als eine weltmännische, diplomatische Persönlichkeit erwies, an ihn heranmachte. Seinem Äußern nach ließ der Leutnant erwarten, daß er »bei der Arbeit« mehr durch Geschicklichkeit und Gewandtheit als durch Kraft wirken werde; auch war er von kleinerer Statur als der Herr mit den Fäusten. Taktvoll, ohne in einen offenen Streit einzutreten, aber sehr ruhmredig, hatte er schon mehrmals auf die Vorzüge des englischen Boxens hingedeutet und sich als einen entschiedenen Anhänger westeuropäischen Wesens zu erkennen gegeben. Der Herr mit den Fäusten hatte bei dem Wort »Boxen« nur geringschätzig und beleidigend gelächelt und seinerseits, ohne seinen Rivalen eines offenen Streites zu würdigen, manchmal schweigend und anscheinend unbewußt ein durchaus nationales Naturprodukt gezeigt oder, richtiger gesagt, zur Schau vorgeschoben: eine gewaltige, sehnige, knorrige, mit einer Art von rötlichem Flaum bewachsene Faust, und es war allen klargeworden, daß wenn dieses echt nationale Naturprodukt ohne Fehlschlag auf ein Lebewesen niederfiel, von diesem tatsächlich nur ein nasser Fleck übrigblieb.
Im vollen Wortsinn »fertig« war auch diesmal, ebenso wie am Tage, keiner von ihnen; dies war ein Erfolg der persönlichen Bemühungen Rogoschins, dem den ganzen Tag über sein Besuch bei Nastasja Filippowna als Ziel vor Augen geschwebt hatte. Er selbst war wieder fast ganz nüchtern geworden; aber dafür war er beinahe betäubt von all den Eindrücken, die ihm dieser seltsame, mit keinem seiner früheren Lebenstage vergleichbare Tag gebracht hatte. Nur eine Absicht hatte er jede Minute, jede Sekunde im Auge gehabt, im Gedächtnis behalten, im Herzen gehegt, und um diese eine Absicht auszuführen, hatte er die ganze Zeit von fünf Uhr nachmittags bis elf Uhr abends in größter Aufregung und Unruhe damit verbracht, mit Leuten wie Biskup und Kinder zu verhandeln, die gleichfalls fast den Verstand verloren hatten und in seinem Interesse wie die Besessenen umherrannten. Aber die hunderttausend Rubel bar, die er Nastasja Filippowna, durch ihr Benehmen gereizt, angeboten hatte, waren doch zusammengebracht worden, allerdings zu Prozenten, von denen sogar Biskup selbst schamhafterweise mit Kinder nicht laut, sondern nur flüsternd sprach.
Rogoschin schritt wie am Tag so auch jetzt an der Spitze aller einher; die übrigen gingen hinter ihm, zwar im vollen Bewußtsein ihrer Vorzüge, aber doch einigermaßen ängstlich. Hauptsächlich fürchteten sie sich, Gott weiß weshalb, vor Nastasja Filippowna. Manche von ihnen dachten sogar, man werde sie alle unverzüglich die Treppe hinunterwerfen. Zu denen, die solche Befürchtungen hegten, gehörte unter andern der Stutzer und Herzensbezwinger Saloschew. Die andern aber, und ganz besonders der Herr mit den Fäusten, hegten, wenn sie es auch nicht laut aussprachen, doch in ihrem Herzen eine tiefe Verachtung, ja einen Haß gegen Nastasja Filippowna und gingen zu ihr, als ob sie gegen eine zu belagernde Stadt vorrückten. Aber die prachtvolle Einrichtung der ersten beiden Zimmer, die kostbaren Gegenstände, wie sie dergleichen nie gesehen hatten, ja nicht einmal vom Hörensagen kannten, das auserlesene Mobiliar, die große Venusstatue, alles das rief bei ihnen eine gewisse Ehrfurcht, ja beinah Angst hervor. Das konnte sie aber natürlich alle nicht daran hindern, sich allmählich mit frecher Neugier trotz ihrer Angst hinter Rogoschin her in den Salon zu drängen; aber als der Herr mit den Fäusten, der »Bittsteller« und einige andere den General Jepantschin unter den Gästen bemerkten, wurden sie im ersten Augenblick dermaßen mutlos, daß sie sogar anfingen, sich sachte nach dem andern Zimmer zurückzuziehen. Nur Lebedew, der am meisten Mut und Selbstvertrauen besaß, ging beinah an Rogoschins Seite; denn er wußte, was es bedeutet, ein Kapital von einer Million und vierhunderttausend Rubeln im Besitz und hunderttausend augenblicklich in Händen zu haben. Es muß übrigens hervorgehoben werden, daß sie alle, sogar den sachverständigen Lebedew nicht ausgeschlossen, sich über die Grenzen ihrer Macht einigermaßen im unklaren befanden und nicht wußten, ob ihnen jetzt tatsächlich alles erlaubt sei oder nicht. Lebedew hätte in manchen Augenblicken darauf schwören mögen, daß sie jetzt alles wagen dürften; aber in andern empfand er ein unruhiges Bedürfnis, sich im stillen für jeden Fall an einige Paragraphen der Gesetzsammlung, und namentlich an solche ermutigenden und beruhigenden Inhalts, zu erinnern.
Auf Rogoschin machte Nastasja Filippownas Salon den entgegengesetzten Eindruck wie auf alle seine Gefährten. Kaum hatte er die Portiere zurückgeschlagen und Nastasja Filippowna erblickt, als alles übrige für ihn zu existieren aufhörte, gerade wie am Tage, sogar in noch höherem Grade als vorher. Er wurde blaß und blieb einen Augenblick stehen; man konnte erraten, daß sein Herz furchtbar klopfte. Schüchtern und fassungslos sah er einige Sekunden lang Nastasja Filippowna mit unverwandten Augen an. Auf einmal ging er, als ob ihm alle Kraft abhanden gekommen wäre, beinah schwankend an den Tisch heran; unterwegs stieß er an Ptizyns Stuhl und trat mit seinen schmutzigen Stiefeln auf den Spitzenbesatz des prachtvollen himmelblauen Kleides der schweigsamen schönen Deutschen; aber er entschuldigte sich nicht und hatte es gar nicht bemerkt. Als er zum Tisch gelangt war, legte er einen sonderbaren Gegenstand darauf nieder, den er beim Betreten des Salons in beiden Händen vor sich hingehalten hatte. Es war ein großes Päckchen, dreizehn Zentimeter hoch und achtzehn Zentimeter lang, dicht und fest in eine Nummer der Börsennachrichten eingeschlagen und straff von allen Seiten und zweimal über Kreuz mit einem Bindfaden zusammengebunden, von der Art, wie man ihn zum Umschnüren von Zuckerhüten gebraucht. Dann stand er, ohne ein Wort zu sagen, mit herabhängenden Armen da, wie wenn er sein Urteil erwartete. Sein Anzug war ganz derselbe wie am Tage; nur hatte er jetzt ein ganz neues seidenes Tuch um den Hals, hellgrün mit rot; ferner trug er eine große Brillantnadel, die einen Käfer darstellte, und an dem schmutzigen Ringfinger der rechten Hand einen massiven Brillantring. Lebedew ging nicht bis an den Tisch heran, sondern blieb in einer Entfernung von drei oder vier Schritten stehen; die übrigen, wie schon gesagt, sammelten sich allmählich im Salon. Katja und Pascha, die beiden Stubenmädchen Nastasja Filippownas, waren auch herbeigelaufen, um hinter den ein wenig aufgehobenen Portieren hervor mit tiefem Erstaunen und großer Angst zuzusehen.
»Was ist das«? fragte Nastasja Filippowna, indem sie ihre Blicke unverwandt und neugierig auf Rogoschin richtete und mit den Augen auf das Päckchen hinwies.
»Hunderttausend Rubel«, antwortete dieser fast flüsternd.
»Ah, er hat also Wort gehalten! Na, so ein Mensch. Setzen Sie sich, bitte; da, auf diesen Stuhl; ich werde Ihnen nachher etwas sagen. Wen haben Sie da bei sich? Das ist wohl die ganze Gesellschaft von vorhin? Nun, sie sollen hereinkommen und Platz nehmen; dort auf dem Sofa ist noch Platz; und da ist noch ein anderes Sofa. Da sind zwei Lehnsessel ... Was haben die Leute denn nur? Sie wollen wohl nicht?«
Manche waren in der Tat ganz verlegen geworden, zogen sich zurück und setzten sich im anstoßenden Zimmer hin, um dort zu warten; manche aber blieben da und nahmen auf die Einladung hin Platz, aber möglichst fern vom Tisch und möglichst in den Ecken; die einen wünschten immer noch gewissermaßen zu verschwinden; die andern aber gewannen, je ferner sie saßen, um so mehr Mut, und zwar mit überraschender Geschwindigkeit. Rogoschin setzte sich ebenfalls auf den ihm angewiesenen Sessel, blieb aber nicht lange sitzen; er stand bald wieder auf und setzte sich dann nicht mehr hin. Allmählich begann er die Gäste zu unterscheiden und deutlicher zu sehen. Als er Ganja erblickte, lächelte er boshaft und flüsterte vor sich hin: »Sieh mal an!« Den General und Afanasi Iwanowitsch betrachtete er ohne Verlegenheit und sogar ohne besonderes Interesse. Aber als er neben Nastasja Filippowna den Fürsten bemerkte, vermochte er längere Zeit nicht, seinen Blick von ihm loszureißen; er war äußerst erstaunt und anscheinend nicht imstande, sich das Zusammensein dieser beiden zu erklären. Man konnte vermuten, daß er sich zeitweilig in einem Zustand wirklicher Geistesverwirrung befand. Abgesehen von allen
Erschütterungen, die ihm dieser Tag gebracht hatte, hatte er die ganze vorhergehende Nacht im Waggon zugebracht und schon fast seit achtundvierzig Stunden nicht geschlafen.
»Das sind hunderttausend Rubel, meine Herrschaften«, sagte Nastasja Filippowna, indem sie sich mit fieberhafter Ungeduld laut an alle Anwesenden wandte, »hier in diesem schmutzigen Päckchen. Heute am Tage schrie er wie ein Wahnsinniger, er werde mir am Abend hunderttausend Rubel bringen, und da habe ich denn immer auf ihn gewartet. Er hat mir nämlich ein Angebot gemacht: er fing mit achtzehntausend an; dann sprang er plötzlich auf vierzigtausend, und nun sind hier hunderttausend. Er hat Wort gehalten! O weh, wie blaß er aussieht ...! Das passierte heute alles in Ganjas Wohnung; ich war hingekommen, um seine Mama zu besuchen; zu meiner künftigen Familie war ich gekommen, und da schrie mir seine Schwester ins Gesicht: ›Schafft denn niemand dieses schamlose Weib hinaus?‹ – und ihrem Bruder Ganja spie sie ins Gesicht. Ein energisches Mädchen!«
»Nastasja Filippowna!« rief der General vorwurfsvoll.
Er begann die Sache ein wenig zu verstehen, wenigstens auf seine Art.
»Was haben Sie denn, General? Das ist wohl unschicklich, nicht wahr? Wenn ich im Französischen Theater in meiner Loge wie eine unberührbare Tugend aus der Beletage gesessen und alle, die in diesen fünf Jahren hinter mir her waren, wie menschenscheu gemieden und mir das Aussehen einer stolzen Unschuld gegeben habe, so hat mich zu diesem ganzen Benehmen nur meine Dummheit gebracht! Da ist nun dieser Mensch nach den fünf Jahren der Unschuld in Ihrer Gegenwart hergekommen und hat hunderttausend Rubel auf den Tisch gelegt, und gewiß stehen die Troiken dieser Leute schon da und warten auf mich. Auf hunderttausend Rubel hat er mich taxiert. Ganja, ich sehe, du bist auf mich immer noch böse? Hast du mich denn wirklich in deine Familie einführen wollen? Mich, Rogoschins Eigentum! Was hat der Fürst vorhin gesagt?«
»Ich habe nicht gesagt, daß Sie Rogoschins Eigentum seien; das sind Sie auch nicht!« sagte der Fürst mit zitternder Stimme.
»Nastasja Filippowna, laß es genug sein, meine liebe Freundin; laß es genug sein, Täubchen!« mischte sich Darja Alexejewna ein, die sich nicht länger beherrschen konnte. »Wenn sie dir alle so zuwider geworden sind, was brauchst du dich denn um sie zu kümmern? Du wirst doch nicht wirklich mit diesem Menschen davongehen wollen, und wenn er dir auch hunderttausend Rubel bietet! Es ist ja richtig: hunderttausend Rubel, das ist schon etwas! Nimm doch einfach die hunderttausend Rubel und jage ihn weg; so muß man es mit ihnen machen. Ach, ich würde sie an deiner Stelle alle ... was kann da weiter sein?«
Darja Alexejewna war ordentlich zornig geworden. Sie war eine gutherzige und sehr teilnahmsvolle Frau.
»Sei nicht ärgerlich, Darja Alexejewna«, erwiderte Nastasja Filippowna lächelnd; »ich habe es ihm ja nicht im Zorn gesagt. Habe ich ihm denn einen Vorwurf gemacht? Es ist mir auch ganz unbegreiflich, wie ich habe auf den dummen Gedanken kommen können, in eine ehrenhafte Familie einzutreten. Ich habe seine Mutter gesehen und ihr die Hand geküßt. Und wenn ich dich heute bei dir zu Hause verhöhnt habe, Ganja, so habe ich das absichtlich getan, um zum letztenmal zu sehen, wie weit du wohl zu gehen imstande wärest. Nun, du hast mich in Erstaunen versetzt, wahrhaftig. Ich hatte viel erwartet, aber das denn doch nicht! Konntest du dich denn wirklich dazu verstehen, mich zur Frau zu nehmen, obwohl du wußtest, daß der hier mir einen solchen Perlenschmuck ganz kurz vor deiner Hochzeit schenkt und ich ihn annehme? Und Rogoschin? Er hat ja in deiner Wohnung, in Gegenwart deiner Mutter und deiner Schwester, mir ein Gebot gemacht, und du bist doch trotz alledem hierhergekommen, um dich um meine Hand zu bewerben, und hättest beinah deine Schwester mitgebracht! Hat Rogoschin denn wirklich recht gehabt, als er von dir sagte, für drei Rubel würdest du auf allen vieren bis zur Wasili-Insel kriechen?«
»Er wird hinkriechen«, sagte Rogoschin plötzlich leise, aber im Tone festester Überzeugung.
»Und wenn du noch nahe daran wärst, Hungers zu sterben! Aber du beziehst ja, wie es heißt, ein gutes Gehalt! Und zu alledem, ganz abgesehen von der Schande, wolltest du gar noch eine Frau, die du haßt, in dein Haus führen! (Denn du haßt mich; das weiß ich!) Nein, jetzt glaube ich, daß so ein Mensch für Geld einen Mord begeht! Es hat ja jetzt alle diese Menschen eine solche Gier ergriffen, es zieht sie so zum Gelde hin, daß sie wie Irrsinnige sind. So einer steht noch in ganz jungen Jahren und geht schon unter die Wucherer! Er bringt es fertig, Seide um ein Rasiermesser zu wickeln, so daß es feststeht, und sachte von hinten einem Freund wie einem Hammel den Hals abzuschneiden, wie ich das unlängst gelesen habe. Was bist du für ein schamloser Mensch! Ich bin ja schamlos; aber du bist noch weit ärger. Von dem Bukettschenker dort will ich gar nicht einmal reden ...«
»Sind Sie es wirklich, sind Sie es wirklich, Nastasja Filippowna?« rief der General und schlug in aufrichtigem Schmerz die Hände zusammen. »Sie, die Sie sonst so zartfühlend waren und so taktvoll redeten, und nun auf einmal! Welche Sprache, welche Ausdrücke!«
»Ich bin jetzt betrunken, General«, erwiderte Nastasja Filippowna lachend, »ich will fidel sein! Heute ist mein Tag, mein Fest- und Feiertag; auf den habe ich schon lange gewartet. Darja Alexejewna, siehst du da diesen Bukettschenker, diesen monsieur aux camélias? Da sitzt er und lacht uns aus ...«
»Ich lache nicht, Nastasja Filippowna; ich höre nur mit der größten Aufmerksamkeit zu«, entgegnete Tozki mit würdiger Ruhe.
»Warum habe ich ihn eigentlich fünf volle Jahre lang gequält und nicht von mir loskommen lassen? War er das denn wert? Er kann eben nicht anders sein, als er ist ... Er wird noch behaupten, daß ich in seiner Schuld stehe: er hat mich ja erziehen lassen und mich wie eine Gräfin unterhalten; was ist da für Geld daraufgegangen; und dann hat er schon dort einen anständigen Mann für mich ausgesucht und nun hier diesen Ganja. Und solltest du es glauben: ich habe diese fünf Jahre nicht mit ihm zusammengelebt, aber das Geld von ihm angenommen und im Recht zu sein gemeint! Ich war ja ganz wirr im Kopf geworden! Ich handelte nach deinem Grundsatz: ›Nimm die hunderttausend Rubel und jage den Geber weg, wenn er dir zuwider ist!‹ Daß er mir zuwider ist, ist richtig ... Ich hätte mich auch schon längst verheiraten können, und nicht nur mit Ganja; aber auch das war mir schon zuwider. Und warum habe ich meine fünf Jahre in dieser boshaften Stimmung verloren! Aber ob du es nun glaubst oder nicht: vor vier Jahren habe ich manchmal daran gedacht, ob ich nicht ganz einfach meinen Afanasi Iwanowitsch heiraten sollte. Dieser Gedanke ging bei mir damals nur aus Bosheit hervor; was ging mir damals nicht alles durch den Kopf; aber ich hätte ihn dazu bringen können, wirklich! Er selbst hat es mir angeboten, glaubst du es oder nicht? Er meinte es ja nicht ehrlich; aber er ist gar zu lüstern und kann seine Begierden nicht unterdrücken. Aber dann überlegte ich mir Gott sei Dank: ist er es denn wert, daß ich um seinetwillen eine solche Schlechtigkeit begehe? Und er wurde mir damals plötzlich so zuwider, daß ich seitdem, auch wenn er mir selbst seine Hand antrüge, sie ablehnen würde. Und ganze fünf Jahre habe ich in dieser gekünstelten Manier gelebt!
Nein, das beste ist schon, ich gehe auf die Straße, wo ich ja auch hingehöre! Entweder will ich mit Rogoschin lustig leben oder gleich morgen Wäscherin werden! Denn Eigentum habe ich ja keines; ich werfe ihm alles hin; das letzte Läppchen lasse ich hier; und wenn ich so gar nichts habe, wer nimmt mich dann zur Frau? Frag mal Ganja, ob er mich nehmen würde! Nicht einmal Ferdyschtschenko würde mich nehmen ...!«
»Ferdyschtschenko würde Sie vielleicht nicht nehmen, Nastasja Filippowna; ich bin ein offenherziger Mensch«, unterbrach sie Ferdyschtschenko. »Aber dafür würde der Fürst Sie nehmen! Sie sitzen da und klagen; sehen Sie doch einmal den Fürsten an! Ich beobachte ihn schon lange ...«
Nastasja Filippowna wandte sich neugierig zum Fürsten hin.
»Ist das wahr?« fragte sie.
»Ja, es ist wahr«, flüsterte der Fürst.
»Sie nehmen mich so, wie ich da bin, ohne alles?«
»Ja, das tue ich, Nastasja Filippowna ...«
»Da haben wir ja eine neue Tollheit!« murmelte der General. »Das war zu erwarten!«
Der Fürst schaute Nastasja Filippowna traurig, ernst und durchdringend ins Gesicht, die ihrerseits fortfuhr, ihn anzusehen.
»Da hat sich doch einer gefunden!« sagte sie dann, indem sie sich wieder zu Darja Alexejewna wandte. »Und er tut es rein aus gutem Herzen; das weiß ich. Ich habe einen Wohltäter gefunden! Übrigens haben die Leute vielleicht recht, wenn sie von ihm sagen, daß er ... hm, na ja! Wovon wirst du denn leben, wenn du schon so verliebt bist, daß du, ein Fürst, Rogoschins Geliebte heiraten willst?«
»Ich nehme Sie als eine ehrbare Frau, Nastasja Filippowna, und nicht als Rogoschins Geliebte«, antwortete der Fürst.
»Ich bin also eine ehrbare Frau?«
»Ja.«
»Nun, das hast du wohl aus Romanen! Das sind altmodische Torheiten, liebster Fürst; aber jetzt ist die Welt klüger geworden, und all das ist jetzt Unsinn! Und wie kannst du denn heiraten? Du brauchst ja selbst noch eine Wärterin!«
Der Fürst stand auf und sagte mit zitternder, schüchterner Stimme, aber zugleich mit der Miene tiefster Überzeugung:
»Ich weiß nichts von der Welt, Nastasja Filippowna; ich habe nichts von der Welt gesehen; darin haben Sie recht; aber ich ... ich bin der Ansicht, daß Sie mir eine Ehre erweisen und nicht ich Ihnen. Ich bin ein Nichts; aber Sie haben gelitten und sind aus einer solchen Hölle rein hervorgegangen, und das ist etwas Großes. Warum schämen Sie sich also und wollen zu Rogoschin gehen? Das ist Fieber ... Sie haben Herrn Tozki die fünfundsiebzigtausend Rubel zurückgegeben und sagen, daß Sie auf alles, was hier ist, verzichten werden; dessen wäre keiner der hier Anwesenden fähig. Ich ... ich liebe Sie, Nastasja Filippowna. Ich sterbe für Sie. Ich werde nicht dulden, daß jemand über Sie ein schlechtes Wort sagt. Wenn wir arm sein werden, so werde ich arbeiten, Nastasja Filippowna ...«
Bei den letzten Worten hörte man Ferdyschtschenko und Lebedjew kichern, und selbst der General räusperte sich sehr mißvergnügt. Ptizyn und Tozki konnten sich nicht enthalten zu lächeln, beherrschten sich aber noch. Die übrigen rissen geradezu den Mund auf vor Verwunderung.
»... Aber vielleicht werden wir nicht arm sein, sondern sehr reich, Nastasja Filippowna«, fuhr der Fürst in demselben bescheidenen Ton fort. »Ich weiß es übrigens nicht bestimmt und bedaure, daß ich den ganzen Tag über bis jetzt darüber nichts habe erfahren können; aber ich habe in der Schweiz einen Brief aus Moskau von einem Herrn Salaskin erhalten, und er teilt mir mit, ich könne eine sehr große Erbschaft antreten. Hier ist der Brief ...«
Der Fürst zog wirklich einen Brief aus der Tasche.
»Redet er denn irre?« murmelte der General. »Es ist ja hier das reine Narrenhaus!«
Für einen Augenblick trat Stillschweigen ein.
»Sie sagten ja wohl, Fürst, der Brief an Sie sei von Salaskin?« fragte Ptizyn. »Das ist ein in seinen Kreisen sehr bekannter Mann, ein bekannter Rechtsanwalt, und wenn er Ihnen das wirklich mitgeteilt hat, so können Sie sich vollständig darauf verlassen. Zum Glück kenne ich seine Handschrift, da ich erst kürzlich mit ihm geschäftlich zu tun hatte ... Wenn Sie mir den Brief zur Einsicht geben wollten, so könnte ich Ihnen vielleicht etwas darüber sagen.«
Mit zitternder Hand reichte ihm der Fürst schweigend den Brief hin.
»Ja, was hat denn das zu bedeuten? Was hat das zu bedeuten?« rief der General erstaunt und blickte alle wie ein Halbirrer an. »Hat er wirklich eine Erbschaft gemacht?«
Alle richteten ihre Blicke auf Ptizyn, der den Brief las. Die allgemeine Neugier hatte einen neuen außerordentlichen Anstoß erhalten. Ferdyschtschenko war außerstande, auf seinem Platz sitzenzubleiben; Rogoschin machte ein verständnisloses, furchtbar beunruhigtes Gesicht und sah abwechselnd nach dem Fürsten und nach Ptizyn hin. Darja Alexejewna saß in gespannter Erwartung wie auf Nadeln. Selbst Lebedjew vermochte sich nicht zu beherrschen; er kam aus seiner Ecke hervor und blickte, sich tief hinabbeugend, über Ptizyns Schulter in den Brief, mit der Miene eines Menschen, der darauf gefaßt ist, im nächsten Augenblick eine Ohrfeige zu erhalten.
»Die Sache hat ihre Richtigkeit«, erklärte Ptizyn endlich, indem er den Brief wieder zusammenfaltete und dem Fürsten zurückgab. »Sie werden ohne alle Umstände auf Grund des unanfechtbaren Testaments Ihrer Tante ein sehr beträchtliches Kapital erhalten.«
»Es ist unmöglich!« rief der General unwillkürlich.
Alle rissen wieder den Mund auf.
Sich vorzugsweise an Iwan Fjodorowitsch wendend, setzte Ptizyn die Sache folgendermaßen auseinander. Vor fünf Monaten sei eine Tante des Fürsten gestorben, die er nie persönlich gekannt habe, eine ältere Schwester seiner Mutter, die Tochter des Moskauer Kaufmanns dritter Gilde Papuschin, der Bankrott gemacht habe und in größter Armut gestorben sei. Aber der gleichfalls unlängst verstorbene ältere Bruder dieses Papuschin sei ein bekannter, reicher Kaufmann gewesen. Vor einem Jahr seien ihm fast in ein und demselben Monat seine beiden einzigen Söhne gestorben. Das habe der alte Mann sich so zu Herzen genommen, daß er bald darauf selbst erkrankt und gestorben sei. Er sei Witwer gewesen, und es seien absolut keine andern Erben dagewesen als die Tante des Fürsten, die Nichte Papuschins, eine sehr arme Frau, die bei fremden Leuten lebte. Zu der Zeit, als ihr diese Erbschaft zugefallen sei, habe diese Tante schon an Wassersucht todkrank gelegen, habe aber sofort Nachforschungen nach dem Fürsten anstellen lassen, womit Salaskin von ihr betraut worden sei, und vor ihrem Tod noch Zeit gehabt, ein Testament zu machen. Anscheinend hätten weder der Fürst noch der Arzt, bei dem er in der Schweiz gewohnt habe, auf eine amtliche Benachrichtigung warten oder Erkundigungen einziehen mögen; sondern der Fürst habe sich entschlossen, mit Salaskins Brief in der Tasche selbst nach Rußland zurückzukehren.
»Ich kann Ihnen nur sagen«, schloß Ptizyn, sich an den Fürsten wendend, »daß das alles jedenfalls sicher und richtig ist und daß Sie alles, was Ihnen Salaskin über die Unanfechtbarkeit und Gesetzlichkeit Ihrer Ansprüche schreibt, so ansehen können, als hätten Sie bereits das bare Geld in der Tasche. Ich gratuliere Ihnen, Fürst! Vielleicht erhalten Sie anderthalb Millionen, möglicherweise auch noch mehr; denn Papuschin war ein sehr reicher Kaufmann.«
»Es lebe der letzte Fürst Myschkin!« brüllte Ferdyschtschenko.
»Hurra!« schrie Lebedjew mit seiner vom Trinken heiseren Stimme.
»Und ich habe dem armen Schlucker heute noch fünfundzwanzig Rubel geliehen, hahaha! Das ist ja die reine Zaubervorstellung!« rief der General, der vor Erstaunen wie betäubt war. »Nun, ich gratuliere, ich gratuliere!«
Er erhob sich von seinem Platz, ging zum Fürsten hin und umarmte ihn. Nach ihm standen auch die andern auf und drängten sich ebenfalls zum Fürsten heran. Sogar diejenigen, die sich hinter die Portiere zurückgezogen hatten, erschienen wieder im Salon. Ein buntes Stimmengetöse erhob sich; allerlei Ausrufe erschollen; man rief sogar nach Champagner; alles drängte und stieß sich; alle waren in geschäftiger Bewegung. Für einen Augenblick hatte man Nastasja Filippowna fast vergessen, und daß sie doch eigentlich bei ihrer Abendgesellschaft die Wirtin war. Aber allmählich trat allen fast gleichzeitig der Gedanke wieder vor die Seele, daß der Fürst ihr soeben einen Heiratsantrag gemacht habe. Die Sache erschien dadurch noch weit seltsamer und ungewöhnlicher als vorher. Tozki zuckte im höchsten Erstaunen die Schultern; er war fast der einzige, der sitzengeblieben war; der ganze übrige Schwarm drängte sich unordentlich um den Tisch. Alle behaupteten später, von diesem Augenblick an sei Nastasja Filippowna geistig gestört gewesen. Sie saß immer noch da und betrachtete eine Zeitlang alle mit einem sonderbaren, verwunderten Blick, wie wenn sie das alles nicht begriffe und sich Mühe gäbe, eine klare Vorstellung zu gewinnen. Dann wandte sie sich auf einmal zum Fürsten hin und sah ihn mit finster zusammengezogenen Brauen starr an; indes dauerte das nur einen Augenblick; vielleicht hatte sie auf einmal geglaubt, daß alles nur Scherz und Spott sei. Aber die Miene des Fürsten mußte sie vom Gegenteil überzeugen. Sie wurde nachdenklich; dann lächelte sie wieder, als wüßte sie selbst nicht recht, worüber sie eigentlich lächelte ...
»Also bin ich wirklich eine Fürstin!« flüsterte sie gewissermaßen spöttisch vor sich hin und lachte, als sie zufällig nach Darja Alexejewna hinblickte, laut auf. »Eine unerwartete Lösung ...! So ... so hatte ich sie mir nicht gedacht ... Aber warum stehen Sie denn, meine Herrschaften? Bitte, setzen Sie sich doch und gratulieren Sie mir und dem Fürsten! Es hatte ja wohl jemand Champagner gewünscht; Ferdyschtschenko, gehen Sie doch einmal hin und bestellen Sie welchen! Katja, Pascha«, sagte sie zu ihren Dienstmädchen, die sie in diesem Augenblick an der Tür erblickte, »kommt heran; ich werde mich verheiraten; habt ihr es gehört? Mit dem Fürsten; der besitzt anderthalb Millionen; er ist ein Fürst Myschkin und nimmt mich zur Frau!«
»Gott gebe dazu seinen Segen, liebste Freundin; es ist auch hohe Zeit! Das darfst du dir nicht entgehen lassen!« rief Darja Alexejewna, die durch diese Vorgänge tief erschüttert war.
»Aber setzen Sie sich doch neben mich, Fürst!« fuhr Nastasja Filippowna fort. »So ist's recht; und da kommt auch der Champagner. Nun gratulieren Sie, meine Herrschaften!«
»Hurra!« schrien viele Stimmen.
Viele drängten sich zum Champagner hin; darunter befanden sich fast alle Begleiter Rogoschins. Aber obgleich sie bereitwillig schrien, so hatten doch viele von ihnen trotz der Seltsamkeit der Umstände und der Umgebung die Empfindung, daß sich ein Szenenwechsel vollzog. Andere waren verlegen und warteten mißtrauisch ab. Viele aber flüsterten einander zu, eigentlich sei an der Geschichte nichts Ungewöhnliches; was heirateten die Fürsten nicht oft für Frauen! Suchten sie sich doch manchmal ihre Weiber im Zigeunerlager aus! Rogoschin stand da und sah alle diese Vorgänge mit an; er hatte sein Gesicht zu einem starren, verständnislosen Lächeln verzogen.
»Fürst, liebster Freund, so komm doch zu dir!« flüsterte der General ganz entsetzt, indem er von der Seite an ihn herantrat und ihn am Ärmel zupfte.
Nastasja Filippowna bemerkte es und lachte.
»Nein, General! Ich bin jetzt selbst eine Fürstin; haben Sie es gehört: der Fürst wird mich von niemand beleidigen lassen! Afanasi Iwanowitsch, gratulieren Sie mir doch! Ich werde jetzt überall neben Ihrer Gemahlin sitzen dürfen; meinen Sie nicht, daß es vorteilhaft ist, einen solchen Mann zu haben? Anderthalb Millionen, und dazu noch Fürst, und überdies noch, wie es heißt, ein Idiot: was will man mehr? Jetzt fängt erst das wahre Leben an! Du bist zu spät gekommen, Rogoschin! Nimm dein Päckchen wieder mit; ich heirate den Fürsten und bin selbst reicher als du!«
Aber jetzt hatte Rogoschin endlich begriffen, um was es sich handelte. Ein unsägliches Leid prägte sich auf seinem Gesicht aus. Er schlug die Hände zusammen, und ein Stöhnen entrang sich seiner Brust.
»Tritt zurück!« schrie er dem Fürsten zu.
Ringsum wurde gelacht.
»Er soll wohl zu deinen Gunsten zurücktreten?« fiel Darja Alexejewna triumphierend ein. »Seht doch, wie er das Geld auf den Tisch geworfen hat, der Plebejer! Der Fürst wird sie zur Frau nehmen; du aber warst zu unsittlichem Zweck hergekommen!«
»Ich nehme sie auch zur Frau! Sofort nehme ich sie zur Frau, augenblicklich! Alles will ich hingeben ...«
»Seht doch, kommt der Mensch betrunken aus der Schenke hierher! Davonjagen sollte man dich!« schalt Darja Alexejewna empört weiter.
Das Gelächter wurde noch stärker.
»Hörst du, Fürst«, wandte sich Nastasja Filippowna an diesen, »was der Plebejer deiner Braut für ein Angebot macht?«
»Er ist betrunken«, erwiderte der Fürst; »er liebt Sie sehr.«
»Wirst du dich auch später nicht schämen, daß deine Braut beinah mit Rogoschin weggefahren wäre?«
»Sie fieberten; auch jetzt fiebern Sie und reden irre.«
»Und wirst du dich nicht schämen, wenn die Leute später zu dir sagen werden, daß deine Frau früher Tozkis Geliebte gewesen ist?«
»Nein, ich werde mich nicht schämen. Sie waren nicht aus eigenem Willen bei Tozki.«
»Und wirst du mir nie einen Vorwurf deswegen machen?«
»Nein, das werde ich nicht tun.«
»Nun, sieh dich vor; für das ganze Leben kann man nicht garantieren.«
»Nastasja Filippowna«, versetzte der Fürst leise und mitleidig, »ich habe Ihnen vorhin gesagt, daß ich Ihr Jawort als eine Ehre für mich ansehe und daß Sie mir eine Ehre erweisen und nicht ich Ihnen. Sie haben dazu gelächelt, und ich habe gehört, daß auch um uns herum gelacht wurde. Ich habe mich vielleicht sehr lächerlich ausgedrückt und bin vielleicht auch selbst dabei eine lächerliche Person gewesen; aber es ist mir immer so vorgekommen, als ob ich ... als ob ich verstehe, worin die Ehre besteht, und ich bin überzeugt, daß ich die Wahrheit gesagt habe. Sie wollten sich soeben zugrunde richten; sich unwiederbringlich zugrunde richten; denn Sie würden sich das später nie verzeihen, obwohl Sie keine Schuld trifft. Es ist unmöglich, daß Ihr Leben schon gänzlich zerstört sein sollte. Was hat es denn für eine Bedeutung, daß Rogoschin zu Ihnen gekommen ist und daß Gawrila Ardalionowitsch Sie hat betrügen wollen? Warum sprechen Sie beständig davon? Dessen, was Sie getan haben, sind nicht viele Menschen fähig, das wiederhole ich Ihnen; und was Ihren Entschluß, mit Rogoschin wegzufahren, anlangt, so haben Sie ihn in einem Krankheitsanfall gefaßt. In einem solchen Anfall befinden Sie sich auch jetzt, und Sie täten am besten, zu Bett zu gehen. Sie würden schon morgen Wäscherin werden und nicht bei Rogoschin bleiben. Sie sind stolz, Nastasja Filippowna; aber vielleicht sind Sie schon bis zu dem Grade unglücklich, daß Sie sich wirklich für schuldig halten. Sie bedürfen vieler Pflege, Nastasja Filippowna, und ich werde Sie pflegen. Ich habe heute vormittag Ihr Bild gesehen, und es kam mir vor, als würde ich ein bekanntes Gesicht wiedererkennen. Ich hatte sofort eine Empfindung, wie wenn Sie mich riefen ... Ich ... ich werde Sie mein ganzes Leben lang achten, Nastasja Filippowna«, schloß der Fürst und errötete, als käme er auf einmal zur Besinnung und merkte, vor welchen Leuten er das sagte.
Ptizyn hielt schamhaft den Kopf gesenkt und blickte auf den Fußboden. Tozki dachte im stillen: »Er ist ein Idiot, weiß aber instinktiv, daß man durch Schmeichelei am ehesten zum Ziel kommt!« Der Fürst bemerkte auch Ganjas funkelnden Blick aus der Ecke her, mit dem dieser ihn förmlich verbrennen zu wollen schien.
»Nein, ist das einmal ein guter Mensch!« rief Darja Alexejewna ganz gerührt.
»Ein gebildeter Mensch, aber ein verlorener Mensch!« flüsterte der General halblaut.
Tozki nahm seinen Hut und schickte sich an aufzustehen, um still zu verschwinden. Er und der General wechselten Blicke miteinander, um zusammen fortzugehen.
»Ich danke dir, Fürst; so hat bisher noch nie jemand mit mir gesprochen«, sagte Nastasja Filippowna. »Man hat mich immer kaufen wollen; aber zur Frau hat mich noch kein anständiger Mensch nehmen mögen. Haben Sie es gehört, Afanasi Iwanowitsch? Wie denken Sie über das, was der Fürst gesagt hat? Sie werden wohl meinen, es sei beinahe unschicklich ... Rogoschin, warte du noch mit dem Fortgehen! Aber ich sehe, du willst ja auch noch gar nicht weg. Vielleicht komme ich doch noch mit dir. Wohin wolltest du mich denn bringen?«
»Nach Jekateringof«, rapportierte Lebedjew aus seiner Ecke, während Rogoschin nur zusammenfuhr und die Augen aufriß, als glaube er falsch gehört zu haben. Er war ganz stumpfsinnig geworden, wie wenn er einen furchtbaren Schlag über den Kopf erhalten hätte.
»Aber was redest du denn, was redest du denn, meine Beste? Du leidest ja wirklich an Anfällen! Hast du denn ganz den Verstand verloren?« rief Darja Alexejewna erschrocken.
»Hast du es denn im Ernst geglaubt?« erwiderte Nastasja Filippowna lachend und sprang vom Sofa auf. »Sollte ich denn ein solches Kind zugrunde richten? Da würde ich ja gerade so handeln wie Afanasi Iwanowitsch; das ist so ein Kinderfreund! Wir wollen fahren, Rogoschin! Halte dein Päckchen bereit! Daß du mich heiraten willst, macht dabei nichts aus; das Geld gib mir trotzdem! Ich nehme dich vielleicht jetzt noch gar nicht. Hattest du gedacht, wenn du mich heiratest, würdest du das Päckchen behalten können? Dummes Zeug! Ich kenne keine Scham! Ich bin Tozkis Konkubine gewesen ... Fürst, wen du jetzt nötig hast, das ist Aglaja Jepantschina und nicht Nastasja Filippowna; sonst kommt es noch dahin, daß Ferdyschtschenko mit Fingern auf dich weist! Du fürchtest dich nicht; aber ich würde mich fürchten, daß ich dich zugrunde richtete und du es mir nachher vorwürfest! Und wenn du erklärst, ich erwiese dir eine Ehre, so weiß damit Tozki Bescheid. Du aber, Ganja, hast Aglaja Jepantschina verpaßt: weiß du das wohl? Hättest du nicht mir ihr ein Handelsgeschäft machen wollen, so hätte sie dich bestimmt genommen! Ja, so seid ihr Männer alle; aber man muß sich für eins von beiden entscheiden: ob man mit unanständigen oder mit anständigen Frauen zu tun haben will. Sonst entsteht unfehlbar Verwirrung ... Seht mal, der General starrt mich mit offenem Mund an ... y«
»Das ist ja das reine Sodom, das reine Sodom!« sagte der General achselzuckend.
Auch er stand jetzt vom Sofa auf; alle waren wieder auf den Beinen. Nastasja Filippowna schien sich in einem Zustand der Raserei zu befinden.
»Ist es denn möglich?« stöhnte der Fürst händeringend. »Das hattest du wohl nicht erwartet? Ich besitze vielleicht auch selbst meinen Stolz, wenn ich auch ein schamloses Weib bin! Du hast mich vorhin eine vollkommene Frau genannt; das ist eine schöne Vollkommenheit, wenn ich mich in ein Sumpflokal begebe, bloß um mich rühmen zu können, daß ich eine Million und eine Fürstenkrone mit Füßen getreten habe! Wie kann ich unter solchen Umständen eine passende Frau für dich sein? Afanasi Iwanowitsch, ich habe tatsächlich eine Million zum Fenster hinausgeworfen! Wie haben Sie nur denken können, ich würde es für ein Glück halten, Ganja und Ihre fünfundsiebzigtausend Rubel zu heiraten! Behalte deine fünfundsiebzigtausend Rubel für dich, Afanasi Iwanowitsch (du bist nicht einmal bis auf hunderttausend gegangen; Rogoschin hat dich überboten!), und Ganja werde ich selbst zu trösten wissen; es ist mir da ein Gedanke gekommen. Jetzt aber will ich mich amüsieren; ich bin ja eine Straßendirne! Ich habe zehn Jahre lang im Gefängnis gesessen; jetzt kommt für mich die Zeit des Glücks! Nun, wie steht's, Rogoschin? Mach dich fertig; wir wollen fahren!«
»Wir wollen fahren!« brüllte Rogoschin, fast rasend vor Freude. »Heda, ihr alle ... Wein her! Oh, ach!«
»Sorge nur für Wein; ich werde trinken! Wird auch Musik da sein?«
»Gewiß, gewiß! Nicht herangehen!« schrie Rogoschin wütend, als er sah, daß Darja Alexejewna sich Nastasja Filippowna nähern wollte. »Sie gehört mir! Alles gehört mir! Sie ist meine Königin! Ich habe es erreicht!«
Er konnte vor Freude kaum atmen; er ging um Nastasja Filippowna herum und schrie allen zu: »Nicht herankommen!« Sein ganzes Gefolge war nun in den Salon eingedrungen. Die einen tranken, andere schrien und lachten; alle waren in höchst animierter, ungezwungener Stimmung. Ferdyschtschenko machte Versuche, sich ihnen anzuschließen. Der General und Tozki machten wieder eine Bewegung, um möglichst bald zu verschwinden.
Auch Ganja hatte den Hut in der Hand; aber er stand schweigend da und schien sich von dem Bild, das sich da vor seinen Augen entrollte, noch nicht losreißen zu können.
»Nicht herankommen!« schrie Rogoschin.
»Aber was brüllst du denn?« schalt ihn Nastasja Filippowna lachend. »Ich bin hier noch die Wirtin in meiner eigenen Wohnung; wenn ich will, kann ich dich immer noch mit Rippenstößen hinausjagen lassen. Noch habe ich das Geld nicht von dir angenommen; da liegt es; gib es her, das ganze Päckchen! Also in diesem Päckchen sind hunderttausend Rubel? Pfui, wie schmutzig es aussieht! Was hast du, Darja Alexejewna? Sollte ich ihn denn wirklich zugrunde richten?« (Sie wies auf den Fürsten.) »Wie kann er denn heiraten? Er braucht ja selbst noch eine Wärterin; der General dort, der wird nun seine Wärterin sein; sieh nur, wie er um ihn herumscharwenzelt! Schau her, Fürst, deine Braut hat das Geld genommen, weil sie eine Dirne ist; und du wolltest sie heiraten! Aber warum weinst du denn? Es ist dir wohl schmerzlich, wie? Aber meiner Ansicht nach solltest du lachen«, fuhr Nastasja Filippowna fort, der selbst zwei große Tränen auf den Wangen funkelten. »Vertraue auf die Zeit; es geht alles vorüber! Besser, man bedenkt das jetzt, als später ... Und warum weint ihr denn? Da, auch Katja weint! Was hast du denn, liebe Katja? Ich lasse dir und Pascha viel zurück; ich habe darüber schon die nötigen Anordnungen getroffen; jetzt aber lebt wohl! Ich habe von dir, einem anständigen Mädchen, verlangt, daß du mich, eine Dirne, bedienen solltest ... Es ist besser so, Fürst, wirklich besser; du würdest mich später verachten, und es würde nicht unser Glück sein! Schwöre nicht! Ich glaube es nicht. Und wie dumm würde es auch sein ...! Nein, am besten scheiden wir voneinander als gute Freunde; auch ich bin ja eine Träumerin; es würde nichts Gutes dabei herauskommen! Habe ich nicht selbst von dir geträumt? Darin hast du recht; ich habe schon lange von dir geträumt, schon als ich bei ihm auf dem Dorf fünf Jahre lang mutterseelenallein lebte; da denkt und denkt man manchmal und träumt und träumt, und da habe ich mir immer so einen Mann vorgestellt, wie du einer bist, einen guten, ehrenhaften, braven, ein bißchen dummen Mann, der auf einmal kommt und sagt: ›Sie tragen keine Schuld, Nastasja Filippowna, und ich vergöttere Sie!‹ Und ich versenkte mich manchmal so in meine Träumereien, daß ich fast den Verstand verlor ... Und da kam nun dieser Mensch hier: alle Jahre blieb er zwei Monate lang zu Besuch, entehrte und schändete mich, entflammte und verdarb mich und fuhr dann wieder davon. Tausendmal habe ich in den Teich springen wollen; aber ich war zu feige, mein Mut reichte dazu nicht aus. Nun, aber jetzt ... Rogoschin, bist du bereit?«
»Alles bereit! Nicht herankommen!«
»Alles bereit!« riefen mehrere Stimmen.
»Die Troiken warten, mit Schellen!«
Nastasja Filippowna nahm das Päckchen in die Hand.
»Ganja, mir ist ein Gedanke gekommen: ich will dich entschädigen; denn warum solltest du alles verlieren? Rogoschin, wird er für drei Rubel bis nach der Wasili-Insel kriechen?«
»Jawohl, das wird er tun!«
»Nun denn, so höre, Ganja; ich will zum letztenmal einen Blick in deine Seele tun; du hast mich deinerseits ganze drei Monate lang gequält; jetzt ist die Reihe an mir. Du siehst dieses Päckchen; darin sind hunderttausend Rubel! Ich werde es jetzt gleich in den Kamin werfen, ins Feuer, hier vor aller Augen; alle Anwesenden sind Zeugen! Sobald das Feuer es ganz erfaßt haben wird, greife in den Kamin, aber ohne Handschuhe, mit bloßen Händen und aufgestreiften Ärmeln, und zieh das Päckchen aus dem Feuer! Wenn du es herausziehst, soll es dir gehören, die ganzen hunderttausend Rubel sollen dir gehören! Du wirst dir nur ein ganz klein bißchen die Fingerchen verbrennen; aber dafür bekommst du auch hunderttausend Rubel, bedenk das wohl! Das Herausholen ist ja in einem Augenblick ausgeführt! Ich aber will mich an dem Anblick deiner Seele erfreuen, wie du nach meinem Geld ins Feuer greifst. Alle sind Zeugen, daß das Päckchen dann dir gehört! Greifst du aber nicht hinein, so verbrennt es; ich werde keinen andern heranlassen. Weg da! Alle weg! Es ist mein Geld! Ich habe es von Rogoschin für eine Nacht bekommen. Gehört das Geld mir, Rogoschin?«
»Dir gehört es, du meine Herzensfreude! Dir, du meine Königin!«
»Nun, dann also alle weg! Was ich will, das tue ich auch! Suche mich keiner zu hindern! Ferdyschtschenko, schüren Sie das Feuer!«
»Nastasja Filippowna, ich kann die Arme nicht heben!« erwiderte Ferdyschtschenko, der ganz wie benommen war.
»Ach was!« rief Nastasja Filippowna, ergriff die Feuerzange, scharrte zwei schwelende Holzscheite auseinander und warf, sobald das Feuer lebhafter aufbrannte, das Päckchen hinein. Die Umstehenden stießen einen Schrei aus; viele bekreuzigten sich sogar.
»Sie ist verrückt geworden!« wurde ringsum gerufen.
»Sollten wir ... sollten wir sie nicht binden?« flüsterte der General dem neben ihm stehenden Ptizyn zu. »Oder sollten wir nicht nach der Polizei schicken ...? Sie ist ja verrückt geworden, total verrückt.«
»N-nein das ist vielleicht gar nicht Verrücktheit«, flüsterte Ptizyn zurück, der bleich wie Leinwand geworden war, am ganzen Leibe zitterte und seine Augen von dem bereits schwelenden Päckchen nicht loszureißen vermochte.
»Ist sie nicht verrückt? Ist sie nicht verrückt?« fragte der General dann beharrlich Tozki.
»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß sie ein eigentümliches Weib ist«, murmelte Afanasi Iwanowitsch, der ebenfalls etwas blaß geworden war.
»Aber es sind ja doch hunderttausend Rubel ...!«
»Herr Gott, Herr Gott!« wurde ringsumher gerufen. Alle umdrängten den Kamin, alle wollten sehen, alle schrien ... Manche stiegen sogar auf Stühle, um über die Köpfe der andern hinwegsehen zu können. Darja Alexejewna stürzte in das Nebenzimmer und redete dort in ängstlichem Flüsterton mit Katja und Pascha. Die schöne Deutsche war davongelaufen.
»Mütterchen, Königin, Großmächtige!« heulte Lebedjew, der auf den Knien vor Nastasja Filippowna herumkroch und die Hände nach dem Kamin ausstreckte.
»Hunderttausend, hunderttausend! Ich habe sie selbst gesehen; sie sind vor meinen Augen eingepackt worden. Mütterchen! Barmherzige! Erlaube mir, in den Kamin hineinzugreifen; ich will ganz und gar hineinkriechen; meinen ganzen grauen Kopf will ich ins Feuer hineinlegen ...! Ich habe ein krankes Weib, das nicht gehen kann, und dreizehn Kinder, für die keine Mutter sorgt; meinen Vater habe ich in der vorigen Woche begraben; wir haben nichts zu essen, Nastasja Filippowna!«
Unter solchem Klagegeschrei wollte er schon zum Kamin hinkriechen.
»Weg!« rief Nastasja Filippowna und stieß ihn fort. »Tretet alle auseinander! Ganja, was stehst du da? Schäme dich nicht, greif hinein! Es handelt sich um dein Lebensglück!«
Aber Ganja hatte schon zuviel an diesem Tag und an diesem Abend ertragen und war auf diese letzte, unerwartete Prüfung nicht vorbereitet. Die Menge trat vor ihnen nach beiden Seiten auseinander, und er blieb Auge in Auge mit Nastasja Filippowna stehen, drei Schritte von ihr entfernt. Sie stand dicht beim Kamin und wartete, ohne ihren brennenden, festen Blick von ihm abzuwenden. Ganja, in Frack und Handschuhen, den Hut in der Hand, stand, ohne ein Wort zu sagen und ohne eine Antwort zu geben, vor ihr, hatte die Arme gekreuzt und blickte ins Feuer. Ein irres Lächeln huschte über sein Gesicht, das totenblaß geworden war. Allerdings vermochte er die Augen nicht von dem Feuer und dem glimmenden Päckchen wegzuwenden; aber ein neues Gefühl schien in seine Seele Eingang gefunden zu haben; er hatte sich geschworen, diese Folter zu ertragen; er rührte sich nicht vom Fleck; nach einigen Augenblicken war es allen deutlich geworden, daß er zu dem Päckchen nicht hingehen werde, nicht hingehen wolle.
»Paß auf, das Geld wird verbrennen, und man wird dich auslachen!« rief ihm Nastasja Filippowna zu. »Nachher wirst du dich aufhängen; ich scherze nicht!«
Das Feuer, das anfangs zwischen den beiden schwelenden Holzscheiten aufgeflammt war, hatte, als das Päckchen darauf fiel und es niederdrückte, zunächst beinahe erlöschen wollen. Aber eine kleine, blaue Flamme klammerte sich noch unten an eine Ecke des darunterliegenden Scheites. Endlich leckte eine schmale, lange Feuerzunge auch an dem Päckchen; das Feuer blieb daran haften und lief an den Ecken an dem Papier in die Höhe, und plötzlich flammte das ganze Päckchen im Kamin auf, und eine helle Flamme schlug in die Höhe. Alle stöhnten auf.
»Mütterchen!« heulte Lebedjew immer noch und stürzte wieder nach vorn; aber Rogoschin zog und stieß ihn von neuem hinweg.
Rogoschin selbst hatte sich sozusagen ganz in einen einzigen starren Blick verwandelt. Er konnte sich von Nastasja Filippowna nicht losreißen; er berauschte sich an ihr; er war im siebenten Himmel.
»Das ist einmal eine Königin!« wiederholte er alle Augenblicke, indem er sich bald an diesen, bald an jenen der Umstehenden wandte. »Das ist einmal nach meinem Geschmack!« rief er, kaum von sich selbst wissend. »Na, wer von euch, ihr armseligen Gauner, ist eines solchen Streiches fähig, he?«
Der Fürst beobachtete die Vorgänge traurig und schweigend.
»Ich hole es für einen einzigen Tausender mit den Zähnen heraus!« erbot sich Ferdyschtschenko.
»Ich täte es ebenfalls mit den Zähnen!« knirschte der hinter allen stehende Herr mit den Fäusten in einem Anfall echter Verzweiflung. »Hol's der Teufel! Es brennt, es brennt vollständig!« schrie er, als er die Flamme sah.
»Es brennt, es brennt!« riefen alle zugleich und stürzten fast sämtlich ebenfalls zum Kamin hin.
»Ganja, sei nicht eigensinnig; ich sage es zum letztenmal!«
»Greif hinein!« brüllte Ferdyschtschenko, indem er in voller Raserei zu Ganja hinstürzte und ihn am Ärmel riß. »Greif hinein, du Narr! Es verbrennt; O du ver-r-r-dammter Kerl!«
Ganja stieß Ferdyschtschenko heftig von sich, drehte sich um und ging auf die Tür zu; aber er hatte kaum zwei Schritte gemacht, als er schwankte und zu Boden stürzte.
»Er ist ohnmächtig!« riefen die Umstehenden.
»Mütterchen, es verbrennt!« heulte Lebedjew.
»Es verbrennt ohne allen Sinn und Zweck!« wurde von allen Seiten gebrüllt.
»Katja, Pascha, bringt ihm Wasser und Spiritus!« befahl Nastasja Filippowna, ergriff die Feuerzange und holte das Päckchen heraus.
Fast das ganze äußere Papier war angebrannt und glimmte; aber man konnte sofort sehen, daß der Inhalt heilgeblieben war. Das Päckchen war in dreifaches Zeitungspapier eingeschlagen, und das Geld war unversehrt. Alle atmeten freier.
»Kaum ein Tausender ist ein bißchen beschädigt; aber alle übrigen sind ganz«, sagte Lebedjew förmlich gerührt.
»Das ganze Geld gehört ihm! Das ganze Päckchen ist sein! Hören Sie, meine Herrschaften!« rief Nastasja Filippowna und legte das Päckchen neben Ganja hin. »Er hat sich doch beherrscht und ist nicht hingegangen! Also ist bei ihm das Ehrgefühl doch noch stärker als die Geldgier. Die Ohnmacht ist nicht gefährlich; er wird schon wieder zu sich kommen! Wenn ich es ihm nicht schenkte, würde er mich womöglich ermorden ... Da! er kommt schon wieder zur Besinnung. General, Iwan Petrowitsch, Darja Alexejewna, Katja, Pascha, Rogoschin, habt ihr es gehört? Das Päckchen gehört Ganja. Ich überlasse es ihm zu vollem Eigentum, als Entschädigung ... oder wie man es sonst nennen will! Sagt ihm das! Mag es da neben ihm liegenbleiben ... Vorwärts, Rogoschin! Leb wohl, Fürst; ich habe zum erstenmal einen Menschen gefunden! Leben Sie wohl, Afanasi Iwanowitsch, merci!«
Rogoschins ganze Rotte eilte lärmend, polternd und schreiend hinter ihm und Nastasja Filippowna her durch die Zimmer dem Ausgang zu. Im Wohnzimmer reichten ihr die Mädchen den Pelz; die Köchin Marfa kam aus der Küche herbeigelaufen. Nastasja Filippowna küßte sie alle.
»Aber wollen Sie uns denn wirklich ganz verlassen, Mütterchen? Und wohin gehen Sie denn? Und noch dazu am Geburtstag, an einem solchen Tag!« fragten die weinenden Mädchen, indem sie ihr die Hände küßten.
»Ich gehe auf die Straße, Katja; du hast es ja gehört; da ist mein Platz; oder aber ich werde Wäscherin! Mit Afanasi Iwanowitsch bin ich fertig! Grüßt ihn von mir, und gedenket meiner nicht im Bösen ...«
Der Fürst eilte, so schnell er nur konnte, nach dem Portal zu, wo alle dabei waren, sich in vier mit Glöckchen behängte Troiken zu verteilen. Der General, der ihm nachlief, holte ihn noch auf der Treppe ein.
»Ich bitte dich, Fürst, komm zur Besinnung!« sagte er und ergriff ihn bei der Hand. »Laß doch das Weib laufen! Du siehst ja, was sie für eine ist! Ich rede zu dir wie ein väterlicher Freund ...«
Der Fürst sah ihn an, riß sich aber, ohne ein Wort zu sagen, los und lief nach unten.
Am Portal, von dem die Troiken gerade abgefahren waren, sah der General noch, wie der Fürst die erste beste Droschke nahm und dem Kutscher zurief: »Nach Jekateringof, hinter den Troiken her!« Dann kam der mit einem grauen Traber bespannte Wagen des Generals vorgefahren und brachte den General nach Hause, mit neuen Hoffnungen und Plänen und mit dem Perlenschmuck, den der General doch nicht vergessen hatte mitzunehmen. Mitten unter diesen Spekulationen tauchte Nastasja Filippownas verführerisches Bild ein paarmal vor seinem geistigen Auge auf, und er seufzte:
»Schade, wirklich schade! Ein verlorenes Weib! Ein verrücktes Weib! Nun, der Fürst kann jetzt eine Nastasja Filippowna nicht brauchen ... Vielleicht ist es also sogar gut, daß die Sache eine solche Wendung genommen hat.«
In ähnlicher Weise widmeten noch zwei andere Gäste Nastasja Filippownas, die sich dafür entschieden hatten, eine Strecke zu Fuß zu gehen, ihr ein paar moralische Worte als Nachruf.
»Wissen Sie, Afanasi Iwanowitsch, bei den Japanern soll es etwas Ähnliches geben«, sagte Iwan Petrowitsch Ptizyn. »Da geht, wie es heißt, der Beleidigte zu dem Beleidiger hin und sagt zu ihm: ›Du hast mich beleidigt; deshalb bin ich hergekommen, um mir vor deinen Augen den Bauch aufzuschlitzen‹, und mit diesen Worten schlitzt er sich wirklich vor den Augen des Beleidigers den Bauch auf und fühlt dabei wahrscheinlich eine außerordentliche Befriedigung, als habe er sich tatsächlich gerächt. Es gibt sonderbare Charaktere auf der Welt, Afanasi Iwanowitsch!«
»Und Sie meinen, daß auch hier etwas Derartiges vorliegt?« erwiderte Afanasi Iwanowitsch lächelnd. »Hm! Sie sind sehr geistreich und haben einen sehr schönen Vergleich beigebracht. Sie haben aber doch selbst gesehen, liebster Iwan Petrowitsch, daß ich alles getan habe, was in meinen Kräften stand; über die Grenze des Möglichen hinaus kann ich doch nichts tun, das müssen Sie selbst zugeben. Aber auf der andern Seite werden Sie auch das zugeben müssen, daß diese Frau großartige Eigenschaften, herrliche Charakterzüge besitzt. Ich wollte ihr vorhin schon zurufen, wenn das in diesem Wirrwarr möglich gewesen wäre, daß sie selbst meine beste Rechtfertigung gegen ihre Anschuldigungen sei. Nun, ist es nicht erklärlich, wenn sich jemand von diesem Weibe so fesseln läßt, daß er Vernunft und alles vergißt? Sehen Sie, dieser Plebejer, dieser Rogoschin, hat ihr hunderttausend Rubel gebracht! Alles, was sich da heute zugetragen hat, war allerdings unüberlegt, romantisch, unschicklich, aber dafür doch individuell und originell, das müssen Sie selbst zugeben. Oh Gott, wozu könnte sie es bei einem solchen Charakter und bei einer solchen Schönheit nicht bringen! Aber trotz aller Bemühungen von meiner Seite, ja trotz aller Bildung, die ihr zuteil geworden ist, ist nun doch alles zugrunde gegangen! Sie ist ein ungeschliffener Diamant, wie ich manchmal von ihr gesagt habe ...«
Und Afanasi Iwanowitsch stieß einen tiefen Seufzer aus.